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These 5
"Entscheidend für die Zuspitzung der politischen Krise sind die nicht-beabsichtigten Folgen der konkurrierenden Handlungsstrategien von Premierminister Pompidou und Staatspräsident de Gaulle. Die auf Pazifizierung, Entpolitisierung und Institutionalisierung der sozialen Konflikte gerichtete Strategie Pompidous und die auf Mobilisierung, Politisierung und plebiszitäre Herrschaftssicherung gerichtete Strategie de Gaulles behindern sich."
Die Möglichkeiten der staatlichen Kontrollinstanz, auf soziale Bewegungen zu reagieren, lassen sich, klassifikatorisch vereinfacht, in zwei Handlungsalternativen skizzieren: Tolerierung oder Repression. Die Strategie der Tolerierung impliziert Anerkennung der Anliegen der Bewegung und Entgegenkommen, bezogen zumeist auf die gemäßigteren Teile der sozialen Bewegung, Dialog- und Verhandlungsbereitschaft. Die Strategie der Repression beruht auf Abwehr der sozialen Bewegung und ihrer Anliegen, denen in der Regel entweder Realismus oder Legitimität abgesprochen wird, Verteidigung des Status quo, Unterdrückung der Bewegung durch Verbote (von Aktionen bzw. Organisationen) oder den Einsatz staatlicher Gewaltmittel. Beide Strategien können sich in der Realität verbinden oder einander abwechseln, so dass Mischformen entstehen. Das Handeln der staatlichen Instanzen (Regierung und Staatspräsident) in Frankreich im Mai 68 ist ein Beispiel hierfür. Es zeigt, wie der Wechsel sowie das Nebeneinander konkurrierender Handlungsstrategien Spannungen erzeugen, welche die Dynamik der Bewegung verstärken können.
Der interne Kampf um die Durchsetzung divergierender Handlungsstrategien wird im Mai 68 zudem, und das macht einen Teil der Dramatik des französischen Falles aus, überlagert durch einen von der konkreten Konfliktlage losgelösten Machtkampf der Inhaber der zwei wichtigsten politischen Schlüsselpositionen, Staatspräsident de Gaulle [1] und Premierminister Pompidou. Durch ihre offenen strategischen Differenzen sowie verdeckten persönlichen Rivalitäten wird das auf Kooperation angewiesene bikephale politische System Frankreichs nachhaltig gestört.
Abbildung 10:
Staatspräsident Pompidou
Les troubles de mai plongent la France dans la tourmente. L'Assemblée nationale est dissoute le 30 du mois. Georges Pompidou démissionne le 13 juillet suivant, son successeur sera Couve de Murville. Vers la fin de 1968, une tentative d'assassinat politique est orchestrée contre Georges Pompidou.
Internet-Quelle (http://www.georges-pompidou.org/)
Die Politik der Beschwichtigung und des Entgegenkommens, mit der Georges Pompidou unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Kabul auf die Ereignisse der Nacht der Barrikaden reagierte, hatte de Gaulles Position" Der Staat gibt nicht nach" nicht nur aufgehoben, sondern, wie Raymond Aron [2] konstatierte, "lächerlich gemacht" (15). Der Machtkampf Pompidou - de Gaulle spitzt sich vor dem Hintergrund der Streikbewegung zu. Während Premierminister Pompidou alles auf die Karte der Tarifverhandlungen gesetzt hat, dramatisiert Staatspräsident de Gaulle die Machtfrage, indem er ein auf eine Vertrauenskundgebung für seine Person zielendes Referendum ankündigt. Das ganze politische System gerät in Bewegung.
Die mit der Ankündigung des Referendums notwendigerweise verbundene Politisierung der Konfliktkonstellation erschwert eine ökonomisch-soziale Lösung der Krise in den Bahnen tarifvertraglicher Konfliktregulierungsmechanismen. Sie transferiert den Protest in die politische Arena und bietet den Kritikern des gaullistischen Regimes die Chance, ihr Postulat "Dix ans ça suffit" in eine politische Entscheidung zu überführen. Das Scheitern der Vereinbarungen von Grenelle sowie die Antizipation der Niederlage de Gaulles im Referendum gibt Plänen der Oppositionsparteien im Parlament, eine "provisorische Regierung" zu formieren, eine Realisierungschance.
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Anmerkungen
(15) R. Aron, Erkenntnis und Verantwortung. Lebenserinnerungen, München, Zürich 1985, 335-336.