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'Skeptische Grundhaltungen '
 
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Skeptische Grundhaltungen

Die handelnden Personen der folgenden Anekdote sitzen hinter der schönen Fassade des Élysée-Palastes, von wo aus Frankreich regiert wird, aber keiner will es hinterher gewesen sein, was mit zu den Spielregeln gehört. Jedenfalls zeigt die kleine Geschichte, wie in Paris mit der Presse Politik gemacht wird.

"Helmut Kohl beunruhigt den Élysée-Palast" wäre eine Meldung, die an normalen Tagen untergehen würde. Was sind schon kleine, selbst kurzfristig aufflammende größere Verstimmungen zwischen zwei Hauptstädten? So etwas kommt immer wieder vor. Aber als in allen Zeitungen Frankreichs eine Meldung mit dem Tenor erschien, Helmut Kohl beunruhige den Élysée-Palast, waren die Zeiten nicht normal, sondern man schrieb den 13. März 1990, knapp fünf Tage vor der ersten freien Wahl in der DDR, die die CDU zu gewinnen hoffte; und ganz Europa schaute wegen der sich abzeichnenden Vereinigung von BRD und DDR mit Spannung, aber auch mit Unbehagen nach Deutschland. Weshalb also der Warnschuß aus Paris und von wem? Von "Gott" persönlich? Zumindest von einem seiner Erzengel. Die Recherche ergab, daß alle französischen Zeitungen sich für den Artikel gegen Helmut Kohl auf die gleiche Quelle stützten, auf einen längeren Bericht von afp, der französischen Nachrichtenagentur, die mit ihren Meldungen - wie alle Agenturen - auch schon einmal kräftig neben den Tatsachen liegt. Aber die Aussage von afp: "Kohl beunruhigt den Élysée", beruhte nicht auf der mehr oder weniger richtigen Analyse eines Journalisten, sondern auf einer gezielten Information.

Steht der Besucher am Anfang des mit Kies bedeckten Hofes im Élysée, im Rücken das große, schwarze Eisentor, dann geht er am linken Flügel des elegant gerundeten Gebäudes vorbei in eine kleine Durchfahrt, öffnet dort linker Hand eine Glastür, steigt eine Treppe hoch und schreitet, am Sekretariat vorbei, in das Büro jenes Beraters von François Mitterrand, der für die Abteilung Sicherheit, strategische Fragen und Außenpolitik zuständig ist. In jenen Tagen saß Hubert Védrine dort, dessen Vater ein alter Freund Mitterrands war. Hubert Védrine arbeitet schon seit 1981 im Élysée; inzwischen war ihm, nach dem Weggang von Michel Vauzelle, auch noch das Amt des Sprechers des Élysée zugefallen, 1992 wird er sogar zum Generalsekretär des Élysée aufrücken, eine der wichtigsten Positionen in ganz Frankreich. In diesem März 1990, als Kohl vorgeworfen wird, er beunruhige den Élysée, also den französischen Staatspräsidenten, sitzt Védrine noch in dem schon beschriebenen Zimmer - mit eleganten antiken Möbeln, mehreren altmodischen Ungetümen von Telephonen auf dem Schreibtisch und mit einem Blick durch das Fenster auf Faubourg-Saint-Honoré. Er ist also der eine Akteur.

Steht der Besucher wieder am Anfang des mit Kies bedeckten Hofes im Élysée, im Rücken das große, schwarze Eisentor, dann geht er diesmal am rechten Flügel des elegant gerundeten Gebäudes vorbei in eine kleine Durchfahrt, dort öffnet er rechter Hand eine Glastür, und er befindet sich in einem Aufenthaltsraum für die Presse, wo Photographen, Kamerateams und Journalisten bei schlechtem oder kaltem Wetter warten können, bis das abläuft, worauf sie harren: die Ankunft eines Staatsmannes vielleicht oder auch nur das Ende der wöchentlichen Sitzung des Ministerrats. Durch die Fenster zum Hof hin können sie sehen, was geschieht, und über Telephon können sie ihre Redaktionen unterrichten. Der Raum ist allerdings geteilt durch eine Wand, deren unteres Drittel aus Holz besteht, der obere Teil aus Glas, so daß man dahinter ein Büro mit zwei Schreibtischen, Telephonen und auch Agentur-Computern sieht. Dort sitzt der im Élysée akkreditierte Vertreter von afp. Im März 1990 war Jean-Pierre Gallois hier ganz frisch im Amt. Er ist der andere Akteur.

Nun wartet Monsieur Gallois nicht tagein, tagaus, bis etwas passiert, nein, er wird schon einmal zu diesem oder jenem Berater des Präsidenten zum Gespräch gebeten. So hatte Monsieur Védrine auf der linken Seite des Hofes Monsieur Gallois von der rechten Seite zu sich gebeten und ihm gesteckt, er möge doch einmal den Unmut des Élysée über Herrn Kohl in die Welt tragen. Und wer den Élysée kennt, der weiß, daß Monsieur Védrine dabei keiner spontanen Eingebung gefolgt ist, sondern einer Anregung aus der Morgenkonferenz beim Präsidenten.

An dem Tag, als die französische Presse nun die afp-Meldung, Kohl beunruhige den Élysée, herausposaunte, besuchte ich Jean-Pierre Gallois in seinem Büro, und er gab wieder, was ihm "die französische Seite" gesagt hatte: "Es wird unterstrichen, daß es keine Probleme zwischen Frankreich und Deutschland gibt, und wenn man in einigen Punkten über das Vorgehen bei der deutschen Vereinigung unterschiedlicher Meinung ist, so betrifft das nicht das deutsch-französische Verhältnis. Aber was die Franzosen (also: Mitterrand) nicht verstehen, ist, daß Kanzler Kohl anscheinend alles allein machen will, ohne sich zu beraten oder wenigstens uns (also: Mitterrand) zu informieren; obwohl es doch hierbei um Entscheidungen geht, die alle betreffen, Entscheidungen, die auf alle Europäer, sogar den Rest der Welt Auswirkungen haben."

Vollendet wird die Geschichte, indem Védrine als Sprecher des Élysée nach Erscheinen des Artikels offiziell verlauten läßt, von Verstimmung könne überhaupt keine Rede sein. Aber Védrine glaubt, die Botschaft sei in Bonn sicherlich angekommen, denn diese Art der indirekten Kommunikation entspricht französischem Verhalten oder gar französischem Stil; Stil deshalb, weil der deutsche Kanzler zwar gerügt wird, aber so, daß sein Gesicht gewahrt bleibt.

In der Hauptstadt eines Landes, das zentral regiert wird, fällt es den Politikern leicht, die Presse für ihre Zwecke einzusetzen, wenn, wie in Paris, die Redaktionen aller nationalen Presseorgane an einem Ort sitzen, wo sich auch die privaten und öffentlichen Radio- und Fernsehanstalten niedergelassen haben. In Paris wie in Washington, Bonn oder anderswo treffen sich Politiker und deren Berater häufig mit den Journalisten, wodurch in vielen Fällen eine Kumpanei entsteht. Während in Bonn oder Washington Korrespondenten zwar häufig sehr engen Umgang mit Politikern pflegen, befinden sich in Deutschland oder den USA die meisten Hauptredaktionen doch in anderen Städten, so daß eine Korrektur stattfinden kann. Nicht so in Paris, wo die Kumpanei alle umfaßt, so daß große Teile der französischen Medienwelt von den Politikern wirkungsvoller als anderswo eingesetzt werden können. Die Benutzung der Presse erlaubt es den französischen Politikern, öffentlich anders zu sprechen, als es dann aus den Pariser Medien herausschallt. Während der Politiker sich bedächtig gibt, übernimmt die Presse die Rolle des aggressiven Kritikers, denn ihre Informationen erhält sie aus den nicht-öffentlichen Gesprächen mit den Politikern, die aber nicht zitiert werden. So hatte die politische Entwicklung, die zur deutschen Einheit führte, eine unterschiedliche Resonanz in Regierung einerseits und Presse andererseits. Hinzu gesellte sich aber noch ein drittes Echo, eine von Politik und Medien weitgehend nicht berücksichtigte Ebene: das französische Volk.

Der Eiserne Vorhang war zuerst am 2. Mai 1989 zwischen Ungarn und Österreich zerschnitten worden. Als am 11. September Ungarn seine Grenzen nach Österreich für die unzähligen DDR-Flüchtlinge öffnete und die meist jungen Ostdeutschen die Grenze passierten und in die Bundesrepublik fuhren, wo sie begeistert empfangen wurden, sendeten und schrieben die französischen Medien Jubelberichte über den Sieg der Freiheit. Schließlich ist die Freiheit ein Wert, zu dem die Franzosen eine sehr viel stärkere, auch emotionalere Beziehung haben als die Deutschen. Deshalb feierten sie den Sieg der Freiheit, als Ende September und Anfang Oktober die Züge mit den Botschaftsflüchtlingen aus Prag und Warschau in die Bundesrepublik fahren durften, als seien es ihre eigenen Brüder und Schwestern. Uns als Deutschen in Paris gratulierten damals der Metzger, der Bäcker, die Zeitungsfrau, der Käsehändler. Und sie, die Franzosen, sprachen wie schon so häufig von der deutschen "Wiedervereinigung", was sich Deutsche noch nicht trauten. Eine französische Mitarbeiterin, die sich im Urlaub befand, rief im Studio an und gratulierte, was wiederum die deutschen Mitarbeiter erstaunte, aber auch rührte.

Beim französischen Volk blieb die Zustimmung zur Wiedervereinigung jene zwölf, dreizehn Monate über bestehen, die bis zur tatsächlichen deutschen Einheit noch vergingen. Natürlich erzählte der Metzger nach einem Wochenende auf dem Land bei seiner Mutter, die Leute fragten sich dort schon, ob Deutschland nicht noch stärker würde, zu stark vielleicht, aber die Zweifel wurden von der Zustimmung überdeckt, und er fügte hinzu, schließlich seien die Deutschen fleißige, ordentliche Leute und hätten ihren Erfolg verdient. Nicht nur die immer wieder veröffentlichten Umfragen bestätigten die weitgehend positive Stimmung, sondern auch das Verhalten. Als die Mauer fiel, fuhren Tausende von jungen Franzosen (aber auch Erwachsene, Politiker, Leute aus der Kulturlandschaft) spontan nach Berlin, denn in diesem politischen Ereignis sahen sie ihr Fest der Freiheit, ein Fest, das nicht mit der Frage nach der Nationalität verquickt war, für sie war es wieder kein rein deutsches Ereignis, sondern - wie die Französische Revolution - ein europäisches: also auch ihres. Und als dann ein Jahr später am 3. Oktober die Einheit vollzogen wurde, schickten Franzosen in das Studio des Deutschen Fernsehens Blumen, französische Freunde in Lyon und anderswo griffen zum Telephon und übermittelten ihre Freude und Glückwünsche. Sicher äußerten sich auch Besorgte, doch sie blieben, wie die Umfragen belegten, in der Minderzahl.

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