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"1968" als "soziale Bewegung"
In Frankreich, in den Vereinigten Staaten und in der Bundesrepublik kam es im Jahre 1968 zur größten Protestmobilisierung in der Geschichte der Nachkriegszeit. Den Protestbewegungen des Jahres 1968, die sich als neue linke Bewegungen verstanden, ging die Formierung einer intellektuellen Nouvelle Gauche, New Left und Neuen Linken voraus. Getragen von Intellektuellen, die zum größten Teil Dissidenten der traditionellen Parteien der Linken waren, war die Neue Linke bereits am Ende der fünfziger und zu Beginn der sechziger Jahre international in Publikationen, Zirkeln, Zeitschriften und durch Aktionen hervorgetreten. Die Abgrenzung der "Neuen Linken" von der "alten Linken" hatte zeittypische Anlässe, zu denen die Ereignisse in Prag 1948, der XX. Parteitag der KPdSU, die Niederschlagung des Ungarnaufstandes, der Kalte Krieg und die Nichtproblematisierung der Atomrüstung in Ost und West gehören, sowie systematische Gründe, welche in kritischer Auseinandersetzung mit der Entwicklung des Sozialismus und Kommunismus seit den zwanziger Jahren entfaltet wurden.
Abbildung 1:
Les situationnistes à l'Institute of Contemporary Arts de Londres en septembre 1960
(Maurice Wyckaert, Asger Jorn, Jacqueline de Jong, Hans-Peter Zimmer, Heimrad Prem, Helmut Sturm, Katja Lindell, Jørgen Nash,Attila Kotányi, Guy Atkins, Laurence Alloway)
Internet-Quelle [1]
Die intellektuelle Neue Linke formierte sich in Frankreich im Umkreis der Zeitschriften "Socialisme ou Barbarie [2] " (1949-1966), "Arguments" (1956-1962), und "International Situationniste [3] " (1958-1969). Was ist neu an der Neuen Linken? Die neue kognitive Orientierung (1), welche die freischwebenden Intellektuellen der Neuen Linken der traditionellen Linken entgegensetzten, bestand:
- erstens, in einer Neuinterpretation der marxistischen Theorie. Die Neue Linke akzentuiert unter Rückgriff auf die Marxschen Frühschriften primär den Aspekt der Entfremdung, nicht den der Ausbeutung, und sucht in der Verbindung von Marxismus und Existentialismus sowie Marxismus und Psychoanalyse eine Öffnung der theoretischen Deutung, um das Marxismusverständnis aus der sklerotischen Erstarrung und Identifizierung mit dem institutionalisierten Marxismus zu lösen.
- zweitens, in einem neuen Entwurf der sozialistischen Gesellschaftsordnung. Sozialismus kann, so die Überzeugung der Neuen Linken, sich nicht erschöpfen in der politischen und sozialen Revolution, in der Eroberung der Macht und der Verstaatlichung der Produktionsmittel, sondern muss die Entfremdung des Menschen in der Lebenswelt aufheben, in der Freizeit, in der Familie, in den sexuellen und sozialen Beziehungen des einzelnen.
- drittens, in einer neuen Transformationsstrategie. Das Individuum soll aus der Unterordnung unter das Kollektiv gelöst werden. Veränderungen im kulturellen Bereich, so die Prämisse, müssen der sozialen und politischen Transformation vorausgehen. Neue Kommunikations- und Lebensformen müssen antizipatorisch und experimentell entfaltet werden durch die Schaffung von neuen Kulturidealen und deren Umsetzung in Subkulturen sowie Erprobung als Gegenmacht innerhalb der bestehenden Institutionen.
- viertens, in einer neuen Organisationskonzeption. Aktion, nicht Organisation heißt die Devise. Die Neue Linke versteht sich als Bewegung, nicht als Partei. Als Bewegung folgt sie der Strategie der direkten Aktion in all ihren Facetten, von der demonstrativ-appellativen zur direkt-koerziven Aktion. Sie will Einsicht schaffen durch Handeln, die Öffentlichkeit aufrütteln durch Provokation und zugleich den Handelnden verändern in und durch die Aktion.
- fünftens, in einer neuen Definition des Trägers sozialen Wandels. Als Träger des sozialen und kulturellen Wandels wird nicht mehr das Proletariat angesehen, sondern die Neue Linke geht davon aus, dass neue Trägergruppen den Anstoß zur Transformation der Gesellschaft geben: die (fachgeschulte) neue Arbeiterklasse, die junge Intelligenz, die gesellschaftlichen Randgruppen.
Die Aufhebung der Bindung des Emanzipationskampfes an das Proletariat verleiht der "jungen Intelligenz" ein Mandat, als neues "revolutionäres Subjekt" in die sozialen Auseinandersetzungen einzugreifen. Der Verzicht auf Organisation des neuen Trägers der Emanzipation sowie das Selbstverständnis als Bewegung, die durch externe Mobilisierung Druck auf das gesellschaftliche Institutionensystem ausübt, machen die Neue Linke offen und anschlußfähig für eine Vielzahl von Protestströmungen, von der Anti-Atom- und Abrüstungsbewegung über die Bürgerrechtsbewegung bis zur Anti-Kolonialbewegung. So wirken innerhalb der 68er Bewegung in den USA Studentenbewegung, Anti-Vietnamkriegsbewegung und Civil-Rights-Movement zusammen, in der Bundesrepublik Ostermarschbewegung, Opposition gegen die Notstandsgesetze und Studentenbewegung. In Frankreich, und nur hier, tritt 1968 eine Wechselwirkung zwischen Studenten- und Arbeiterbewegung ein, springt der Funke des Protestes von der Universität auf die Betriebe, kommt es zum größten Generalstreik, den es jemals in der französischen Geschichte gegeben hat. (2)
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Anmerkungen
(1) Vgl. I. Gilcher-Holtey, "Die Phantasie an die Macht", Frankfurt 22001, 44-104.
(2) Zur französischen Entwicklung vgl. u.a. A. Touraine, Le communisme utopique. Le movement de mai 1968, Paris 1968; E. Morin, C. Lefort, J.-M. Coudray, La Brèche. Premières reflexions sur les événements, Paris 1968, new ed. 1988; L. Joffrin, Mai 68. Histoire des événements, Paris 1988; G. Dreyfus-Armand, L. Gervereau (Hg.), Mai 68. Les mouvements étudiants en France et dans le monde, Nanterre 1988; A. Delale, G. Ragache, La France de 68, Paris 1978; A. Dansette, Mai 1968, Paris 1971. Einen Überblick über die divergierenden Interpretationen des Mai 68 gibt der Beitrag von M. Zancarini, Les interprétations de mai 68. In: IHTP (Hg.), Les années 68: événements, cultures politiques et modes de vie. Lettre d'information n°10 (février 1996), 4-23; G. Dreyfus-Armand, R. Frank, M. Zancarini-Fournel (Hg.), Les années 68. Le temps de la contestation, Paris 2000.