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Jugendliche in Deutschland 1992
Viele Ergebnisse stammen aus einer repräsentativen Befragung (N = 6 480) von Jugendlichen der 6., 9. und 12. Klassenstufe (ersatzweise 2. Berufsschuljahr) in Süd-, West- und Ostdeutschland 1992. Dabei waren vorwiegend Statements auf fünfstufigen Likertskalen von "nein, gar nicht" (- 2) bis "ja sehr" (+ 2) anzukreuzen, so dass positive Mittelwerte Zustimmung, negative Ablehnung bedeuten. Aus der breiten Palette aller Items zu Motivation und Vorlieben, Kenntnissen und Lesefähigkeit, Einstellungen, Deutungen und Urteilen, Mediengewohnheiten, Unterrichtsformen und Sozialisationsbedingungen (vgl. v. Borries u. a. 1995) sind hier nur ganz wenige Gruppen zu betrachten.
Bei den Europabegriffen (v. Borries u. a. 1995: 179 ff.) zeigt sich eine geringe Altersabhängigkeit und eine mäßige positive Zuwendung der Mehrheit. Die beliebtesten Äußerungen ("Ansammlung mehrerer unabhängiger Nationalstaaten mit ganz verschiedenen Traditionen" und "Beispiel dafür, dass früher verfeindete Nachbarländer heute friedlich zusammenarbeiten") werden im Prozess der Schullaufbahn (und der Sozialisation insgesamt) weder "erlernt" noch "verlernt". Der "bloß erdkundliche Begriff" wird abgelehnt, und zwar im höheren Alter etwas stärker. Die Zustimmung zu "Heimat von Demokratie, Aufklärung und Fortschritt" schrumpft ein wenig, ähnlich wie die zu "lockerer Staatenbund, der auf einer langen gemeinsamen Tradition beruht". Der "Club der reichen weißen Länder... (mit) Schuld an der Kolonialausbeutung und Umweltzerstörung" wird vollends neutral eingeschätzt. Schon 1992 gibt es also (in diesem Zusammenhang!) nur geringe Auswirkungen eines antikolonialistischen und umweltschützerischen Engagements. Das spricht nicht für eine intensive Bearbeitung in der Schule oder in den Massenmedien, sondern für ziemlich feste Voreinstellungen ohne große Änderungen durch Unterricht.
Erwartungen an Europa nach einer Befragung im "Dokument über die Europäische Identität", das im Dezember 1973 in Kopenhagen von den neun Außenministern der damaligen EG verabschiedet wurde.
(Quelle: http://www.ronnie.de/europa/europa4.html)
Zum Vergleich sind die Nationsbegriffe (v. Borries u. a. 1995:176 ff.) heranzuziehen: Dominant ist die (durch Lernen noch verstärkte) Überzeugung, Nationen seien "in den letzten Jahrhunderten die Ursache vieler Bürgerkriege und Massenvertreibungen" gewesen. Freilich ist die Meinung fast ebenso stark, Nationen würden "von ihren Angehörigen geliebt, weil sie natürliche Gebilde (seien), die auf gemeinsamer Sprache, Abstammung und Kultur beruhen". Die darin sich äußernde Neigung zu einem naturalen und illusionistischen Nationsbegriff wird durch die Beantwortung des Items, Nationen seien "ebenso entstanden und vergänglich wie andere geschichtliche Größen, z. B. Reiche oder Herrscherhäuser", noch unterstrichen. Dieser offensichtlich triftigen Historisierung stimmen zwar die Jüngeren einigermaßen zu, verblüffenderweise nicht jedoch die Älteren. Diese lehnen aber gleichzeitig - anders als die Jüngeren - "Unantastbarkeit, Zeitlosigkeit und Wertvollsein" der Nationen ab. Die Behauptung, Nationen seien eine "veraltete Organisationsform, weil die Menschheit heute über alle Grenzen hinweg ihr Überleben sichern" müsse, lösen weder Zustimmung noch Ablehnung aus. Besonders heftige Reaktionen ruft der Nationsbegriff in Deutschlands Jugend also nicht hervor. Und gelernt oder verlernt wird in diesem Kontext fast nichts. Ein Hauptthema des Geschichtsunterrichts bewirkt also wenig, vermutlich weil die Zugriffe zu wenig explizit, reflektiert und theoriebewusst ausfallen.
Nationale versus europäische Identität? Der Islamwissenschaftler Bassam Tibi widmet dieser Frage ein Buch mit dem Titel: Europa ohne Identität? Dabei konstatiert er, dass Europa in einer tiefen moralischen Krise stecke: Durch politische Umwälzungen, wirtschaftliche Rückschläge und globale Wanderungsströme drohe es ins Abseits zu geraten. Die Europäer reagierten darauf mit gefährlichen Extremen: einerseits mit einer panischen Abwehr gegen alles Fremde, andererseits mit einem multikulturellen Relativismus, der dem Ansturm undemokratischer und fundamentalistischer Strömungen nichts entgegenzusetzen habe. Sein Fazit: Europa muss aus seiner aufklärerischen Tradition ein neues Selbstbewusstsein entwickeln; es muss eine Leitkultur bilden, die jeder zu akzeptieren hat, der hier leben will. Erst auf diesem Fundament kann es ein Neben- und Miteinander verschiedener Kulturen geben.
(Quelle: www.randomhouse.de/book/edition.jsp)
Klarere Befunde liefern die Items zur Kolonialgeschichte (v. Borries u. a. 1995: 60 ff.). Diese wird im Mittel durchaus negativ gesehen, und zwar mit steigendem Alter und größerer Bildung noch weit negativer (Lerneffekt durch Schule und Massenmedien). Den Kennzeichnungen als "langdauernde Ausbeutung von Ländern und Völkern in Übersee" und als "Verachtung und Vorurteile gegenüber farbigen Menschen" wird von den Kleinen noch nicht lebhaft zugestimmt, von den Großen ganz entschieden. Dagegen sind "großartige Beiträge für den Fortschritt anderer Erdteile" für die Jüngeren noch neutral, bei den Älteren aber eindeutig abgelehnt. Die "mutigen Forschungsreisen weißer Wissenschaftler ins Unbekannte" lösen (als "Stanley-Livingston-Syndrom") in der 6. Klasse noch eine hohe Faszination aus, in der 12. Klasse (außer in Ostdeutschland) weit weniger.
Die anti-kolonialistischen Stereotype zugleich moralisierenden und konventionellen Charakters sind eindeutig belegbar; sie gehen (das wurde schon 1990 gefunden) sogar weit über das fachlich Triftige hinaus (vgl. v. Borries u. a. 1992: 70ff), bilden sich aber offenbar nicht in den "Europabegriffen" ab. Solche Inkonsistenzen sind nicht nur für die Äußerungen der Jugendlichen typisch, sondern auch für die von Erwachsenen. Man folgt - ohne großen Analyseaufwand - der öffentlichen Konvention. Als besonders deutliches Beispiel dafür konnte 1992 die Stellung zum Fortschritt aufgewiesen werden (v. Borries u. a. 1995: 182 ff., 384ff), der einerseits eine selbstverständliche Voraussetzung aller Wahrnehmungen bildet, andererseits explizit bestritten wird.