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'Die Intellektuellen und der Krieg'
 
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Die Intellektuellen und der Krieg

Der Erste Krieg wurde nicht ausschließlich mit Truppen und mit Waffensystemen geführt. Es war, wie Zeitgenossen sagten, auch ein "Krieg der Geister", an dem sich auf beiden Seiten die führenden Intellektuellen mit zahlreichen Gedichten, Reden, (Zeitungs-)Artikeln, Flugblättern, Manifesten usw. beteiligten.

Am berühmtesten und bis heute unvergessen geblieben ist der Aufruf "An die Kulturwelt [1] !", den 93 prominente deutsche Intellektuelle unterschrieben haben und der am 4. Oktober 1914 veröffentlicht wurde. Mit einem sechsfachen "Es ist nicht wahr" wollten sie laut ihre Stimme erheben und "gegen die Lügen und Verleumdungen, mit denen unsere Feinde Deutschlands reine Sache in dem ihm aufgezwungenen schweren Daseinskampfe zu beschmutzen trachten", protestieren. Der Aufruf ist vor allem im Ausland als Ausdruck deutscher Dünkelhaftigkeit und Überheblichkeit betrachtet worden. Es gab eine Reihe weiterer ähnlicher Aufrufe, die aber bei weitem nicht dieselbe (verheerende) Wirkung gehabt haben. (1) Allerdings, und das sollte bei einer entsprechenden Auswahl solcher Texte nicht unterschlagen werden, gab es auch einige öffentliche Erklärungen deutscher Intellektueller, die frei waren von jeder Form von Chauvinismus. (2)

Französische Postkarte gegen den Aufruf "An die Kulturwelt!"

 

 

Quelle: Magnus Hirschfeld (Hrsg.): Sittengeschichte des Weltkriegs, Bd.1, Leipzig/Wien 1930; zitiert nach von Ungern-Sternberg a.a.O., S.150.

Chauvinismus und Ausländerhaß waren aber keine Eigenart, die nur unter Intellektuellen anzutreffen gewesen wäre. Auch in kleinbürgerlichen Kreisen war diese Gesinnung weit verbreitet. Vor allem zu Beginn des Krieges gibt es zahlreiche Belege dafür, dass schulische und außerschulische Erziehungsprozesse der Vorkriegszeit, ferner die lautstarke öffentliche Propagierung eigener kultureller Überlegenheit in allen Kreisen der Bevölkerung Früchte getragen haben: Niederschlag fand diese Gesinnung etwa in Leserzuschriften an Zeitungen [2] , in chauvinistischen Gedichten (man denke nur an den weitverbreiteten „Haßgesang gegen England" von Ernst Lissauer), in der Agitation gegen Fremdwörtergebrauch [3] und gegen französische Mode [4] usw.

Auch in Frankreich haben sich zahlreiche Intellektuelle und Künstler in Reden und Schriften in den "Dienst des Vaterlandes [5] " gestellt. (3) Zwischen manchen deutschen und französischen Intellektuellen kam es während des Krieges gar zu einem öffentlich ausgetragenen Meinungsaustausch. Romain Rolland und Gerhart Hauptmann; Leo Sternberg an Romain Rolland über die Zerstörung der Bibliothek zu Löwen/Louvain 1914. (4)

Zeitungsbericht über Verdeutschungen auf dem Gebiet der Mode

Der Tod des Fremdworts.
Die Berliner Handelskammer war dieser Tage die Stätte erregter Kämpfe. Eine durch das Modeamt des Vereins Deutsche Mode einberufene Sitzung befaßte sich mit dem Ersatz fremdsprachlicher Bezeichnungen in der deutschen Herrenmode. Gewichtige Vereinigungen beteiligten sich an dieser Arbeit, u.a. die Arbeitsgemeinschaft für deutsche Herrenmode, der Allgemeine deutsche Sprachverein, die Handelskammer, der Verband Berliner Spezialgeschäfte. Eine Anzahl von Sprachgelehrten unterrichtete die Versammlung über die Herkunft und Bedeutung der einzelnen Namen. Bekannte Schriftsteller [...] gaben wertvolle Erläuterungen für die neu zu wählenden Worte. Nach langstündigen Beratungen wurden aus einer Sammlung von mehreren Hundert vorgeschlagenen Bezeichnungen folgende endgültigen Namen festgesetzt:

Cutaway  Rock
Sacco  - Jacke
Smoking -  Abendjacke
Raglan - Keilmantel
Ulster - Mantel (Reise-, Sport-, Regenmantel)
Paletot - Ueberzieher
Knickerbocker - Sporthose
Breeches - Reithose
Escarpins - Kniehose
Covertcoat - Sportüberzieher
Revers - Klappen
Sweater - Sportwams
Norfolk - Faltenjacke
[...]

 
Aus: Hannoverscher Kurier Nr. 31852 v. 27. 6. 1915
 

Nicht alle empfanden die Verdeutschungen als gelungen

Verdeutschungsvorschläge für das Bühnenwesen
[...] Für Abonnent soll man zukünftig sagen: Platzmiete, für Ballett: Bühnentanz oder Reigen, für Bonvivant: Lebemann, für Couplet: Bänkel, für Epilog: Nachspruch (Prolog: Vorspruch), für Foyer: Wandelhalle, Erfrischungsraum etc., für Improvisation: Stegreifspiel, für Intrigant: Charakterspieler, für Kassierer: Kassenwart, für Loge: Laube, für Naive: muntere Liebhaberin, für Parkett: Saal, für Portier: Türhüter, Hauswart, Pförtner, für Programm: Spielfolge, für Soffitte: Hänger, für Soubrette: muntere Sängerin, für Souffleur. Einhelfer usw. [...] Wird das eine schöne Sprache sein, wenn erst alles «verdeutscht» ist. Man möchte sich schütteln davor, so angenehm ist sie.

Quelle: Der Kölschen Boor, Nr.5/1916, S.10.

Quelle: Hannoverscher Kurier Nr. 31904 vom 25.7.1915

Auszüge aus Emile Durkheim: "Deutschland über alles". Die deutsche Gesinnung und der Krieg, Paris 1915

Die Schrift des französischen Philosophen und Soziologen Emile Durkheim ist aus Propagandagründen gleichzeitig auf deutsch und auf französisch erschienen. Bei der Lektüre dieses Textes muß man wissen, dass Durkheim in den Augen vieler rechter Intellektueller Frankreichs als Begründer einer von Deutschland beeinflußten Wissenschaft, der Soziologie, galt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts habe er darüber hinaus wesentlich zur Reform der Sorbonne beigetragen, wobei diese Reform in den Augen der Kritiker Durkheims mit allem zu brechen schien, was traditionell die Stärke der "civilisation" ausmachte. Statt dessen propagierte er, ein entschiedener Dreyfusanhänger, mit republikanischem Pathos Pazifismus und Antiklerikalismus und war ein militanter Vertreter in der Ligue des droits de l'homme. Vor diesem Hintergrund und den beträchtlichen Anfeindungen, denen er wegen seiner offenen Berufung (auch) auf deutsche Wissenschaftstraditionen ausgesetzt war, wird Durkheims Schrift vielleicht begreiflich, ohne dass dadurch dieses Beispiel für moralisch-ideologische Mobilmachung entschuldigt werden soll.

Durkheim legte seiner Schrift "Deutschland über alles" Heinrich von Treitschkes Werk "Politik" zugrunde (Leipzig 2. Aufl. 1899). Dieses analysierte er als ein repräsentatives Beispiel deutschen Obrigkeitsdenkens und des deutschen Militarismus, ohne deutlich zu machen, dass vergleichbare Ideen wie jene Treitschkes in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg auch in Frankreich große Verbreitung gefunden hatten.

Das Verhalten Deutschlands während des Kriegs ist auf eine bestimmte Gesinnung zurückzuführen. Der Hauptgegenstand der in dieser Sammlung veröffentlichten Abhandlungen besteht darin, von Deutschland das Bild zu entwerfen, welches uns der Krieg enthüllt hat. Wir haben bereits von seiner Angriffslust, von seinem Willen zum Krieg, von seiner Missachtung des internationalen und des Völkerrechts, von seiner systematischen Unmenschlichkeit, von seinen ordnungsmässig grausamen Handlungen gesprochen. Doch, wie verschieden auch tatsächlich diese vielfachen Kundgebungen der deutschen Volksseele sein mögen, alle sind derselben Grundstimmung untergeordnet, die ihnen einen einheitlichen Charakter verleiht. Es sind einfach verschiedenartigen Ausdrucksformen einer und derselben Gesinnung, die wir, in vorliegender Arbeit, erfassen und näher bestimmen möchten.

Diese Untersuchung ist um so notwendiger als sie allein uns erlaubt, eine Frage zu beantworte, welche sich im Auslande gewisse tüchtige Menschen noch stellen. Die angehäuften Beweise, welche dartun, was aus Deutschland geworden ist und daher die gegen dieses Land erhobenen Anklagen rechtfertigen, haben, sogar in den Kreisen, die am günstigsten für Deutschland gestimmt waren, einen unbestreitbaren Umschwung veranlasst. Indessen wird uns häufig eine Einwendung gemacht, unter deren Schutze gewisse eingewurzelte Sympathien sich zu behaupten suchen. Wie überzeugend auch die von uns angeführten Tatsachen sein mögen, man verwirft sie unter dem Vorwande, sie seien a priori unwahrscheinlich. Es sei nicht anzunehmen, dass Deutschland, welches, gestern noch, der grossen Familie der Kulturvölker angehörte und sogar eine ganz hervorragende Rolle unter ihnen spielte, die Prinzipien der menschlichen Kultur derart hätte verleugnen können. Es sei unmöglich, dass jene Männer, mit welchen wir verkehrten, welche wir achteten, welche, im Grunde genommen, derselben sittlichen Gemeinschaft angehörten als wir, zu jenen barbarischen, angriffslustigen, skrupellosen Wesen hätten werden können, welche als ein Gegenstand des allgemeinen Abscheus gestempelt würden. Man glaubt, dass wir, durch unsere Leidenschaft als Kriegspartei irre geleitet, nicht imstande sind, die Dinge in ihrer wirklichen Gestalt zu sehen.

Aber die Handlungen, welche uns ausser Fassung bringen und die man deshalb einfach leugnen möchte, sind eben auf jenen Complex von Begriffen und Gefühlen zurückzuführen, den wir hier studieren wollen: sie leiten sich aus ihm ab wie ein Schluss aus seinen Vordersätzen. Es ist ein ganzes geistiges und ethisches System, das, hauptsächlich im Hinblick auf den Krieg aufgestellt, im Frieden im Hintergrunde des Bewusstseins ruhte. Dass ein solches System existierte, wusste man und dass es in gewissen Beziehungen gefährlich sei, ahnte man wohl; aber die Ausdehnung seines Einflusses konnte nur im Kriege nach der Ausdehnung seines Wirkungskreises geschätzt werden. Dieses System fasst die berühmte Formel zusammen, welche unserer Arbeit zur Aufschrift dient.

Aus: Emile Durkheim: Über Deutschland. Texte aus den Jahren 1887 bis 1915, hrsg. v. Franz Schultheis und Andreas Gipper, Konstanz 1995, S. 246f. (=vollständiger Text der Einleitung).

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Anmerkungen

  1. Aufrufe und Reden deutscher Professoren im Ersten Weltkrieg, hrsg. v. Klaus Böhme, Stuttgart: Reclam 1975; Kurt Flasch: Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg, Berlin 2000.
  2. Zum Beispiel: "Aufruf an die Europäer" von Georg Friedrich Nicolai (Prof. für Medizin), Albert Einstein (Prof. für Physik), Wilhelm Foerster (Prof. für Astronomie), Otto Buek (Privatgelehrter), dem aber nur wenig Resonanz zuteil wurde; der Text des Aufrufs ist abgedruckt bei F. G. Nicolai: Die Biologie des Krieges. Betrachtungen eines Naturforschers den Deutschen zur Besinnung, Zürich 1919, S. 12ff.; zu Nicolai: Irena Winter: Georg Friedrich Nicolai, ein Kämpfer gegen den Krieg, in: Forschen und Wirken. Festschrift zur 150-Jahr-Feier der Humboldt-Universität zu Berlin 1910-1960, Bd. 1, Berlin 1960, S. 453-469.
  3. Christophe Prochasson/Anne Rasmussen: Au nom de la patrie. Les intellectuels et la première guerre mondiale (1910-1919), Paris 1996; Philippe Soulez (Hrsg.): Les philosophes et la guerre de 14, Paris 1988. 
  4. Vgl. Pierre Sipriot: Guerre et paix autour de Romain Rolland. Le désastre de l'Europe 1914-1918, o.O.1997; Die Maske herunter! Eine Antwort auf den Offenen Brief Romain Rollands von Leo Sternberg, Stuttgart 1915; Jean-Jacques Pollet et Anne-Marie Saint-Gille: Ecritures franco-allemandes de la grande guerre, Arras 1996