- Kulturelle und territoriale Vielfalt bis zum Zeitalter der Revolution
- Von den verachteten "Fröschefressern" zu den "besten Deutschen": Zur Geschichte der Hugenotten in Deutschland
- Migrationen und kultureller Austausch seit 1815
- Einleitung
- "Tour de France" der Handwerker
- Ein Massenphänomen: ungelernte Arbeiter
- Politisches Exil
- Adressbuch der Deutschen von 1854
- Zerstreut und zurückgezogen
- Bonnes à tout faire: deutsche Dienstmädchen
- Weiterführende Literatur und Internetadressen
- Minderheiten, Immigranten und Integration in Frankreich
- Einwanderung und Probleme der Integration in Deutschland seit 1960
- Laizität und Religionen im heutigen Frankreich
- Gesellschaftsvergleiche
- Das Jahr 1968 und die Folgen
- Begegnungen im Alltag
'Ein Phänomen für sich: hessische Straßenkehrer'
Sie sind hier: Deuframat > ... > Ein Phänomen für sich: hessische Straßenkehrer
Ein Phänomen für sich: hessische Straßenkehrer
Ganze Dörfer aus Oberhessen organisierten sich im 19. Jahrhundert, um turnusmäßig in Paris Straßen zu kehren. Es scheint eine besondere Berufsehre gegeben zu haben, wonach keiner die Straßen so gut kehre wie die Hessen. Von der Pariser Stadtbehörde wurden sie nicht nur bevorzugt eingestellt, es wurde sogar regelrecht Werbung in den Dörfern für einen Arbeitsaufenthalt in Paris gemacht.
Die hessische Bevölkerung in Paris zeigte alle Merkmale einer "Kolonie": Ihr Aufenthalt in Paris war von vornherein nur für eine bestimmte Zeit angelegt. Sie wollten in Paris einige Jahre arbeiten - oftmals wurden es zehn Jahre oder mehr -, um später mit etwas Geld wieder in die Heimat zurückzukehren. Viele von ihnen wollten in Paris heiraten, was ihnen in Hessen ohne Nachweis eines bestimmten Grundvermögens verwehrt war. Zurück in der Heimat wurde diese Heirat jedoch anerkannt. Die Hessen vollzogen also keinen Bruch, sondern verfolgten eine Strategie der Aufrechterhaltung mit der Heimat (Endnote 12).
Sie hielten an ihrer Religion, ihren Sitten und Gebräuchen fest. In neun von zehn Fällen heirateten die Hessen untereinander, wobei die zukünftigen Ehepartner zumeist schon unter derselben Adresse wohnten. Zeugen bei der Hochzeit waren Familienmitglieder, die ebenfalls unter der gleichen Adresse oder nur wenige Häuser weiter wohnten. Im selben Umkreis waren auch Tavernen und Garni-Hotels unter hessischer Führung angesiedelt. Die Migration im Familien- und Dorfverband spricht für das Vorhandensein von Netzwerken. Neuankömmlingen wurde geholfen, Unterkunft und Arbeit zu finden.
In Paris wohnten die Hessen unter ärmsten Verhältnissen und überwiegend isoliert in den großen Cités der Vorstädte. Der Dienst begann morgens um 3.00 Uhr, bei jeder Jahreszeit und jedem Wetter mussten die Straßen gefegt werden. Die Kinder arbeiteten bis 9.00 Uhr, Frauen bis 11.00 Uhr, die Männer bis in den Nachmittag hinein. Für das Kehren verdienten die Männer 2,5 Francs am Tag, Frauen und Kinder bekamen sogar noch weniger.
Mit Franzosen kamen die Hessen kaum in Berührung, und sie lernten auch die Sprache nicht. Nur die Kinder, die auf der Straße aufwuchsen und ihre Eltern kaum sahen, lernten Französisch und sprachen dafür kaum noch Deutsch. So kam es, dass manche Eltern sich mit ihren Kindern nicht mehr verständigen konnten. Auf Anregung der Hessen gründete der protestantische Pfarrer Bodelschwingh im Norden von Paris zwei Gemeinden mit jeweils einer deutschen Schule, die exakt dem in Hessen gültigen Lehrplan folgten.
Pfarrer Bodelschwingh über die Deutsche Schule in Paris (Endote 13): Es ist ein bunter Haufen, der da des Morgens zwischen 8 und 9 Uhr unter den Bäumen durch die Treppe zu unserem Hügel hinangestiegen kommt, es sind Kinder aus vieler Herren Länder, aus Baden, Württemberg, Bayern, Hessen, Preussen, aus deutsch Elsass und Lothringen, aber doch meist alle mit blondem Haar, so dass man doch gleich sieht, es ist eine deutsche Kinderschar. Es sind mit wenigen Ausnahmen recht armer Leute Kinder, die sich zu unserer deutschen Schule einfinden, die darum ihren Eltern außer der Schulzeit helfen müssen, das tägliche Brot zu verdienen. Eine große Anzahl arbeitet in den Schwefelholzfabriken dieser Vorstadt, in der sie schon vom 7. Jahre an Beschäftigung finden; das sind böse Orte, in denen die Kinder von früh an entsetzlich böse und unreine Dinge zu sehen und zu hören bekommen. Andere Kinder müssen schon in der Nacht hinaus mit ihrer Kiepe auf dem Rücken und Lumpen sammeln. Erst zwischen 8 u. 9 Uhr Morgens kommen sie heim, nehmen ein Stück Brot in die Hand und laufen der Schule zu. Noch andere, an den bleichen Gesichtern kenntlich, sitzen vom frühen Morgen bis tief in die Nacht hinein zu Hause in den ungesunden Wohnungen der Eltern und müssen da allerlei Fabrikarbeit machen, die außerordentlich gering bezahlt wird, und nur bei der angestrengtesten Arbeit etwas einbringt. Freilich, die sich auf den Gassen mit den Gassenkindern herumzutreiben Zeit haben, haben es auch nicht gut. Etliche kommen anfangs so zerrissen und schmutzig daher, daß sie wiederholt müssen heimgeschickt werden, sich zu waschen, bis man sie neben die anderen Kinder setzen kann. Diese armen Kinder haben meist recht traurige Eltern, die nichts Gutes aus dem Vaterlande fortgetrieben hat. Sie haben daselbst im Gefängnis gesessen, oder es sind noch traurigere Ursachen. Doch sind auch etliche liebe, redliche Leute darunter, die der Hunger mit ihrem Häuflein Kinder in die Fremde getrieben, zu der Zeit, da die Kartoffeln bei uns mißraten sind. - Wie die Geschichte...
Aus: Evangelisches Monatsblatt für Westfalen, Hauptarchiv der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel, 2/90 - 29.
Auch die katholische Kirche führte deutsche Gemeinden in Paris, wobei die beiden wichtigsten Aufgabenfelder deutschsprachiger Gottesdienst und Schule waren. Im nördlichen Vorort von Paris, La Villette, heute das 19. Arrondissement, standen 1858 1.000 deutsche Protestanten rund 10.000 deutschen Katholiken gegenüber. Schätzungen zufolge sollen allein in La Villette kurz vor Ausbruch des Krieges etwa 30.000 Deutsche gelebt haben. Die französischen Arbeiter bezeichneten das Viertel zu dieser Zeit daher als "petite Allemagne" (Endnote 14).
Der deutsch-französische Krieg von 1870/71 markierte den zweiten tiefen Einschnitt für die deutsche Einwanderung in Paris. Nach der Niederlage von Sedan wurden die deutschen Männer aus Paris ausgewiesen. Zurück blieben Frauen, Kinder, Kranke, Alte und diejenigen, die sich eine Reise nicht leisten konnten. Etwa 5.000 Deutsche soll es während des Krieges und während der Kommune in Paris gegeben haben.
____________________
Anmerkungen