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'Jugendliche in Europa 1995'
 
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Jugendliche in Europa 1995

1995 wurden über 31 500 Jugendliche der 9. Klassenstufe in fast ganz Europa befragt. Wiederum ging es vorwiegend um fünfstufige Likertskalen von "nein, gar nicht" (1) bis "ja sehr" (5), also mit 3 ("teils-teils") als Neutralitätspunkt. Teilweise wurden sehr ähnliche oder identische Items benutzt wie 1992 in Deutschland. Erneut standen Motivation und Mediennutzung, Lernziele und Unterrichtsformen, Kenntnisse und Deutungen, geschichts-bezogene Einstellungen und politische Entscheidungen im Vordergrund (vgl. Angvik / v. Borries 1997, v. Borries u. a. 1999), von denen nur wenige knapp berichtet werden können. Differenziertere Fragen nach Kontinent-Europa, EU-Europa, Euro-Europa, Europarats-Europa oder Schengen-Europa sollte man - so erwünscht sie wären - lieber nicht stellen. Sie erweisen sich als ziemlich sinnlos, weil sie die Unterscheidungsfähigkeit der Mehrheit von Jugendlichen (und vielleicht auch Erwachsenen) offenkundig überfordern.

Vergleicht man die Wichtigkeit zahlreicher Werte und Institutionen für die Jugendlichen (v. Borries u.a. 1999: 119f.), dann besitzt die "europäische Zusammenarbeit" nur einen sehr geringen Stellenwert (besonders natürlich in Israel und Palästina), weit hinter den privaten Bereichen von "Familie", "Freunden" und "Hobbys", aber auch universalen Werten wie "Frieden", "Umweltschutz" und "Solidarität". "Demokratie" bekommt einen vergleichbar geringen Wert. Die Unterschätzung der objektiven Bedeutung "Europas" (z.B. Wirtschaft, Freizügigkeit, Währung) ist offenkundig, eine starke emotionale Bindung besteht nicht. Das Interesse an der (eigenen) Nationalgeschichte ist meist (Ausnahmen Schweden und Südtirol) etwas stärker ausgeprägt als das an europäischer Geschichte (v. Borries u. a. 1999: 41 f.); von einem eng chauvinistischen Geschichtszugang kann aber - außer in wenigen Ländern am Mittelmeer (Griechenland, Türkei, Israel, Palästina) - nicht die Rede sein.

Die Europabegriffe (v. Borries u. a. 1999: 108 f., 126) ähneln durchaus denen in Deutschland: Sämtliche positiven Äußerungen über Europa werden (schwach) bejaht, sämtliche negativen neutral bewertet oder schwach zurückgewiesen. Damit ist eine gewisse vage Europafreundlichkeit, freilich ohne Engagement und Leidenschaft, schon vorweg geklärt. Die "Friedenssicherung" und der "Wirtschaftsmotor" werden besonders betont, die Vorbildlichkeit hinsichtlich "Demokratie und Aufklärung" findet nur in Griechenland größere Zustimmung; eine Schuld an Kolonialismus und Umweltbelastung wird schwach zurückgewiesen. Die Nationalkulturen der Erwachsenen spiegeln sich im Material, wenn auch sehr gedämpft. Die - damals noch künftigen - Beitrittskandidaten Ostmitteleuropas sind am positivsten eingestellt, die Alt-Mitglieder in Mittel- und Südeuropa ebenfalls durchaus günstig. Am meisten Skepsis findet sich bei den Isolationisten auf der britischen Insel und der skandinavischen Halbinsel (damals im Beitrittsprozess). Diese - völlig plausible - Beobachtung wird durch parallele Befunde bei der Frage nach hypothetischen Abstimmungen (über gemeinsame Währung, Stärkung der nationalen Regierungen etc.) gestützt (v. Borries u. a. 1999: 120 ff., 132). Die günstigste Beurteilung des künftigen Euro findet sich z. B. in der italienischen Region Südtirol (Sonderstichprobe aller drei nationalen Gruppen), wo er das Nebeneinander von drei Währungen (Lira, Schilling und D-Mark) abzulösen verspricht.

Europa als "Friedenschance" und "Ausbeuterclub"




(Quelle: Bodo von Bories et al.: Jugend und Geschichte. Opladen 1999, S. 126)

 

 

Die Nationsbegriffe (v. .Borries u. a. 1999: 101 ff., 124) zeigen erstaunlicherweise keinen Gegensatz zwischen dem "westeuropäischen" politischen Konzept (Ernest Renans) und dem "mittel- und osteuropäischen" kulturellsprachlichen Konzept (Johann Gottfried Herders). Beiden wird zugestimmt, und beide weisen einen beträchtlichen positiven Zusammenhang auf! Zwar wird auch in Europa die große Rolle der Nationen bei Kriegen in den letzten Jahrhunderten gesehen, aber ein Auslaufen des Nationskonzeptes und der Ersatz durch übernationale Regelungen findet nur eine ziemlich geringe Resonanz. Erwartungsgemäß stehen "traditionalistische" Länder mit einer höheren Nationsbegeisterung und "modernisierte" mit gedämpfteren Tönen sich deutlich gegenüber; das BSP pro Kopf und die Intensität der religiösen Bindung erweisen sich als die Variablen mit der höchsten Erklärungskraft überhaupt (v. Borries u. a. 1999: 288 ff.)! Deutschland ragt nicht als besonders nationsfeindlich (oder "negativ nationalistisch") heraus, sondern ordnet sich in die Gruppe der hoch "modernisierten" Länder ein.

Nation als "Naturgebilde" und "Auslaufmodell"




(Quelle: Bodo von Bories et al.: Jugend und Geschichte. Opladen 1999, S. 124)

 

 

Besonders spannend ist das Verhältnis "der Europäer und der 'anderen' ". Die Kolonialgeschichte (v. Borries u.a. 1999: 113 ff., 129) wird auch in Europa eher ungünstig eingeschätzt. Der "Ausbeutungs"-Charakter wird fast durchgehend bejaht, allerdings in Italien, Türkei und Norwegen weit deutlicher als etwa in Island, Dänemark und den Niederlanden (und den ehemaligen Kolonialmächten überhaupt). Die Anerkennung als "Fortschrittshilfe" fällt im ganzen - wenn auch weit niedriger - ebenfalls positiv aus. In einzelnen Ländern (Türkei, Ukraine, Dänemark, Griechenland) ist der positive Wert sogar etwa gleich hoch. In anderen Fällen (Italien, Island, Ungarn und Tschechien) fällt der Gegensatz besonders krass aus (sie alle haben für "Fortschrittshilfe" negative Werte). Interessanterweise gibt es keinen Zusammenhang (Nullkorrelation) zwischen der Beurteilung der Kolonialgeschichte als "Ausbeutung" (im Mittel durchaus anerkannt) und der Kennzeichnung Europas als "Ausbeuterclub" (wie erwähnt eher abgelehnt), obwohl man das logisch erwarten sollte. Wahrscheinlich wird das eine als eine Beschreibung der Vergangenheit ("Geschichte"), das andere als Urteil über die Gegenwart ("Politik") angesehen. Man kann dafür recht gute Belege beibringen.

Kolonialgeschichte: "Fortschrittshilfe" oder "Ausbeutungssystem"




(Quelle: Bodo von Bories et al.: Jugend und Geschichte. Opladen 1999, S. 129)

 

 

Gefragt wurde nämlich auch nach der etwaigen Verpflichtung zu Kolonialreparationen, falls schwarzafrikanische Länder sie fordern (v. Borries u. a. 1999: 115 f., 130). Festgestellt wurde eine eindeutige Verweigerung von Pflicht-Hilfsleistungen nach dem "Solidaritätsprinzip" ("alle reichen Länder"), aber eine hohe Akzeptanz von Erstattungen nach dem "Verursacherprinzip" ("ehemalige Kolonialmächte"). Schon das ist recht auffällig. Noch wichtiger ist ein hoher Zusammenhang von "Zahlungen nach Verursacherprinzip" und "Kolonialgeschichte als Ausbeutung" (recht relevante und signifikante Korrelation auf Länderebene) und eine ebensolche Verwandtschaft zwischen "Zahlungen nach Solidaritätsprinzip" und "Europa als Ausbeuterclub". Offenbar gilt das eine (ehemalige Ausbeutung und heutige Ruck-Erstattung) als pragmatische und rationale Analyse, das andere (anhaltende Ausbeutung und heutige Solidaritäts-Hilfe) als bloß moralische und normative Entscheidung. Konsequenterweise ist das zweite - anders als das erste - hoch geschlechtsspezifisch verteilt, d. h. weiblich getönt.

Europa ist nicht nur ein Phänomen für Vergangenheitsdeutungen und Gegenwartswahrnehmungen, sondern auch für Zukunftserwartungen (v. Borries u. a. 1999: 109 ff., 127 f.). Gefragt wurde nach den Aussichten in sieben Dimensionen (Demokratie, Frieden, Wohlstand, Überbevölkerung, Umweltverwüstung, soziale Konflikte, ethnische Unruhen). In vielen Ländern (besonders bei den alten EU-Mitgliedern) wird eine Unterscheidung zwischen den Aussichten Europas und denen des eigenen Landes praktisch nicht mehr gemacht. In Skandinavien und Großbritannien dagegen schätzen die Jugendlichen die Prognose für ihren Nationalstaat in jeder Hinsicht günstiger ein als die für Europa, an dessen Integration sie - mit "heiligem Egoismus" - wohl vor allem deshalb nur bedingt und distanziert teilnehmen wollen. In einigen wenig begünstigten Ländern im Osten (Russland) und Südosten (Bulgarien) haben die Jugendlichen bereits eingesehen, dass ihr Staat die europäischen Standards nicht erreichen und am Schicksal Europas nicht voll teilhaben wird. Das ist wohl eine realistische, aber auch eine beklemmende Sichtweise.

Erwartung: Friedlichkeit im Nationalstaat und in Europa




(Quelle: Bodo von Bories et al.: Jugend und Geschichte. Opladen 1999, S. 127)

 

 

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