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Einschlägige fachliche Fähigkeitsniveaus
Es wäre leichter, eine "Lernprogression" des Historischen zu entwerfen, wenn die Fähigkeiten historischen Denkens ungefähr altersspezifisch gestuft wären. Das ist aber keineswegs der Fall. Da zeigt eine Gelehrte an der Interpretation von antiken Objekten aus einem Museum, dass in der gleichen Klasse (von Dreizehn- bis Vierzehnjährigen) alle sieben Stufen der Kompetenz im Umgang mit Gegenstandsquellen vorhanden sind, von schlichtester Benennung in vier Worten bis zu elaboriertester Interpretation über eine halbe Seite (vgl. Nakou 2001). Da finden sich Siebenjährige mit einem Geschichtsbewusstsein wie Pubertierende ("seven-year-gap") (vgl. Lee et al. 2001: 113 f.) und Pubertierende, die viele erwachsene Politiker und Journalisten überragen (Lee/Ashby 2000: 215).
Mit sehr großer Streubreite der Qualifikationen in den einzelnen Klassen ist zu rechnen; der gleiche Frontalunterricht für alle hat dabei keine Zukunft. Er unterfordert entweder die Spitze oder geht über die Köpfe der Schwächeren hinweg oder - was das Wahrscheinlichste ist - leistet sich beides zugleich. Immerhin: Wer eine solche Spreizung der Kompetenzen überhaupt feststellt, muss offenbar über diagnostische Modelle verfugen, die Schüleräußerungen verlässlich auf Hierarchien und Taxonomien einzuordnen. Genau das ist der Fall (vgl. Nakou 2001). Zu bedenken ist allerdings, dass hier nur an eine Art "(Re)-Konstruktion" aus Quellen (und zwar in Details ohne wirkliche Synthesenbildung), nicht gleichermaßen an eine "(De)-Konstruktion" fertiger und zugemuteter Narrationen gedacht ist.
Stufe | Charakterisierung |
---|---|
Quelle: Nakou 2001: 81 f., übers. B.v.B. | |
1 | A-historisches Denken: Beschreibung des Überrests als eines Objektes der Gegenwart |
3 | Pseudo-historisches Denken (ohne jedes Bedürfnis nach Demonstration in historischen Begriffen): Reproduktion von historischer Information oder Kenntnis |
5 | Rationales Denken: Schlüsse aufgrund rationaler Überlegungen |
7 | Entwickeltes historisches Denken: Fortgeschrittene historische Schlüsse aufgrund historischer (Denk)-Prozesse |
Die Debatte über im Fach Geschichte zu erreichende Standards hat in anderen Ländern früher begonnen als in Deutschland. Dabei geht man im britischen National Curriculum ("History", revidierte Fassung von 1995) selbstverständlich davon aus, dass nicht alle Kinder gleichzeitig das gleiche Niveau erreichen. Vielmehr ist - getreu den erwähnten britischen Forschungen - durchaus vorgesehen, dass Kinder mit 14 Jahren (am Ende der Erschließungsstufe 3) Niveaus zwischen Stufe 3 und Stufe 7 bewältigen ("History" 1995). Auch diese Standards gehen von - allerdings ziemlich niedrig angesetzten und nicht besonders exakt operationalisierten - Qualifikationen aus. Es mag sein, dass sie weit realistischer formuliert sind als in Deutschland – und deswegen auch zuverlässiger erreicht werden.
Niveau 3
Die Schüler/innen zeigen ihr Verständnis von Chronologie durch ihr wachsendes Bewusstsein, dass die Vergangenheit in verschiedene Zeitabschnitte (Perioden) eingeteilt werden kann, durch ihre Erkenntnis einiger Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen diesen Perioden und ihren Gebrauch von Daten und Begriffen. Sie zeigen Kenntnisse von Tatsachen und Verständnis für einige der hauptsächlichen Ereignisse, Personen und Wandlungen, die sie aus geeignetem Lernmaterial ziehen. Sie fangen an, einige wenige Ursachen für und Folgen von hauptsächlichen Ereignissen und Wandlungen anzugeben. Sie identifizieren einige der verschiedenen Weisen, in denen die Vergangenheit dargestellt wird. Sie finden Antworten auf Fragen über die Vergangenheit, indem sie Informationsgrundlagen in einer Weise benutzen, die über einfache Beobachtungen hinausgeht" ("History" 1995: 15, übers. B.V.B.).
Niveau 3 wird übrigens umgekehrt schon von den Stärksten der Erschließungsstufe l, also den "besten" Siebenjährigen erreicht.
"Teaching for understanding” – Die Homepage des Programms ALPS (Active Learning Practice for Schools) der Harvard University.
(Quelle: learnweb.harvard.edu/alps/tfu/index.cfm)
Niveau 7
Die Schüler/innen stellen Verbindungen zwischen ihren umrisshaften und detaillierten Kenntnissen von Tatsachen und ihrem Verständnis für die Geschichte von Britannien und anderen Ländern her, die sie aus den Lehrgängen von Stufe 3 beziehen. Sie benutzen dies, um Beziehungen zwischen Merkmalen einer spezifischen Periode oder Gesellschaft zu analysieren und Ursachen für oder Folgen von Ereignissen und Wandlungsprozessen zu analysieren. Sie erklären, wie und warum verschiedene historische Interpretationen aufgestellt worden sind. Die Schüler/innen fangen an, beim Verfolgen von Richtungen der Untersuchung Unabhängigkeit zu zeigen, indem sie ihr Wissen und Verständnis benutzen, um Informationsgrundlagen ("Quellen") zu identifizieren, zu bewerten und kritisch zu gebrauchen. Sie fangen an, selbständig erhärtete Schlussfolgerungen zu erreichen. Sie wählen relevante Information aus, organisieren sie und setzen sie ein, um gut strukturierte Erzählungen, Beschreibungen und Erklärungen zu produzieren, wobei sie angemessenen Gebrauch von Daten und Begriffen machen" ("History" 1995: 16, übers. B.v.B.).
Gerade die britischen Standards sind nicht stofforientiert organisiert. Neben den Bereichen "Chronologie" (1) und "Reichweite und Tiefe historischen Wissens und Verstehens" (2) werden nämlich - ganz methodenorientiert und auf "Lernen des Lernens" ausgerichtet - "Interpretation ('Deutung', 'Sinnbildung') von Geschichte" (3), "Historische Untersuchung und Erforschung" (4) sowie "Organisation und Kommunikation" (5) verlangt ("History" 1995: 5).
Auch in den USA, an der Elite-Universität Harvard, beschäftigen sich Wissenschaftler/innen und Schulpraktiker/innen mit einem fächerübergreifenden Modell "Teaching for Understanding", das Stofforientierung durch Methodenorientierung ersetzen soll (Wiske 1998). Wichtig ist, dass dabei neben "Kenntnis" auch "Methode", "Lebensbezug" und "Form" gefordert wird. Davon ist als "Gegenwartsbezug", "Lebensweltbezug" und "narrative Kompetenz" zwar in der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik unentwegt die Rede, nicht aber in deutschen Klassenzimmern. Jedenfalls ist das der bezwingende Eindruck, der sich aus einer neuen qualitativen und quantitativen Befragung 2002 (N 1 291) ergeben hat (vgl. v. Borries 2003).
Stufe | Kenntnis | Methode | Lebensbezug | Form |
---|---|---|---|---|
Quelle | Hammerness et al. 1998: 235-239, übers. B.v.B. | |||
Meister | Reiche Karte der Vergangenheit, gut verbundenes Netz von Details | Ausführliche Diskussion der Bedeutung von Tendenz und Gesichtspunkt, Notwendigkeit der Einnahme verschiedener Perspektiven | Wichtigkeit für die eigene Identität, Entwicklung eines persönlichen Standpunktes, Bedeutung für Sinnbildung im Leben | Tiefes Verständnis der Gattungen, bewusste Wahl von Symbolen, Sprache und Bildern |
Geselle | Schwierigkeiten der Verbindung von Ereignissen/ Personen zu disziplinären Themen/ Konzepten | Vielzahl von Quellen ohne Diskussion unterschiedlicher Qualität und Gültigkeit von Positionen | Bedeutung im eigenen Leben (ohne Rückbezug auf Schule und Disziplin), Wichtigkeit für Sinnbildung ohne Folgen für das Lernen | Gutes Verständnis der Genres (mit geringerer Intentionalität und Zweckhaftigkeit der Produktionen) |
Lehrling | Keine Verbindung der Information mit geschichtlichen Vorstellungen | Notwendigkeit verschiedener Quellen (ohne methodische Begründung) | Identifikation der großen Fragen des Curriculums, Erwägung der Bedeutung dieser übergreifenden Fragen außerhalb des Klassenraums | Mechanische Regelanwendung, simple oder banale Darstellungen, Fehldarstellungen |
Naiver | Unverbundene und unorganisierte Information; Fehlkonzeptionen und Stereotype über die Vergangenheit | Anführung nur eines Buches oder des Lehrers (eine Fundstelle als genügend) | Keine Äußerung zu bzw. Identifikation von Zielen des Geschichtslernens | Darstellungen ohne intendierte Symbole |
Das amerikanische Modell ordnet die Leistungen in den vier erwähnten (interdependenten) Feldern auf je vier Stufen - vom Naiven über Novizen und Lehrling bis zum Meister - an. Im Deutschen wären allerdings "Anfänger", "Lehrling", "Geselle" und "Meister" vorzuziehen. Freilich ist eine leicht übertragbare Operationalisierung auch bei diesem Modell noch keineswegs erreicht. Es zeigt aber, dass - unbeschadet größeren Pragmatismus in anderen Ländern - der theoretisch anspruchsvolle deutsche Versuch einer "Förderung von 'reflektiertem und selbstreflexivem Geschichtsbewusstsein' durch Geschichtsunterricht" ("FUER Geschichtsbewusstsein) (vgl. Schreiber 2002) international keineswegs ganz isoliert und auch nicht völlig größenwahnsinnig dasteht.
Abschließend ist daran zu erinnern, dass nur versucht wurde, drei Bälle ins Spielfeld zu werfen, nicht aber, schon ein festes Regelwerk für das gesamte Spiel zu entwickeln. Was in einer "verdummenden" Medien- und Spaßgesellschaft, was in der schleichenden - wenn nicht galoppierenden - Aushöhlung von Demokratie an Gegenkräften durch Bildungsprozesse überhaupt noch möglich ist, darüber muss man sich klarzuwerden versuchen. Ob gerade Unterricht in seinen einerseits öffentlichen (und angeblich neutralen), andererseits hoch ritualisierten (und unvermeidlich asymmetrischen) Formen (mit Benotung) viel bewirken kann, ist heftig umstritten (vgl. Hollstein u. a. 2002).