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'Diplomatische Aktivitäten'
 
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Diplomatische Aktivitäten

In diesen Monaten reist Helmut Kohl viel, häufig auch nach Frankreich. Am 17. Januar erklärt er vor dem Institut Français des Relations Internationales: "Wir Deutschen wollen diesen Weg vor allem auch zusammen mit Frankreich gehen." Er bekräftigt seine Haltung zu Europa und umgeht auch nicht den "elften Punkt", die Grenzfrage: "Die Deutschen wollen eine dauerhafte Aussöhnung mit ihren polnischen Nachbarn, und dazu gehört auch, daß die Polen die Gewißheit haben müssen, in sicheren Grenzen zu leben... Niemand will daher die Frage der Einheit der Nation verbinden mit der Verschiebung bestehender Grenzen - Grenzen, die in einem künftigen Europa der Freiheit an Bedeutung verlieren werden. Und Kohl unterstützt jetzt auch Mitterrands "europäische Konföderation".

Aber auch diese Äußerung zur polnischen Westgrenze ist den Franzosen zu unpräzise. Am 20. Januar findet in Paris der regelmäßige franko-britische Gipfel statt, und Franzosen und Briten tasten sich gegenseitig ab, ob der andere Gesprächspartner jetzt, da der deutsche Bundeskanzler Schwierigkeiten durch seine Alleingänge bereitet, zu einer engeren Zusammenarbeit zu haben wäre. François Mitterrand stellt schnell fest, daß Margaret Thatcher in Fragen Westgrenze Polens und NATO-Anbindung Deutschlands die gleichen Ansichten hat. Später werden Franzosen und Briten sich im Zwei-plus-Vier-Prozeß genau absprechen, und hohe sowjetische Diplomaten lassen verlauten (27), sowohl der französische Staatspräsident als auch die britische Premierministerin hätten seit Jahresbeginn wiederholt versucht, die Sowjetunion dazu zu bringen, sich offen gegen die deutsche Vereinigung auszusprechen. Der Kreml hatte aber die Einheit Deutschlands im Prinzip anerkannt und wollte nicht als Bremser erscheinen. Trotz Gorbatschows Haltung, so die Sowjetdiplomaten, bedrängten die Franzosen und Briten die Sowjets bei jeder Gelegenheit. 

"Wir sind ein Volk", wird zum Schlagwort in der DDR. Das Volk überholt immer wieder die Vorstellungen der Politiker nicht nur im eigenen Lande. Am 22. Januar demonstrieren über zweihunderttausend Menschen in Leipzig und anderen Städten der DDR für eine "Wiedervereinigung beider deutscher Staaten". Am 28. Januar einigt sich Hans Modrow mit dem Runden Tisch, die DDR-Volkskammerwahlen auf den 18. März vorzuziehen, und am 30. Januar gibt Michail Gorbatschow dem ihn besuchenden Hans Modrow die grundsätzliche Zustimmung zu einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten. 

Der Besuch Kohls am 10. Februar in Moskau läßt in Frankreich erneut das Gefühl aufkommen, als spiele Bonn auf der sowjetisch-amerikanisch-deutschen Achse und vernachlässige die europäische, sprich französische Komponente. Und wieder kommt es zu einem deutsch-deutschen Alleingang, der in Paris das Gefühl zusätzlich verstärkt, Bonn wolle im Einheitsprozeß nicht informieren oder gar konsultieren. Am 13. Februar vereinbaren Modrow und Kohl in Bonn die Bildung einer Expertenkommission zur Vorbereitung der Währungsunion. 

Ein genialer Einfall des deutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher führt dazu, daß sich in den folgenden Wochen die außenpolitischen Aufgeregtheiten legen. Genscher war in den letzten Monaten häufig mit Roland Dumas, aber auch mit François Mitterrand zusammengetroffen und hatte dort immer ein offenes Ohr gefunden. Er vertrat gegenüber der Oder-Neiße-Grenze in Deutschland öffentlich eine andere Meinung als Kohl; ihm vertraute Paris. 

Roland Dumas war in einem Interview mit "Le Figaro" am 9. Februar von seiner Position, die Selbstbestimmung sei kein absolutes, sondern ein mit Bedingungen versehenes Recht der Deutschen (eine Meinung, die er am 13. Dezember in der Nationalversammlung vertreten hatte), abgerückt: "Die Dinge entwickeln sich so schnell, daß die Wiedervereinigung heute vor der Tür steht. Frankreich hat daran erinnert, daß die Wiedervereinigung des deutschen Volkes ein Recht ist... ein unantastbares Recht. Ich stelle keine Vorbedingungen. Ich sage: die Wiedervereinigung wird kommen." 

Genschers genialer Einfall führte zur Lösung der internationalen Probleme, die mit dem Streben nach Einheit entstanden. Über Weihnachten war ihm die Idee gekommen, die DDR könne sich der Bundesrepublik anschließen, werde damit Teil der NATO, doch die sowjetischen Truppen dürften dort noch einige Jahre stationiert bleiben, und den NATO-Truppen (außer der Bundeswehr) wäre es solange untersagt, dort Platz zu nehmen. Für den 13. Februar hatten die Außenminister der NATO die Kollegen des Warschauer Paktes nach Ottawa eingeladen. (28) Genscher gelang es, dort seinen Vorschlag absegnen zu lassen, wonach die vier Alliierten - also USA, Sowjetunion, Frankreich, Großbritannien - mit den beiden deutschen Staaten die äußeren ("friedlichen") Bedingungen der deutschen Vereinigung aushandelten: Die "Zwei-plus-Vier-Gespräche" sollten erst nach der DDR-Volkskammerwahl vom 18. März beginnen, damit Ostdeutschland dann mit einem Außenminister aus einer frei gewählten Regierung vertreten sein würde. 

Noch ist zu dieser Zeit nicht klar, welches die Position der DDR in einem vereinten Deutschland sein könnte, denn noch geht niemand davon aus, daß Gorbatschow dieses Gebiet aus dem Warschauer Pakt entlassen würde. Um zu verhindern, daß in der Bundesrepublik der Gedanke Fuß faßt, man könne Moskau entgegenkommen, spricht sich François Mitterrand in einem Interview für französische Regionalzeitungen am 14. Februar 1990 noch einmal gegen eine Neutralisierung Deutschlands aus, aber auch gegen eine Ausdehnung des NATO-Gebietes auf das Gebiet der DDR. 

Wieder fliegt Helmut Kohl zu einem kurzen Arbeitsessen im Élysée nach Paris. Doch auch an diesem 15. Februar kommen sich Kohl und Mitterrand nicht näher. Als sie sich im Anschluß an ihre Aussprache kurz der Presse stellen, sieht man beiden in Körperhaltung und Gesichtsausdruck die Verärgerung an. Sie nehmen so vor den Mikrophonen Aufstellung, daß jeder dem anderen fast den Rücken zudreht. Kohls joviale Art ist einem verkniffenen Gesichtsausdruck gewichen, Mitterrand wirkt noch blasser und spröder als gewöhnlich. Wieder hatte Mitterrand die Vorverlegung der EG-Regierungskonferenz gefordert, wieder hatte Kohl sie abgelehnt; wieder hatte Mitterrand die rechtlich bindende Bestätigung der Oder-Neiße-Grenze vor der Vereinigung verlangt, wieder sagte Kohl, dies sei Sache eines gesamtdeutschen Parlaments und einer gesamtdeutschen Regierung nach der Vereinigung. 

In den nächsten Tagen wird es in den Stuben der Berater von François Mitterrand im Élysée summen, und allen, die es hören wollen, wird mitgeteilt, daß die einst so gute persönliche Beziehung zwischen dem französischen Staatspräsidenten und dem deutschen Bundeskanzler endgültig zerbrochen sei. Helmut Kohl konsultiere nicht, informiere noch nicht einmal rechtzeitig, er versuche höchstens, hinterher zu "erläutern"; das aber reiche nicht aus. 

In der französischen Presse spricht man im Februar 1990 von dem monetären "Anschluß" der DDR (29) an die Bundesrepublik und benutzt dabei bewußt dasselbe Wort wie für den Anschluß Österreichs an das Dritte Reich, der von Hitler 1938 unter Androhung von Waffengewalt erzwungen worden war. Selbst der ehemalige Premierminister de Gaulles, Michel Debré, scheut nicht vor dem Satz zurück: "Es ist ein halbes Jahrhundert her, da annektierte Hitler im Namen der deutschen Nation Österreich. Die Republik Frankreich war abwesend wegen des Versäumnisses der Regierung. Seit drei Monaten beobachten wir die schnelle Vereinigung der beiden deutschen Staaten; die Antwort Frankreichs ist nicht Abwesenheit, sondern Schweigen... Ich sage, die Zukunft Frankreichs hängt von Frankreich allein ab, und gegenüber dem Entstehen eines neuen Deutschland, dessen Macht nur hegemonial sein kann, gibt es keine andere Lösung als ein sehr starkes Frankreich." (30) 

Kohl, so las man (30a), führe die Wiedervereinigung wie einen "Blitzkrieg" - auch dieses Wort in Deutsch als Erinnerung an den "Blitzkrieg" Hitlers; darüber die Überschrift, die ironisch ausnutzt, daß das französische Wort grosse, das dick bedeutet, gleich klingt wie das deutsche groß: "La grosse Allemagne" kann man als das dicke Deutschland verstehen oder als Groß-Deutschland. All das steht über einem ganzseitigen Photo eines bestgelaunten, dicken Helmut Kohl, der sich genüßlich den Mund mit einem Taschentuch abwischt. Oder aber es wird auf einer Schautafel gegenübergestellt, wie sehr eine Armee des vereinten Deutschland Frankreichs Wehr überragen würde, indem Volksarmee und Bundeswehr einfach zusammengezählt werden. über achttausend deutsche Panzer gegen nur eintausenddreihundert französische, etc ... 

Dennoch hat sich die Meinung des Volkes laut Umfragen nur wenig verändert. Für eine Wiedervereinigung sprechen sich 58 Prozent der befragten Franzosen aus, 28 Prozent ziehen den Erhalt beider deutscher Staaten vor, 14 Prozent haben keine Meinung. 58 Prozent glauben, das wiedervereinte Deutschland werde sich leicht in die Europäische Gemeinschaft eingliedern, 30 Prozent fürchten allerdings, Deutschland werde "wie in der Vergangenheit" versuchen, Europa zu beherrschen. 

Um internationalen Druck auf den Bundeskanzler zu machen, lud der französische Staatspräsident den polnischen Präsidenten Jaruzelski und Ministerpräsident Mazowiecki für den 9. März nach Paris ein und sicherte ihnen öffentlich zu, Polens Grenzen müßten vor der deutschen Einigung international garantiert werden, und Polen habe ein Recht darauf, an den Zwei-plus-Vier-Gesprächen teilzunehmen, wenn das Thema der Grenzen behandelt werde, obwohl in Ottawa beschlossen worden war, keine weiteren Länder zu den Zwei-plus-Vier-Treffen zuzulassen. (Italien hatte sich gemeldet; als es abgewiesen wurde, schlug Außenminister Gianni de Michelis vor, die EG und der NATO-Rat sollten konsultiert werden.) Und dieses sagte François Mitterrand, obwohl der Bundestag am 8. März, nur einen Tag vor dem polnischen Besuch - aber eben doch noch rechtzeitig vor der Ankunft von Jaruzelski und Mazowiecki in Paris -, die Unantastbarkeit der deutsch-polnischen Grenze für heute und in Zukunft mit fast all seinen Stimmen beschlossen hatte, weswegen die Grenzfrage etwa für die USA kein Thema mehr war. 

François Mitterrand schreckte nicht einmal zurück, Kohl in Gegenwart von Jaruzelski und Mazowiecki öffentlich bloßzustellen. Er erklärte: "Ich habe Kohl dauernd freundschaftlich gesagt, ich hielte es für eine unabdingbare Voraussetzung, daß er die Oder-Neiße-Linie klar und offen als unantastbar bezeichnet. Die Erklärung des Bundestages ist deshalb unzulänglich." 

Und Mitterrand verkündete schließlich, er habe mit Kohl verabredet, über das Treffen mit den Polen am folgenden Samstag, spätestens aber am Montag zu telephonieren. Zwar griffen beide zu dieser Zeit fast wöchentlich zum Hörer, um miteinander zu konferieren, doch weder am Samstag noch am Montag klingelte es bei Mitterrand. Und wie eine enttäuschte Geliebte handelnd, ließ er die Presse wieder über einen seiner Berater informieren. Diesmal erfuhr die Zeitung "Le Monde" am Dienstag direkt aus dem Élysée, Kohl habe bisher nicht angerufen. Irgendjemand in Bonn muß das Blatt dann gelesen haben, denn am Mittwoch vormittag läutete der Bundeskanzler durch. 

Am Abend zuvor hatte Hans-Dietrich Genscher nach einem halbstündigen Telephonat mit Roland Dumas beschlossen, kurz nach Paris zu fliegen und dort das Gespräch, das beide Ämter geheimhielten, fortzusetzen. Genscher teilte Dumas mit, er habe Kohl davon überzeugen können, daß Bonn eine Teilnahme des polnischen Außenministers an der Sitzung der Zwei-plus-Vier-Gespräche akzeptieren müsse, bei der die Frage der Oder-Neiße-Grenze behandelt würde; Genscher mußte sich aber von Dumas sagen lassen, daß Mitterrand der Begriff Zwei-plus-Vier nicht behage, es müsse Vier-plus-Zwei heißen, um nicht den Eindruck zu erwecken, die Deutschen beanspruchten einen gewissen Vorrang. Wer in diesen Monaten mit dem Quai d'Orsay telephonierte und von Zwei-plus-Vier sprach, der wurde selbst von Sekretärinnen auf die "richtige" Reihenfolge hingewiesen.

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Anmerkungen

(27) U.S. News & World Report, 30.4.1990, S. 21.

(28) Siehe: Elisabeth Pond: Die Entstehung von "Zwei plus Vier", in: Europa-Archiv 2/92, S. 619 ff.

(29) Le Point, 19.2.1990, S. 65.

(30) Michel Debré, in: Le Figaro, 19.2.1990

(30a) Le Point, 11.3.1990 [Diese Fußnote wurde durch das Deuframat-Team hinzugefügt].

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