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These 3

"Der Mobilisierungsprozeß der Arbeiterbewegung folgt der Aktionsstrategie der Studentenbewegung. Die parallelen Bewegungen werden durch einen gemeinsamen Wertbezug geeint. Die kognitive Orientierung der Neuen Linken wirkt als integrative Klammer für sozial heterogene Bewegungen."

Am Anfang steht wiederum die exemplarische Aktion einer kleinen aktiven Minderheit. Junge Arbeiter einer Flugzeugfabrik in der Nähe von Nantes nehmen nach Ablauf des auf 24 Stunden befristeten, gewerkschaftlich organisierten Generalstreiks am 14. Mai die Arbeit nicht mehr auf, sondern besetzen die Werkhallen, riegeln das Betriebsgelände ab und setzen den Betriebsleiter fest. Sie folgen mit ihrer Aktion den Pariser Studenten, welche die Sorbonne unmittelbar nach deren Wiedereröffnung einen Tag zuvor besetzt haben, aber auch der Agitation der Gewerkschaft Force Ouvrière, die in der Region Loire Atlantique eine anarchosyndikalistische Orientierung hat. Seit langem haben deren Vertreter die direkt-koerzive Aktion als Mittel zur Durchsetzung der Arbeiterforderungen propagiert. Vergeblich. Erst in der politisch-sozialen Konstellation, die zwischen dem 11. und 13. Mai entstanden ist, setzen sie sich mit ihrer Aktionsstrategie durch. Das Beispiel einer Fabrikbesetzung in der Provinz, von den Akteuren der Hauptstadt zunächst kaum registriert, löst in den nächsten Tagen eine Kettenreaktion aus. Der spontane Streik der Arbeiter springt über auf die Renault-Werke und von dort auf andere Betriebe. Ohne Appell der Gewerkschaftszentralen befinden sich binnen weniger Tage 7,5 bis 9 Millionen Arbeiter im Streik (6). Was treibt sie an?

Es besteht am Vorabend der Mai-Ereignisse keine ökonomische Krisensituation in Frankreich, so dass der spontane Mobilisierungsprozeß ökonomisch-strukturell nicht erklärt werden kann. Zwar gibt es Verteilungskonflikte - insbesondere im Bereich der unteren Lohnskala - und wachsende Arbeitslosigkeit, aber die französische Wirtschaft wird von der Rezession des Jahres 1966 weit weniger erfaßt als die der Bundesrepublik und unterliegt daher geringeren ökonomischen Brüchen und Schwankungen. Frankreich gilt, aus der Sicht der Experten von OECD und INSEE, 1968 als krisenfestes und stabiles Land (7). 

Latente Unzufriedenheit, die nicht allein auf sozial-ökonomische Ursachen zurückgeführt werden kann, sondern aus den betrieblichen Autoritätsstrukturen resultiert, schlägt im Mai 68 in kollektive Handlungsbereitschaft und eine manifeste Protesthaltung um, die gewerkschaftlicher Führung entgleitet. Der Erfolg der Studenten bei der Durchsetzung ihrer Forderungen gegen die Regierung wirkt als Beispiel. Der Erwartungshorizont für das Mögliche steigt auch bei anderen Gruppen. Neue Handlungsformen [1]  erweitern die Handlungsbereitschaft. "Wenn die Regierung den Studenten nachgibt", so die Aussage eines Arbeiters, die als typisch gelten kann, um die Stimmung der Arbeiterschaft zu skizzieren, "warum dann nicht auch uns" (8). Es tritt ein Zustand ein, in dem alles möglich wird oder doch zumindest erscheint.

Es sind die Arbeiter der verstaatlichten Industrieunternehmen, welche die Streikbewegung auslösen, unter ihnen stellen die jungen Arbeiter den Mobilisierungskern, der die Belegschaft nachzieht. Es ist der "État patron", den sie mit ihrer direkten Aktion zum Nachgeben zwingen wollen. Die direkte Aktion entfaltet dynamische Mobilisierungskraft. Sie kann sich auf eine Tradition innerhalb der Arbeiterbewegung stützen, und sie bündelt kollektive Handlungsbereitschaft, ohne diese auf ein konkretes Ziel hin zu orientieren. So kann die Okkupation der Betriebe ein Druckmittel sein, um den Staat und die Unternehmer zu Verhandlungsbereitschaft und Konzessionen zu zwingen. Sie kann die Selbständigkeit der betrieblichen Basis gegenüber den Apparaten der Gewerkschaftsorganisationen der alten Linken zum Ausdruck bringen. Betriebsbesetzungen können aber auch der Auftakt zur umfassenden Transformation der Betriebs-, Unternehmens- und Wirtschaftsstruktur gemäß der anarchistisch-syndikalistischen Strategie oder der Konzeption der Neuen Linken sein. Es kommt auf die Intentionen der Akteure an. Die Streikbewegung der Arbeiterschaft entwickelt, wie die Studentenbewegung auch, ihre Ziele aus der Handlungsdynamik des sozialen Interaktionsprozesses heraus.

Abbildung 7:

"La chienlit, c'est lui"

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Internet-Quelle [2]

Die ersten Forderungen der Streikkomitees weisen keine wesentlichen Abweichungen von den gewerkschaftlichen Forderungen des Vormai aus. Doch die Bewegung ist mehr als ihre gedruckten Worte. In den Vollversammlungen der besetzten Betriebe drückt sich eine kreative Unruhe ("effervescence créatrice") aus, nicht nur Lohn- und Arbeitszeitverbesserungen, sondern Strukturreformen in den Betrieben und Unternehmen herbeizuführen. Die nichtkommunistische Gewerkschaft CFDT, in der Orientierungen, welche der Neuen Linken nahestehen, am stärksten verbreitet sind, bringt die Erwartungen auf den Begriff, indem sie, zwei Tage nach Ausbruch der spontanen Streiks, die Losung ausgibt, welche dem Streik eine neue Dimension verleiht: "autogestion" (9). Mit der Forderung nach "autogestion" strebt die CFDT [3]  eine Veränderung der Lenkungs- und Entscheidungsstrukturen in den Betrieben und Unternehmen an, den Abbau von Herrschaft und Hierarchien, die Freisetzung der Kreativität der Arbeiter durch Selbstbestimmung und Selbstverwaltung der Betriebe. Zwar bleibt unklar und offen, wie "autogestion" institutionell und rechtlich entwickelt und konkretisiert werden soll, aber die antihierarchische, antiautoritäre Komponente reicht aus, um Studentenbewegung und Arbeiterschaft in der Zielrichtung ihres Protestes zu einen. Der Demokratisierung der Universitäten soll eine Demokratisierung der Betriebe folgen: "A la monarchie industrielle et administrative, il faut substituer des structures démocratiques à base d'autogestion." (10) Es ist eine "communauté d'aspiration" (11), welche Arbeiter- und Studentenbewegung eint.  (12)

Anmerkung der Deuframat-Redaktion: Der Begriff "direkt-koerziv" entspringt der sozialen Bewegungsforschung und ist eine spezifische Form politischer Aktionsformen. Direkte Aktionen dienen sozialen Bewegungen dazu, jenseits parlamentarischer Entscheidungsfindungs- und Entscheidungsprozesse das "Votum des Volkes" unmittelbar zum Ausdruck zu bringen. Indirekte Entscheidungen werden also durch direkte Aktionen auf nicht-institutionalisiertem Weg zum Ausdruck gebracht. "Direkte Aktion" lässt sich weiter differenzieren: Appellative bzw. demonstrative Aktion enthält keine Elemente von Zwang, während die koerzive Aktion mit einer Androhung von Schaden gegenüber den Kontrollinstanzen einhergeht. Somit trägt die koerzive Aktion das größte Potential in sich, Machthaber zum Einlenken hinsichtlich der Forderungen sozialer Bewegungen zu bewegen. (Vgl. v.a. Joachim Raschke, Soziale Bewegungen. Ein historisch-systematischer Grundriß, 2. Aufl. Frankfurt/M. u. New York 1988, S. 277ff.)

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Anmerkungen

(6) Zur Streikbewegung vgl. P. Dubois u.a., Grèves revendicatives ou grèves politiques. Acteurs, pratique, sens du mouvement de mai, Paris 1971.

(7) OECD, Prospects in France after the Strikes, in: Oeconomic Outlook, 3 (1968), 52-69; INSEE (Institut National de la Statistique et des Études Économiques), "La situation et les perspectives dans l'industrie d'après les enquêtes effectuées par l' I.N.S.E.E. en juillet 1968", in: Études Conjoncture. Revue mensuelle de l'I.N.S.E.E., Supplément, No 8 (1968).

(8) P. Gavi, Des ouvriers parlent, in Les Temps Modernes, No 265 (1968), 82-83.

(9) Vgl. zur Konzeption der "autogestion" P. Rosanvallon, L'âge de l'autogestion, Paris 1976. G. Schwan, Demokratischer Sozialismus zwischen Wohlfahrtsstaat und Selbstverwaltung, in: H. Horn et al., Sozialismus in Theorie und Praxis. Festschrift für Richard Löwenthal, Berlin, New York 1978.

(10) "Die industrielle und administrative Monarchie muss durch demokratische Strukturen auf der Grundlage der 'autogestion' abgelöst werden." (Übersetzung d. Verf.)

(11) Eine durch gemeinsame Bestrebungen, Hoffnungen und Erwartungen konstituierte Gemeinschaft.

(12) A. Detraz, et les militants de la CFDT, "Positions et action de la CFDT en mai 1968", Syndicalisme, Numéro spécial 1969.