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These 4
"Die alte Linke setzt ihre Organisationsmacht ein und bricht die Handlungsstrategie und Zielorientierung der Neuen Linken. Die Austragung des Konfliktes wird in die institutionellen Bahnen des Tarifvertragssystems überführt."
Die kommunistisch orientierte Gewerkschaft CGT [1] geht nicht auf "autogestion" als Ziel eines gesamtgesellschaftlichen Wandlungsprozesses ein, sondern wertet die Konzeption, die primär auf Veränderung der Macht- und Entscheidungsstrukturen, nicht der Eigentumsverhältnisse orientiert ist, als "formule creuse" (13) ab. Sie bekämpft die Koalitionen von Studentenbewegung und Arbeiterbewegung, sie verhindert, wo immer möglich, einen direkten Kontakt zwischen Studenten und Arbeitern in den Betrieben und grenzt sich vehement von der Symbolfigur der Studentenbewegung, Daniel Cohn-Bendit [2] , ab. Sie setzt ihre ganze Organisationsmacht ein, um die soziale Bewegung, die bereits eine Paralyse des gesamten Wirtschaftslebens herbeigeführt hat und potenziell (7,5-9 Millionen Franzosen befinden sich im Streik) in eine revolutionäre Situation umschlagen kann, in die geregelten Bahnen des intermediären Interessenausgleichs zu überführen. Als treibende Kraft einer schnellen tarifvertraglichen Schlichtung, die in die Vereinbarungen von Grenelle (27. Mai) mit Vertretern von Regierung und Unternehmern mündet, entdramatisiert sie die soziale Krise, indem sie sich traditioneller Konfliktlösungsmuster bedient. Durchzusetzen vermag sie indes ihre Strategie und Zielorientierung an der Basis der Streikbewegung zunächst nicht.
Die Vollversammlungen in den Betrieben begehren gegen die Tarifvereinbarungen auf. Die Arbeit wird nicht wieder aufgenommen. Doch die Streikbewegung bleibt auch nach Grenelle unter Führung der Gewerkschaften, wenngleich die Ergebnisse der Tarifverhandlungen abgelehnt worden sind. Sie leiten auf Betriebs- und Branchenebene neue Verhandlungen über die Neugestaltung der Arbeitsbeziehungen und Lohnskalen ein und setzen weiterhin alles daran, die spontanen Proteste auf eine institutionelle Ebene zu transferieren. Die Streikbewegung wird zum Arbeitskonflikt, dessen heterogenen Forderungen, auf verschiedene Kommissionen und Gremien zur Beratung verteilt, wirtschaftlich berechenbaren Kompromißlösungen zugeführt werden. Weder die Unternehmensverfassung noch die Wirtschaftsordnung stehen mehr zur Disposition. Indes ist der einsetzende Dialog zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften die Folge des Drucks der Streikbewegung, welche die Bereitschaft zu Tarifverhandlungen seitens der Arbeitgeber und deren Kompromißfähigkeit überhaupt erst erzwangen. In den Vereinbarungen von Grenelle erklärten sich die französischen Unternehmer erstmals zur Anerkennung der Gewerkschaften in den Betrieben bereit. Sie garantieren die freie gewerkschaftliche Betätigung der Gewerkschaftssektionen in den Betrieben, das Versammlungsrecht für Gewerkschaftsmitglieder, das Recht zum Anschlagen gewerkschaftlicher Mitteilungen im Betrieb, die Verbreitung gewerkschaftlicher Zeitungen (14). So mündet die spontane Streikbewegung in eine Stärkung der Stellung der Gewerkschaften im Betrieb.
Verglichen mit der Bundesrepublik erreichen die Arbeiter damit noch kein der Institutionalisierung der industriellen Beziehungen vergleichbares Niveau. Mitbestimmung i. S. der deutschen Gewerkschaftstradition wurde von den französischen Gewerkschaften jedoch auch gar nicht gefordert, da Mitbestimmung aus ihrer Sicht eine Begrenzung ihres Handlungsspielraumes implizierte; auch eine Verrechtlichung der Arbeitsbeziehungen mit dem Ziel einer für eine festgeschriebene Vertragsdauer beidseitig bindenden Pflicht zur Einhaltung der Vereinbarungen lehnten sie ab. Die Parole "autogestion" brachte eine Stimmung zum Ausdruck, wurde von einer Minderheit inhaltlich ausgedeutet, fand jedoch ebenfalls keine institutionalisierbare Form.
Der Aufbau einer Selbstverwaltung in den Betrieben wird nur in wenigen Fällen probiert, die Mehrzahl der Streikenden sucht die Lösung der sozialen Krise auf der politischen Ebene, macht nicht in der "pouvoir patronat", sondern im Gaullismus den Gegner fest. Sie forderte einen politischen Machtwechsel als Voraussetzung sozialer Strukturreformen. Damit verschieben sich die Zielorientierung der Bewegung und die Mittel zur Lösung des Konflikts. Die Gewerkschaften haben Lösungen angebahnt, durchzusetzen vermögen sie diese zunächst nicht. Nach dem Scheitern der Vereinbarungen von Grenelle treten sie als Akteure hinter die politischen Parteien zurück. Die soziale Bewegung tritt in eine neue Arena ein, in der sie aufgrund ihres spontanen und antiparteilichen Charakters strukturell nicht verankert ist und auf die ihre zentralen Trägergruppen konzeptionell nicht vorbereitet sind.
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Anmerkungen
(13) "inhaltlose Formel"
(14) Vgl. dazu auch P. Jansen, L. Kißler, P. Kühne, C. Leggewie, O. Seul, Gewerkschaften in Frankreich. Geschichte Organisation, Programmatik, Frankfurt l968, 36.