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'Die retardierte Industrialisierung in Frankreich?'
 
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Die retardierte Industrialisierung in Frankreich?










(Quelle: lsg.musin.de/Geschichte/Karikaturen/karikaturen_des_19.htm, inaktiv, 08.08.2003)

Die französische Wirtschaft zwischen 1850 und 1945 wird von einer Reihe von Wirtschaftshistorikern als wenig dynamisch und retardiert angesehen, da Frankreich nie eine Industriegesellschaft im vollen Sinn mit der Industrie als größtem Beschäftigungssektor wurde, der Agrarsektor wesentlich gewichtiger blieb als in Deutschland, große Industriestädte und Industrieunternehmen in Frankreich weit seltener waren und die französische Wirtschaft auf dem Weltmarkt damals eine bescheidenere Rolle spielte.

Die Vorstellungen von Frankreich sind unterschiedlich. Viele sehen in unserem Nachbarland nach wie vor das Agrarland, wie es z. B. die Normandie noch bis heute in vielen Teilen verkörpert. Aber das Bild stimmt nur für einige Regionen. Frankreich ist heute, gemessen an seiner Produktion, die viertgrößte Industrienation der Erde.


(Quelle: ouest-france.fr/dossiershtm/balades_normandie/, inaktiv, 02.06.2006)

Zu den bedeutendsten Industriezweigen Frankreichs während des 19. Jh. zählte u.a. die Textilindustrie, die sich u.a. im sog. Textildreieck im Norden (Lille, Roubaix, Tourcoing) konzentrierte. Das Bild zeigt einen Betrieb in Glageon.


(Quelle: industrie.gouv.fr/galerie/musee160ans/photo3.htm, inaktiv, 02.06.2006)

Gegen diese Interpretation wird von anderen Historikern eingewandt, dass die Leistungskraft der Wirtschaft Frankreichs im Gesamtverlauf zwischen der Mitte des 19. Jh. und der Mitte des 20. Jh. nur unwesentlich hinter Deutschland zurückblieb. Sie sehen die Entwicklung Frankreichs zwischen 1850 und 1945 nicht als eine Retardierung, sondern als einen anderen Weg der Industrialisierung an. Frankreichs Wirtschaft war so wird argumentiert stärker auf den kaufkräftigeren nationalen Binnenmarkt orientiert, weniger auf den Export. Die Konsumgüterindustrie und der Dienstleistungssektor spielten daher eine größere Rolle. Anders als im industrialisierten Deutschland blieben der Kohlenbergbau, die Stahlindustrie und die Produktionsgüterindustrie weniger wichtig. Auch die in diesen Branchen in Deutschland üblichen Großunternehmen und Manager spielten daher in Frankreich eine geringere Rolle. Mittelbetriebliche Familienunternehmen herrschten stärker vor, und damit verbunden auch eine andere Unternehmermentalität. Spezialausbildung von Facharbeitern, von Betriebswirten, von Unternehmern spielte in Frankreich eine geringere Rolle. Frankreichs anderer Weg der Industrialisierung mit seinem langsameren sozialen Wandel, seinem geringeren Städtewachstum und den für das damalige Europa ungewöhnlich niedrigen Geburtenraten führte auch weniger zu sozialen Krisenerscheinungen. Mütter- und Kindersterblichkeit, Kriminalität und Modernisierungsängste entwickelten sich in Frankreich weniger massiv als in der deutschen Gesellschaft. Der Staat sah sich in jener Zeit daher zu weniger Eingriffen genötigt als in Deutschland.

Von 1945 bis 1975 verzeichnete Frankreich ein starkes Wirtschaftswachstum. Die Industrieproduktion stieg in dieser Zeit um mehr als das Vierfache. Die Jahre zwischen 1945 und 1975 werden in Anlehnung an Jean Fourastié als "Die glorreichen Dreißig" bezeichnet.

(Quelle: objectifbrevet.free.fr/corriges/cor_thc_exp13.htm)

Während der Trente glorieuses [1] von den 1950er bis zu den 1970er Jahren glichen sich Frankreichs und Westdeutschlands Wirtschaft dagegen stärker an. Die Wachstumsraten stiegen nicht nur im Land des Wirtschaftswunders, in der alten Bundesrepublik, sondern auch in Frankreich an, waren über längere Perioden sogar höher. Die Geburtenraten wurden in Frankreich allmählich mit die höchsten in Westeuropa. Die Städte expandierten, die Beschäftigungsstruktur wandelte sich rasch. Frankreichs Industrie wandte sich dem Export zu und führte jetzt auch, ähnlich wie Deutschland, Industrieprodukte, Autos, Maschinen, Chemikalien, also nicht nur Käse, Wein und Parfüm, aus.

Der Dienstleistungssektor expandiert in der französischen Wirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg wie kein anderer Wirtschaftsbereich. Sein Anteil am gesamten Bruttosozialprodukt Frankreichs beträgt ca. 68%. Heute ist der tertiäre Sektor ein Wirtschaftsbereich, in dem in großem Umfang neue Arbeitsplätze entstehen. Eine besonders wichtige Rolle spielen die Branchen Handel, Bankwesen, Fremdenverkehr, Gesundheitswesen und beratende Dienstleistungszweige.

(Quelle: www.frankreich-experte.de/fr/5.html)

Auch in Frankreich entstanden Großunternehmen, proportional ähnlich viele wie in Deutschland. Frankreichs Gesellschaft wandelte sich grundlegend. Rückblickend betrachtet sind sich dadurch die französische und die deutsche Gesellschaft so ähnlich geworden wie nie seit dem Beginn der Industrialisierung. Aber die Dynamik des Prozesses war grundverschieden. Frankreichs Weg der Industrialisierung begann mit langsamen Veränderungen und entfaltete erst am Ende während der Trente glorieuses seine volle Dynamik. Deutschland dagegen folgte dem bekannten, stärker verbreiteten Industrialisierungsweg, an dessen Anfang die industrielle Revolution, eine sehr dynamische Epoche mit massiven Krisenerscheinungen und Verunsicherungen der Bevölkerung stand.

Emile Zola hat die Lebens- und Arbeitswelt der Bergbauarbeiter im sog. Pays noir (schwarzen Land) im nordfranzösischen Industrierevier in seinem Roman Germinal drastisch geschildert. 1993 wurde der Roman verfilmt (Regie: Claude Berri, Hauptdarsteller: Gérard Dépardieu).

(Quelle: membres.lycos.fr/paulhenri/clavieramatextes.htm, inaktiv, 08.08.2003)