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'Die doppelte Rolle des deutsch-französischen Stereotypendiskurses'
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Die doppelte Rolle des deutsch-französischen Stereotypendiskurses
Eine der wirksamsten Quellen verzerrter wechselseitiger Wahrnehmung scheint das Vorhandensein eines stereotypenbesetzten, fiktionalen Diskurses über das Nachbarland, insofern er jede Begegnung mit ihm vorstrukturiert und unvoreingenommene Erfahrungen erschwert. Das mehr oder weniger regelmäßige Auftreten bestimmter Topoi, Vorstellungsassoziationen, Erinnerungssequenzen in Literatur und Film weist daraufhin, dass das reziproke Reden über Deutschland und Frankreich als eigener Diskurs aufgefasst werden muss, d.h. als eine Redeordnung sui generis mit Gesetzmäßigkeiten und internen Traditionen. Für Literatur und Publizistik gilt diese Aussage besonders, aber wenn man das weite Gebiet der Kollektivsymbolik einbezieht, auch für viele weitere Bereiche bis hin zur Karikatur, zur Werbung und zur Sportberichterstattung.
Abbildung 11:
"Das mehr oder weniger regelmäßige Auftreten bestimmter Topoi, Vorstellungsassoziationen, Erinnerungssequenzen in Literatur und Film weist daraufhin, dass das reziproke Reden über Deutschland und Frankreich als eigener Diskurs aufgefasst werden muss, d.h. als eine Redeordnung sui generis mit Gesetzmäßigkeiten und internen Traditionen".
(Vgl. Text)
Quelle: L’Alsace - une histoire, S. 185
Da es einen Frankreich-Deutschland-Diskurs seit Jahrhunderten gibt, eine institutionell verankerte, staatliche Zusammenarbeit aber erst in den letzten Jahrzehnten, erhebt sich die Frage nach der fortdauernden Wirkmächtigkeit der traditionellen Diskursmuster. In einer 1992 verfassten Studie (18) behauptet Helmut Berschin, das Diskursrepertoire habe sich erschöpft; nach 1945 seien "keine neuen Bildelemente hinzugekommen"; mit der Normalisierung der deutsch-französischen Freundschaft sei "das Thema ausgereizt", zurückgeblieben nur "literarisches Spielmaterial". Schön und gut. Aber welche Folgerungen zieht daraus das Bundeskanzleramt, für dessen Schriftenreihe "Perspektiven und Orientierungen" Berschins Text geschrieben wurde - als "wissenschaftlicher Unterbau politischer Entscheidungsfindung", wie es heißt?
Die verantwortlichen Sachbearbeiter könnten in den letzten beiden Jahren auf eine Reihe französischer Deutschland-Bücher gestoßen sein, die sich des angeblich ausgereizten Diskursmaterials mit Hingabe bedienen? (19) Wenn sie sich in der sozialwissenschaftlichen Stereotypenforschung auskennten, wüssten sie, dass nationale Selbst- und Fremdbilder Diskursprodukte sind, d.h. politisch-intellektuelle Projektionen, die entsprechend dem Gesetz von Angebot und Nachfrage erstellt und vertrieben werden, und zwar unter Benutzung von uraltem "Spielmaterial". Zum Glück gibt es ausgewiesene französische Deutschlandkenner, die die Publikationen ihrer Kollegen analysieren, und aufklärerische Medien, die diese Rezensionen veröffentlichen (und vice versa). So besprach Daniel Vernet in Le Monde das Buch von Michel Meyer [1] "Le démon est-il allemand?" (20) und stellte dabei heraus, dass der Autor zugebe, ein "prédeterministisches" Deutschlandbild zu haben mit einer dazu passenden Geschichte, die vom "Gründungsblutbad des Arminius" im Teutoburger Wald (als "die germanischen Bruderhorden die römische Legion abschlachteten") bis zu der von Hitler befohlenen Shoah reicht, und in der stets "die Affekte über die Reflexion siegen" und "die Kultur über die Zivilisation". Meyer lässt kein Klischee aus dem Horrordiskurs der Germanophobie aus, um zu beweisen, dass "dieser Stamm von Erzbarbaren" mit den Amerikanern besser zusammenspanne als mit dem republikanischen Frankreich, weil nur ein "globales Projekt sie aus ihrer Vergangenheit und ihrer moralisch anrüchigen Kultur befreien könne."
Abbidung 13:
ARTE basiert auf einer deutsch-französischen Zusammenarbeit und hat Partnerschaften mit mehreren öffentlich-rechtlichen Sendern vereinbart: RTBF in Belgien, SRG SSR idée suisse in der Schweiz, TVE in Spanien, TVP in Polen, ORF in Österreich, YLE in Finnland, NPS in den Niederlanden, BBC in Großbritannien und SVT in Schweden.
Internet-Quelle (arte.tv)
Wer die Ingredienzien des Deutschland-Frankreich-Diskurses kennt, kann selbst die abgestandensten Klischees nutzen, um einen Dissens strategisch geschickt ins Rampenlicht der Öffentlichkeit zu rücken und daraus womöglich Gewinn zu ziehen für eine Verbesserung der bikulturellen Beziehungen. Solches Geschick setzt allerdings nicht nur eine solide Kenntnis der fremden Kultur voraus, sondern auch die Bereitschaft, die eigene kulturelle Befangenheit kritisch zu reflektieren. Um möglichst viele Bürger/-innen in den Genuss dieser doppelten Kennerschaft zu bringen, sollten die bisherigen Versuche ausgedehnt werden, die zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit zu intensivieren - etwa bei Demonstrationen für gleiche Anliegen (21) oder durch Reportagen und bilaterale Interviews, die in den Medien beider Länder zeitgleich veröffentlicht werden, um eine unmittelbare Diskussion zu entfachen. (22) Die bisherigen Anläufe zu übernationalen Zeitschriften waren nicht sehr erfolgreich, und die Bemühungen um europäische Intellektuelleninitiativen ( etwa mit dem Ziel, gegen Bürgerrechtsverletzungen zu protestieren) kamen nicht recht voran. Aber die Erfahrungen von ARTE [2] und die Kooperation deutscher und französischer Historiker/-innen bei der Debatte und Darstellung kontroverser Vergangenheiten gibt Hoffnung auf weitere, ähnliche Unternehmungen. (23) Vielleicht wird die Apathie in den deutsch-französischen Kulturbeziehungen überwunden durch einen neuen Schwung beim gemeinsamen Erarbeiten einer europäischen Verfassung.
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Anmerkungen
(18) H. Berschin, Deutschland im Spiegel der französischen Literatur, München 1992.
(19) Vgl. R. Picht, Angst vor Deutschland? Französische Bücher zur Berliner Republik, in: Frankreich-Jahrbuch 2000, S. 252 f. Neben den in dieser Besprechung genannten AutorInnen Y. Bollmann, B. Brigouleix, Ph. Delmas, P. Hughes und G. Valance vgl. auch A. Griotteray/J. de Larsan, Voyage au bout de l’Allemagne, l’Allemagne est inquiétante, Monaco 2000; B. Sauzay, Retour à Berlin, journal d’Allemagne 1997, Paris 1998, dt.: Retour à Berlin, ein deutsches Tagebuch, Berlin 1998; M. Schneider, L’ombre perdue de l’Allemagne, Le rêve impérial, Paris 1999.
(20) M. Meyer, Le démon est-il allemand?, Paris 2000, und Daniel Vernet in Le Monde, 1.Sept. 2000, S. X.
(21) Zu denken wäre an die transnationale Ausweitung von Gesprächsgruppen wie Attac, von alternativen Gewerkschaften wie die Confédération paysanne von José Bové. Vgl. Le Monde diplomatique, Politis.
(22) Als Beispiel kann 1.) eine Reportage Bernard-Henry Lévys über die Berliner Republik (Allemagne, l´année zéro?) gelten, die ungefähr zeitgleich in Le Monde und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung abgedruckt wurde. Le Monde, 6.2.1999, S. 12/13; FAZ, 17. u. 18.2.1999, S. 5o bzw. S. 45: 2.) Das Gespräch zwischen Jean-Piere Chevènement und Joschka Fischer, in: Die Zeit, Ausgabe 26/2000.
(23) Vgl. die vom Deutsch-Französischen Historiker-Komitee herausgegebenen Tagungsbände: Eliten in Frankreich und Deutschland im 19. Und 20. Jahrhundert, 2 Bde, München 1994-1996; Dritte in den deutsch-französischen Beziehungen, München 1996; Nachkriegsgesellschaften in Deutschland und Frankreich im 20. Jahrhundert, München 1998; Deutschland-Frankreich-Rußland, Begegnungen und Konfrontation, München 2000.