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'Säkularisierungstendenzen und ihre Folgen'
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Säkularisierungstendenzen und ihre Folgen
Eine frappierende Ähnlichkeit weisen Frankreich und Deutschland auch hinsichtlich eines fundamentalen und empirisch am besten nachgewiesenen Wertewandlungstrends auf, nämlich der Säkularisierung beider Gesellschaften. Dieselben grundlegenden Entwicklungen sind zu beobachten: Rückgang christlicher Glaubensvorstellungen, Zunahme säkularer Weltbilder und Ausbreitung diffuser, patchworkartiger und wenig verpflichtender Glaubensvorstellungen. Dieser religiös-weltanschauliche Wandel geht einher mit einer deutlich gewachsenen Distanz zu kirchlichen Institutionen und auch interner Opposition, wie sie etwa im Kirchenvolksbegehren der deutschen Katholiken 1996 zum Ausdruck kam. Die Großkirchen in beiden Ländern drohen ihres Volkskirchencharakters verlustig zu gehen.
Am weitesten ist dieser Entchristianisierungsprozess in Ostdeutschland fortgeschritten. Als religiöse Menschen bezeichneten sich 1990 gerade noch 32 Prozent der Ostdeutschen im Vergleich zu 48 Prozent der Franzosen und 54 Prozent der Westdeutschen. Während in Frankreich wie in Westdeutschland der stärkste Säkularisierungsschub Mitte der sechziger Jahre einsetzte, vollzog sich der Wandel in Ostdeutschland schon früher, und zwar in Form einer durch staatliche Offensiven gegen die evangelische Kirche schon in den fünfziger Jahren erzwungenen Säkularisierung. Die Entchristianisierung Ostdeutschlands geht allerdings auch ohne staatliche Einwirkung weiter, wie der von 32 Prozent im Jahre 1990 auf 24 Prozent im Jahre 1995 gesunkene Anteil von Ostdeutschen zeigt, die sich als religiöse Menschen betrachten.
Immer wieder wird der (anhaltende) Rückgang religiöser Überzeugungen mit einem generellen "Verfall der Moral", einer ethischen Desorientierung sowie einer Ausbreitung egoistischer und hedonistischer Mentalitäten auf Kosten des Gemeinsinns und von Solidaritätswerten in Verbindung gebracht. Tatsächlich weist das Ausmaß der Religiosität in Frankreich wie in Deutschland einen deutlichen Zusammenhang mit der Rigidität von Moralvorstellungen auf. Dies kann kaum verwundern, sind (oder waren) viele Institutionen und moralische Normen doch religiös sanktioniert - man denke etwa an die Institution der Ehe und das Verbot ihrer Scheidung, an das Abtreibungsverbot, die Ablehnung abweichender Lebensformen (z.B. homosexueller Paarbeziehungen) und die strenge Sexualmoral. Entsprechend ist in beiden Ländern die abnehmende gesellschaftliche Prägekraft der christlichen Religion mit einer Zunahme moralischer Permissivität und der Ausbreitung eines kulturellen Liberalismus einhergegangen, der durch Toleranz gegenüber der wachsenden Pluralität von Lebensformen und -stilen gekennzeichnet ist.
Konfessionszugehörigkeit und Konfessionslosigkeit in Deutschland 1994
Alte Bundesländer | Neue Bundesländer | |
Evangelisch + katholisch | 43% | 30% |
Konfessionslos | 10% | 70% |
Übrige Religionen | 74% | |
Internetquelle [2]
Selbst religiöse Franzosen und Deutsche glauben mittlerweile mehrheitlich nicht mehr, dass es völlig klare und allgemeingültige Maßstäbe dafür gebe, was gut und böse ist. Eine Art "Situationsethik" ist zum Gemeingut geworden. Der Vergleich zwischen Ostdeutschland einerseits und Frankreich sowie Westdeutschland andererseits zeigt jedoch, dass Säkularisierungstendenzen durchaus mit der Aufrechterhaltung recht rigider moralischer Grundsätze vereinbar sind. Denn in Ostdeutschland trifft egoistisches und gemeinwohlschädigendes Verhalten wie etwa Steuerhinterziehung, Schwarzfahren u.ä. trotz weitergehender Entchristianisierung auf viel entschiedenere Ablehnung als in Westdeutschland. Noch stärker fällt der Kontrast zu Frankreich aus. Säkularisierung kann somit nicht unbedingt gleichgesetzt werden mit einer Zunahme eines egoistischen Individualismus, der rücksichtslos seine Ziele verfolgt. Allerdings ist auch letzterer in beiden Ländern auf dem Vormarsch, vor allem in den jüngsten Altersgruppen.