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'"Régions de programme" und Dezentralisierung'
 
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"Régions de programme" und Dezentralisierung

Abbildung 30:

Was ist nun mit der Dezentralisierung, kommt sie oder kommt sie nicht? .... Ja,ja, sie kommt!

 

 

Quelle: Große & Lüger, 2000, S. 30

Der Abbau des zentralistischen Systems und damit verbunden die Dezentralisierung der politischen (und wirtschaftlichen) Entscheidungsprozesse wurde seit den 1950er Jahren immer lautstarker gefordert. Dies vor allem vor dem Hintergrund einer wirtschaftlichen Struktur, die zwischen der Hauptstadtregion und dem Rest des Landes ein sehr deutliches Ungleichgewicht erkennen ließ. Diese Forderungen konnten auf eine lange Tradition von Dezentralisationsbestrebungen aus der Gesellschaft heraus zurückgreifen, deren Ziel es war, Entscheidungs- und Ausführungskompetenzen weg von der Zentrale und in territoriale gewählte Ratsgremien der Gebietskörperschaften zu verlagern. Das waren gesellschaftspolitisch konfliktreiche Bestrebungen, die in periodischen Abständen zu leidenschaftlichen öffentlichen Debatten Anlass gaben, und mitunter für Reformschübe des Systems sorgten. Geradezu elektrisierend hatte die Analyse des Wirtschaftsexperten Jean-François Gravier 1947 gewirkt, der in einer Studie über die Wirtschaftsstrukturen des Landes die Gebiete jenseits der Stadtgrenzen von Paris als die Wüste Frankreichs (le désert français) bezeichnet hatte.

Abbildung 31:

Die heutige Verwaltungsgliederung Frankreich in Departements und Regionen

 

 

 

 

 

 

Internet-Quelle [1]  

Die jüngere Entwicklung ist weniger von diesem Gedanken als von dem Bemühen des Zentralstaates gekennzeichnet, regionale Disparitäten durch raumordnungspolitische Maßnahmen abzubauen. Zur Erreichung dieses Ziels begann Frankreich unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Erstellung von Mehrjahresplänen [2] , um die Wirtschaft global und zentral zu lenken [3] . Im Ersten Plan [4]  (1947-1953) standen dabei Maßnahmen zum Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg im Vordergrund. Im Verlauf der weiteren Pläne haben sich dann deutliche Schwerpunktverlagerungen ergeben, bei denen der Dezentralisierungsgedanke einen immer größeren Stellenwert einnahm. Dabei ist zu betonen, dass die Pläne stets nur einen Orientierungsrahmen, nie aber ein (sozialistischen Wirtschaftsplänen eigenes) rigides Konzept mit verbindlichen Zielvorgaben darstellten. Gleichwohl war es dem Staat durch die Subventions- und Kreditpolitik möglich, im Sinne der Zielvorgaben auch auf den privatwirtschaftlichen Bereich einzuwirken (Menyesch & Uterwedde 1982, S. 58). 

Ein Mangel der Pläne bestand darin, dass sie, beeinflusst durch wechselnde politische Grundauffassungen und parlamentarische Mehrheitsverhältnisse, immer wieder neue Schwerpunkte setzten, so dass von einer Kontinuität der Planung nicht die Rede sein kann. Der regionalen Wirtschaftsförderung war z.B. das Hauptaugenmerk des 5. und 7. Plans (1966-70 und 1976-80) gewidmet, während im 6. Plan (1971-75) sektorale Gesichtspunkte, insbesondere die Förderung der Industrie, im Vordergrund standen. Speziell für die Förderung und Koordination der Regionalentwicklung wurden die Interministerielle Kommission für Raumordnungsfragen (CIAT = Comité Interministeriel de l'Aménagement du Territoire, 1960, heute CIADT [5]  Comité interministériel de l'aménagement et du développement du territoire) und die direkt dem Premierminister unterstehende DATAR [6]  (Délégation à l'Aménagement du Territoire et à l'Action Régionale, 1963) gegründet. 

Abbildung 32:

Die Programmregionen Frankreichs

 

 

 

 

 

 

Internet-Quelle

Zu den bedeutendsten Maßnahmen hinsichtlich der territorialen Neuordnung [7] zählte die bereits in den 1950 Jahren durchgeführte Einrichtung sog. Programmregionen (régions de programme), auch wenn deren Status zunächst noch weitgehend unklar blieb. Insbesondere fehlten den 1955 eingerichteten 21 (seit 1971 22) Regionen eigene Organe und Kompetenzen. In der Regel fassten sie mehrere Departements zusammen, wobei die Einteilung ohne Konsultation der Bevölkerung und unter Missachtung zahlreicher historischer und kultureller Bindungen von der Pariser Zentralbürokratie festgesetzt wurde. 1964 erfolgte dann eine gewisse institutionelle Festigung der Programmregionen durch die Ernennung von Regionalpräfekten (préfets de région), sowie mit der Einrichtung sog. Commission de Développement Economique Régional (CODER). Aber auch der Regionalpräfekt war zunächst nichts anderes als ein verlängerter Arm von Paris, zumal er häufig gleichzeitig auch Präfekt eines Departements der Region war, die er zu vertreten hatte. Seine Hauptaufgabe bestand lediglich darin, die Regierungsbeschlüsse für die Region durchzuführen und die Realisierung mit den übrigen Präfekten zu koordinieren. Auch die CODERs hatten lediglich beratende Funktion.

Die Grundidee der Einrichtung der Programmregionen lag darin, regionale Wirtschaftsimpulse auszulösen. Folgerichtig setzten Mitte der 50er Jahre die ersten Maßnahmen der Wirtschaftsförderung ein. Sie bestanden in Förderanreizen für die Ansiedlung von Industrieunternehmen in der Provinz, während für die Ile-de-France Niederlassungsbeschränkungen verfügt wurden. Auch in den Förderprogrammen ist aber in der Folgezeit keine Kontinuität festzustellen, wobei ein Grundproblem bereits darin bestand, dass eine Definition des Begriffes décentralisation nie konkretisiert worden ist. Brücher (1992, S. 142) hat sich, unter Auswertung zahlreicher Quellen, diesem Problem zugewandt und kommt zu folgendem Ergebnis: "Man versteht offiziell unter einer Operation industrieller 'Dezentralisierung' (décentralisation) die Verlagerung der Gesamtheit oder von Teilbereichen eines Industrieunternehmens aus der Region Ile-de-France, das dort mit mindestens einem Produktionsbetrieb vertreten ist; Teilbereiche sind Hauptverwaltung, nichtproduktive Dienste sowie Produktionsstätten und -betriebe. Um eine 'dezentralisierte Erweiterung' (extension décentralisée) handelt es sich, wenn ein in der Ile-de-France produzierendes Unternehmen außerhalb einen Betrieb gründet oder erweitert, ohne jedoch eine Verlagerung vorzunehmen. Es sollten nur die wirklich paris-ständigen, also dort auch produzierenden Unternehmen erfaßt werden; reine Zweigwerksgründungen (créations décentralisées) durch die zahlreichen, in Paris nur mit einer (Haupt-)Verwaltung vertretenen Unternehmen fallen nicht unter die Bezeichnung décentralisation."

Abbildung 33:

Die Ergebnisse der industriellen Dezentralisierung in Frankreich 1951 bis 1980

 

 

 

 

 


 Quelle: Verändert nach Brücher (1992) in Pletsch, 2003, S. 247

Es mag an diesem Problem einer wenig konkreten Zielvorgabe gelegen haben, dass die industrielle Dezentralisierung bis zur Übernahme der Präsidentschaft durch François Mitterrand 1981 keine überzeugenden Ergebnisse erbrachte. Im Zeitraum 1951 bis 1980 wurde mit Abstand der größte Teil der dezentralisierten Betriebe in einem Radius von 300 km um die Hauptstadt angesiedelt. Dabei ist dies nur die halbe Wahrheit. Den im Rahmen von rd. 3.000 Dezentralisierungsmaßnahmen zwischen 1955 und 1975 neu geschaffenen 462.000 Arbeitsplätzen stand in der Ile-de-France ein direkt durch die Verlagerung verursachter Verlust von 162.000 Arbeitsplätzen gegenüber. Netto waren also nur 300.000 neue Arbeitsplätze entstanden. Von diesen gingen innerhalb weniger Jahre wieder viele verloren, sei es aufgrund von Rationalisierungsmaßnahmen oder aufgrund der Schließung von Betrieben, nachdem die Phase der Investitionsbeihilfen und Steuervergünstigungen abgelaufen war.

Letztlich waren all diese Ansätze wenig durchgreifend, was Staatspräsident Mitterrand nach seiner Wahl zum Staatsoberhaupt veranlasste, die Dezentralisierung [8] zur Chefsache zu erklären. Grundanliegen der bereits im Jahre 1982 erlassenen Dezentralisierungsgesetze war die Gewährung von mehr Autonomie für die lokalen Gebietskörperschaften und die Förderung direkter Zugangsmöglichkeiten für die Bürgerbeteiligung am politischen Leben. Die wohl wichtigsten Neuerungen der seit 1982 unter G. Defferre (dem damaligen Ministre de la Décentralisation) erlassenen Gesetze waren:

  • Die Umwandlung der Programmregionen in autonome Gebietskörperschaften mit einem direkt zu wählenden Regionalrat (conseil régional) und einem ebenfalls frei gewählten Präsidenten
  • Der Wegfall der tutelle administrative, also der von der Zentralgewalt ausgeübten Verwaltungskontrolle.

Über Erfolg oder Misserfolg der Dezentralisierungsgesetze gehen die Meinungen bis heute auseinander. Den einen gehen sie zu weit, anderen nicht weit genug. Bezeichnend ist, dass 1994 unter der Regierung Balladur ein Gesetzentwurf zur Raumordnung eingebracht wurde, in dem die territoriale Entwicklung wieder zurückgeschraubt werden sollte, um die Rolle des Staates erneut zu stärken, gewissen Auswüchsen der Dezentralisierung zu begegnen und den Zusammenhalt der Nation sicherzustellen (nach Große & Lüger 1996, S. 35). Andererseits wurde am 28. März 2003 die Verfassung dahingehend geändert, dass Frankreich fortan "dezentral organisiert" (Art. 1 der frz. Verfassung, neue Fassung) sein wird. In diesem Zusammenhang wurden die Regionen zu verfassungsmäßigen Gebietskörperschaften der französischen Republik (Art. 72 der frz. Verfassung, neue Fassung) erhoben.

Die seit Jahrhunderten zu beobachtende Angst, dass der Einheitsstaat durch regionale und partikulare Interessen in Gefahr geraten könnte, wurde auch hier wieder deutlich. Der Gesetzentwurf konnte aufgrund landesweiter heftiger Proteste nicht durchgesetzt werden. Dies zeigt zumindest, dass inzwischen die dezentralen Kräfte an Einfluss gewonnen haben.

Ob die Regionen allerdings tatsächlich freier in ihren Entscheidungen geworden sind, ist eher fraglich. Die staatlichen Mittel werden den Regionen bis heute nur im Rahmen von Planverträgen zugewiesen, die mit den übergeordneten nationalen Zielen in Einklang stehen müssen. Da die staatlichen Zuschüsse bis zu 60 % der Investitionssummen betragen, befinden sich die Regionen somit nach wie vor in einer engen Abhängigkeit von Zielvorgaben, die in Paris formuliert werden.

Abbildung 34:

Wie viele Regionen dürfen es denn sein? 10 große Regionen? 20 mittlere Regionen? ...
(Karikatur von PIEM)

 

 

 

 

 

Quelle: La France en Europe et dans le monde. Paris, Magnard Lycées 1ère, Géographie, S. 189

Sicher ist aber auch, dass die heutige Struktur nicht das letzte Wort sein wird. Seit die Programmregionen eingerichtet wurden, werden sie heftig und kontrovers diskutiert und kritisiert. So wurde bereits bei der Erarbeitung des V. Plans (1966-1970) eine Unterteilung in sog. grandes régions zugrunde gelegt, mit einer Zusammenfassung der régions de l'Est, der régions de l'Ouest und der région parisienne. Die Kommission für die Erstellung des VI. Plans (1971-1975) schlug eine Unterteilung in acht zones d'études et d'aménagement du territoire (ZEAT) vor: Région parisienne, Bassin parisien, Nord, Est, Ouest, Sud-Ouest, Centre-Est und Méditerranée. Seither gab es weitere Überlegungen, nicht zuletzt im Rahmen der Europäisierung mit einer Anpassung der Verwaltungsstrukturen an die Nachbarländer unter Berücksichtigung der Kriterien der Brüsseler Behörden (NUTS, vgl. Beitrag Th. Ott [9] ).

Abbildung 35:

NUTS2 Regionen der Europäischen Union im Vergleich

 

 

 

 

 

 

Internet-Quelle [10]

Die Hoffnungen auf diese Neuordnung sind hochgesteckt, insbesondere hinsichtlich der Berücksichtigung historischer und kultureller Grenzen, wie sie den Territorialstrukturen zumindest in der Frühphase der Entwicklung entsprochen haben. Interessant ist in dem Zusammenhang die legislative Definition der "pays" durch das Gesetz Loi 95-115 [11] (1995). Dies ist ganz sicher nicht ein Schritt zurück in die Raumstrukturen des keltischen Galliens, vielleicht aber der Beginn einer Neugliederung, in der die verfassungsmäßigen Gebietskörperschaften tatsächlich stärker auf historische und kulturelle Identifikationsräume Rücksicht nehmen.