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These 1

"Die Mobilisierung der Studentenbewegung in Frankreich erfolgt spontan aus einem sich gleichsam selbsterzeugenden Handlungsprozeß heraus."

Zwar entsteht die französische Studentenbewegung vor dem Hintergrund einer allgemeinen Krise der Universität, welche die Studienbedingungen, Berufs- und Lebenschancen der Studenten unmittelbar beeinflußt, aber sie ist mehr als deren Ausdruck (4). Vergeblich hat die Studentengewerkschaft UNEF [1]  seit Mitte der sechziger Jahre die Strukturschwächen der Universität und der staatlichen Reformversuche kritisiert, ohne damit große Mobilisierungserfolge unter den betroffenen Studenten zu erzielen. Der von ihr mitgetragene Studentenstreik in Nanterre zu Beginn des Studienjahres 67/68 verebbt nach einigen Wochen. Erst die im Frühjahr 1968 einsetzenden unkonventionellen Aktionen kleiner studentischer Trägergruppen, die durch begrenzte Regelverletzungen, Provokationen und Tabubrüche den Universitätsbetrieb empfindlich "stören," lösen den Mobilisierungsprozeß aus, der zum französischen Mai führt.

Abbildung 3:

"A nous de parler"

 

 

 

 

Internet-Quelle [2]

Die den Prozess anstoßenden studentischen Trägergruppen, die "Enragés [3] " (5) und die "Bewegung des 22. März [4] ", sind Gruppen, die sich explizit auf die intellektuellen Vordenker einer Neuen Linken beziehen oder doch von deren Themen und Fragestellungen beeinflußt werden, insbesondere von den Schriften der "Situationistischen Internationale [5] ", der Gruppe um "Socialisme ou Barbarie [6] " und "Arguments". Nicht nur ihre Aktionsstrategie (direkt, provokativ, situativ), sondern auch ihr Selbstverständnis (antidogmatisch, antibürokratisch, antiorganisatorisch, antiautoritär) fügt sich in das Koordinatensystem der Neuen Linken ein. Die Universität, welche die "Enragés" generell abschaffen, die Akteure der "Bewegung des 22. März" in eine "Kritische Universität" umwandeln wollen, ist für beide Gruppen bloß Aktionsforum und Ausgangspunkt für einen umfassenden, in alle Bereiche der Gesellschaft zu übertragenden, sozial-kulturellen Wandlungsprozeß, als dessen Träger sie sich sehen. Ihr Mobilisierungserfolg bleibt zunächst jedoch auf den Campus der Fakultät Nanterre beschränkt. Er hätte dort verebben können, wie der Streik der UNEF und andere studentische Protestaktionen auch. Doch die Übertragung des studentischen Protestes an die Sorbonne, die für anhängige Disziplinarverfahren gegen acht Studenten aus Nanterre verfahrensmäßig zuständig war, und repressive Maßnahmen gegen den kleinen Kern studentischer Aktivisten dort (insbesondere ein massiver Polizeieinsatz im Innenhof der Sorbonne) lösen einen Solidarisierungsprozeß der bislang schweigenden und inaktiven Mehrheit der Studenten mit der aktiven studentischen Minderheit aus. In einem Wechselspiel von studentischer Aktion und staatlicher Repression im Zuge von gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizeikräften um die Sorbonne und in den Straßen des Quartier Latin steigert sich, einer Kettenreaktion gleich, in wenigen Tagen die Mobilisierung, wobei die Dynamik der Aktionen immer mehr Schüler und Jugendliche (darunter vereinzelt auch junge Arbeiter) auf die Seite der Studenten bringt. 

Abbildung 4:

Straßenschlachten im Quartier Latin 1968

 

 

 

 

 

Internet-Quelle [7]

Binnen einer Woche (vom 3. bis 10. Mai) hat Frankreich damit einen Prozeß "nachgeholt", den andere westeuropäische Länder, darunter die Bundesrepublik, bereits durchlaufen haben. Binnen weiterer 24 Stunden "überholt" die französische Studentenbewegung die Entwicklung in den anderen Ländern. Große Teile der organisierten Arbeiterklasse solidarisieren sich mit den Studenten. Warum kommt es in Frankreich zur Solidarisierung der Arbeiter- mit der Studentenschaft?

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Anmerkungen

(4) Zur Formation der Studentenbewegung, ihrer kognitiven Orientierung und Politisierung vgl. J.-P. Duteuil, Les groupes d'extrême-gauche à Nanterre, in: Dreyfus-Armand/Gervereau 1988; D. Cohn-Bendit, G. Cohn-Bendit, Linksradikalismus. Gewaltkur gegen die Alterskrankheit des Kommunismus, Hamburg 1968; zu den politischen Trägergruppen siehe H. Hamon, P. Rotman, Génération, Vol. 1, Les années de rêve, Vol. 2, Les années de poudre, Paris 1987/88; R. Gombin, Le projet révolutionnaire. Eléments d'une sociologie des événements de mai-juin, Paris 1969.

(5) Die "Wütenden". Vgl. zur Geschichte dieser Gruppe R. Viénet, Wütende und Situationisten in der Bewegung der Besetzungen, Hamburg 1977.