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'Die Untergliederung Europas'
 
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Die Untergliederung Europas

Eine Gliederung Europas in „Teilräume“, „Großräume“ oder „Großregionen“ (stets unbekümmert synonym gebraucht) hat sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert peu à peu eingebürgert und wird im Unterricht noch immer praktiziert. Auch in der DDR war dies der Fall, wobei zuletzt die Unterscheidung zwischen den „sozialistischen“ und den „kapitalistischen Ländern“ im Vordergrund stand und nur letztere unterteilt wurden (G6: 3ff.). Kurz vor dem Kollaps der DDR wurden solche Zusammenfassungen jedoch zugunsten einer Einzelbehandlung der Staaten aufgegeben, weil sie ungeeignet seien, ein realitätstüchtiges „geographisches Bild von Europa zu entwickeln“ (Schlimme 1998: 650).

Für die BRD stellte eine Arbeitsgruppe des Europarates die Weichen. Sie bescheinigte Mitteleuropa trotz erkannter Unklarheiten bezüglich der Bestimmung seines „Wesen“ die Qualität einer „echten [!] geographischen Einheit“ (Mitteleuropa 1964: 26). Darum herum gruppierte sie Südeuropa, Westeuropa, Nordeuropa und Osteuropa, wobei sie für Rumänien die Verortung mit den Alternativen Ost-, Süd- oder Mitteleuropa offen ließ. Grönland [1] ordnete sie „unter geographischen Gesichtspunkten“ Nordamerika zu, bei Spitzbergen blieb die Zuordnung zu Nordeuropa unsicher. Eine eigene Region „Südosteuropa“ wurde „vorwiegend aus ‘pädagogischen Gründen’“ abgelehnt, „ohne die Wichtigkeit der für diesen Vorschlag beigebrachten Argumente bestreiten zu wollen“ (Sattler 1971: 15). Es hat sich jedoch als sechster Teilraum durchgesetzt. Als siebenter, jedoch nicht verselbständigter Teilraum, zeichnet sich „Ostmitteleuropa“ (das „östliche Mitteleuropa“) ab, ohne dass es die logisch zu erwartende Begriffsbildung „Westmitteleuropa“ gäbe. Dieses „Ostmitteleuropa“ wird gelegentlich als „Östliches Mitteleuropa und Osteuropa“ geführt (HuW/B7 1999: 81), öfter jedoch mit „Südosteuropa“ zu einem Kapitel zusammengefasst (z.B. T 1991: 120; T/B7 1995: 84), zu dem das logisch konsequente Pendant „Südwesteuropa“ fehlt, so wie es in der Geographie auch kein „Nordwest-“ und „Nordosteuropa“ gibt.

Europa-Karte mit Autokennzeichen Und Gruppenfarben zur Darstellung der Länder – in vielen Geographiebüchern eine beliebte Darstellungsweise, um die Länder Europas zu identifizieren (9 [2] ) (10 [3] )







(Quelle: HuW/B2 1991 : 16)

Veranschaulicht wird die Gliederung Europas in den untersuchten Erdkunde-Schulbüchern meist über eine Staatenkarte (Ausnahme T/B7 1994). Die Staaten sind durch Autokennzeichnen identifizierbar und erhalten eine Gruppenfarbe (Ausnahme G2 1993), wodurch die „Großräume“ klar zu unterscheiden sind. Meist kommt ein informierender Text hinzu. Ein Buch legt die Gliederung Europas einem Sportreporter in den Mund: „‘Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Sportfreunde! Ich melde mich hier aus Garmisch-Partenkirchen. Bei strahlend blauem Himmel herrschen optimale Bedingungen für das Neujahrsspringen der Vierschanzentournee. In diesem Moment stellen Schüler die teilnehmenden Nationen vor. Die Sportler kommen wie in jedem Jahr aus allen Teilen Europas. Springer aus Nord-, Süd-, West-, Ost-, Südost- und Mitteleuropa, aber auch aus den Vereinigten Staaten von Amerika, aus Kanada und Japan sind am Start’“ (HuW/2 1991: 16). Das soll Lebensnähe suggerieren, wirkt aber völlig unglaubwürdig.

Als Kriterien für diese Gliederung werden „das Ineinandergreifen von Land und Meer“ (G2 1993: 6), die „Lage auf dem Kontinent“ (G/B7 1998: 8; G/BR6 2002: 10), „Lage und Klima“ (T 1991: 5), ferner neben dem Klima auch „natürliche Grenzen“, „Gebirge und Meere“ (HuW/B2 1991: 22) oder einfach nur die „Himmelsrichtungen“ (HuW/B7 1999: S. 10) genannt. Ein Schulbuch führt gar ein ganzes Bündel von Kriterien an: „geographische, wirtschaftliche, kulturelle, historische und politische Gegebenheiten“ (MuR/GE/B7 1997: 8). Wie diese zusammenhängen und bei der Abgrenzung gewichtet worden sind, bleibt im Dunkeln. Offenkundig gehen die meisten Bücher von der Vorstellung aus, dass Europas „Großräume“ wirklich da sind und somit die Gliederung des Kontinents objektiv gerechtfertigt ist. Zusätzlich unterstrichen wird dies, wenn die Räume als Ganze landschaftlich-topographisch beschrieben werden, z.B.: „Mitteleuropa besteht aus einem breiten nördlichen Tieflandsbereich. Nach Süden steigt die Oberfläche zum Mittel- und Hochgebirge an. In Südeuropa gliedert sich der Kontinent in drei große Halbinseln. Sie sind durch hohe Gebirgsketten vom übrigen Europa getrennt“ (G2 1993: 8).

„Großräume“ sind ein beliebtes Thema im Geographieunterricht. Problematisch ist oft die Zuordnung. Frankreich ist z. B. Anrainer des Atlantiks und des Mittelmeeres. Zählt es also zu Westeuropa oder zu Südeuropa?






(Quelle: G-BR6-2002, S. 11)

Welche Probleme man sich mit der Bildung der „Großräume“ einhandelt, wird an folgenden Beispielen deutlich. Frankreich ist sowohl Atlantik- wie Mittelmeeranrainer. Da doppelte Zu-gehörigkeiten ausgeschlossen sind, muss eine Entscheidung gefällt werden. Eine Begründung für Frankreichs Platzierung in Westeuropa lautet: „Zwar hat der Mittelmeerraum für das Land eine wachsende Bedeutung, aber der überwiegende Teil des Territoriums ist atlantisch orien-tiert“ (G/B7 1998: 67). Auch Spanien hat eine atlantische und eine (größere) mittelmeerische Seite, nur wird in seinem Fall kein Problem darin gesehen, obwohl es für lange Zeit nur atlan-tisch orientiert war. Müsste man es nicht – analog zur Argumentation bei Frankreich – zumin-dest für diesen historischen Zeitraum Westeuropa zuschlagen? Und war nicht Frankreich als Kolonialmacht der Maghrebstaaten – Algerien war ihm staatsrechtlich sogar eingegliedert – früher eher mittelmeerisch orientiert und somit gemäß obiger Logik ein Teil Südeuropas, zu dem es wieder werden könnte, wenn seine mittelmeerischen Regionen weiter an Bedeutung gewönnen? Und erst Portugal, das gar keinen Zugang zum Mittelmeer hat! Wie lässt sich sei-ne Zurechnung zu den „südeuropäischen Mittelmeerländern“ (T 1991: 91) rechtfertigen? An-dere Staaten Südeuropas, die Kleinstaaten Andorra [4] , San Marino [5] und der universal operierende Vatikanstaat [6] , liegen sogar an überhaupt keinem Meer.

Frankreich und seine überseeischen Besitzungen – alles ein Teil Europas?







(Quelle: www.aura.sfc.keio.ac.jp/ci/001/douter-mer01.html)

Befreien von solchen Problemen würde allein das formale Kriterium der „Himmelsrichtung“, wofür nur ein Mittelpunkt gesucht werden muss. „Mitteleuropa“ würde dann allerdings wegfallen, da es keine Himmelsrichtung ist. Unterschiedliche Abgrenzungen wären dennoch nicht ausgeschlossen, solange kein Konsens über die „Mitte“ Europas besteht, für die von Oberfranken bis Litauen Ansprüche erhoben werden. Müller/Stähle verweisen immerhin darauf, dass die Einteilung Europas in „Großräume“ (...) nicht immer auf die gleiche Weise vorgenommen“ werde, da sie „nicht festgeschrieben“ sei „wie etwa Ländergrenzen“, und machen dies am Bespiel Ungarns deutlich, „das manchmal zu Mitteleuropa und manchmal zu Südosteuropa gezählt“ (2002: 6) werde. Sie können damit ‘leben’, weil sie im Gegensatz zu den ‘Realisten’ unter den Großraumkonstrukteuren die Einteilung lediglich pragmatisch rechtfertigen; sie erleichtere die Orientierung.

Was sollen die Schüler/innen mit den „Großräumen“ anfangen? Häufig wird die Eintragung der nach ihnen gruppierten Staaten in eine Tabelle verlangt. Ein Buch lässt sie zusätzlich auf verschiedenfarbigem Kartonpapier aufzeichnen und ausschneiden und zu einer Wandkarte zusammenstellen (HuW/B7 1999: 13), ein anderes die „Anteile der Teilräume an der Fläche und der Bevölkerung Europas“ ermitteln, um beide Datenreihen miteinander zu vergleichen (MuR/B7 1991: 7; MuR/GE/B7 1997: 8). Die Verdinglichung der europäischen „Großräume“ ist damit auch quantitativ vollendet. Auffällig bei der Aufgabenstellung ist, dass es zwischen „Staaten“ und „Ländern“ hin und her geht: „Vergleiche die Länder [!] Westeuropas nach Größe, Einwohnerzahl (...). Zähle die Staaten [!] Westeuropas auf“ (G2 1993: 63; HuW/B7 1999: 10). Auch andere Schulbücher verfahren so. Die alte Länderkunde unterschied dagegen streng zwischen „Ländern“ als „geographischen“ Einheiten und „Staaten“ als politischen. Allerdings unterstellte sie, dass die geographischen Einheiten im Verlaufe der Geschichte auch zu politischen werden müssten, weil nur so letztere von Dauer sein könnten.

Trotz der Behandlung der „Großräume“ wie Dinge an sich sind sie nicht stabil, und der quantitative Vergleich aus früheren Auflagen stimmt nicht mehr. Im vorliegenden Fall (MuR/B7 1997: 8) wird Nordeuropa etwas größer und Osteuropa etwas kleiner. Zurück geht dies auf den Zusammenbruch der Sowjetunion. Estland, Lettland und Litauen werden in den für Berlin gedachten Büchern nach „Nordeuropa“ (MuR/GE/B7 1997; HuW/B7 1999) verschoben. Mit dieser Umgruppierung folgte man dem „Vorläufigen Rahmenplan“ Berlins von 1995, der die neue Kategorie „Nordeuropa und Ostseeanrainer“ kreierte, wobei mit Ostseeanrainern nur die baltischen Staaten gemeint sind. Ostseeanrainer sind freilich auch Dänemark, Schweden, Finnland und die traditionell nicht zu Nordeuropa zählenden Staaten Russland, Polen und Deutschland. Daher fordert ein Buch die Schüler/innen korrekterweise auf: „Stelle zusammen: die neun Ostseestaaten“ (T/B7 1995: 120). Ein anderes Buch begründet die Umbettung des Baltikums von Ost- nach Nord-Europa mit dem Selbstverständnis seiner „Völker“ (HuW/B7 1999). Zwar sei die Frage „Gehört das Baltikum zu Osteuropa?“ „nicht einfach mit ja oder nein zu beantworten“; denn einerseits gehöre es zur „großen, bis an den Ural reichenden osteuropäischen Landmasse und damit zu Osteuropa“, doch fühlten sich die Völker selbst „zu den Nordeuropäern" hingezogen, da „die kulturellen Bindungen und Gemeinsamkeiten mit Nordeuropa“ (96) überwögen. Auch für Island wird das Zugehörigkeitsgefühl bemüht (23), obwohl das Buch die europäischen „Großräume“ nur über das Kriterium der „Himmelsrichtungen“ (10) einführt. Wie fragwürdig und oft willkürlich all diese Zuordnungen und Begründungen sind, zeigt das Beispiel Sloweniens. Aufgrund seiner Geschichte und dem „Zugehörigkeitsgefühl“ seiner Bevölkerung zählt es für Paesler „eindeutig“ (1993: 202) zu Mitteleuropa. Nicht so in den Erdkunde-Schulbüchern, die es an „Südosteuropa“ verweisen! Darf aber ein Kriterium, das im Falle der baltischen Staaten den Ausschlag gibt, bei Slowenien ignoriert werden? Als ein weiterer Wanderer zwischen den „Großräumen“ zeichnet sich Moldawien ab, das als Sowjetrepublik stets Osteuropa zugehörte, nun aber nach Südosteuropa abzudriften beginnt (G/B7 1998).

Absurde Zuordnungen zu europäischen Großräumen sind nicht eben selten in den Geographiebüchern. Das Beispiel ordnet die Insel Korsika Südeuropa zu, Frankreich dagegen ist Teil Westeuropas.






(Quelle: HuW/2 1994: 11)

Besonders absurd mutet mit der Verschiebung der baltischen Staaten nach Nordeuropa das Verbleiben Kaliningrads als Exklave bei Osteuropa (9 [7] ) an. Nur wenn die baltischen Staaten wei-terhin Osteuropa zugeordnet werden (G/BB6: 2002: 25), lässt sich dies vermeiden. Eine Kuri-osität ist ferner das mittelmeerische Korsika, das als ein Teil Frankreichs i.d.R. dem atlantisch orientierten Westeuropa zugewiesen wird. Manchmal tritt es aber auch entgegen der sonst üblichen Praxis, Staaten nicht zu zerreißen, in der Farbe Südeuropas auf (T 1991: 4; HuW/2 1994: 11).