- Das Projekt Deuframat.de
- Unterrichtspraxis
- Europa im Unterricht
- Deutschland und Frankreich - welche Zukunft für die Zusammenarbeit?
- Frankreich - "starkes Stück" Europa!
- Fünf Hauptthemen des Gesellschaftsvergleiches
- Die retardierte Industrialisierung in Frankreich?
- Die modernere Familie in Frankreich?
- Der modernere Interventionsstaat in Deutschland oder Frankreich
- Die "normalere" Nation in Frankreich
- Zusammenfassung
- Literatur
- Frankreich - Deutschland 0:0
- Europavorstellungen
- Deutsche Europavorstellungen im 19. Jahrhundert
- Die Wiedergeburt Europas
Sie sind hier: Deuframat > ... > Nachbarn am Rhein > Das liberalere Bürgertum in Frankreich?
Das liberalere Bürgertum in Frankreich?
Die Entwicklung des Bürgertums ist ein dritter grundlegender, stark diskutierter historischer Unterschied zwischen Frankreich und Deutschland, allerdings wiederum im Rahmen deutlicher europäischer Gemeinsamkeiten, gemeinsamer bürgerlicher Arbeits und Familienwerte, ähnlicher sozialer Verflechtungen zwischen den bürgerlichen Berufen der Unternehmer, der freien Berufe, der höheren Beamten, Lehrer, Professoren, Pfarrer, auch ähnlicher sozialer Abgrenzungen gegenüber dem Adel und gegenüber der Arbeiterschaft. Das französische Bürgertum ging im 19. und frühen 20. Jh. einen anderen Weg als das deutsche. Der politische Machtanspruch und die gesellschaftliche Ausstrahlungskraft des Bürgertums waren in Frankreich zumindest seit der Gründung der III. Republik [1] , also seit 1870, kaum mehr durch den Adel eingeschränkt und auch nicht mehr von einem monarchischen Staat mit beruflichen Zwangsorganisationen, mit Titeln und Orden kontrolliert und reguliert wie im Deutschen Kaiserreich [2] . Der bürgerliche Liberalismus geriet deshalb, anders als in Deutschland, nicht in eine tiefe Krise.
Proklamation des Deutschen Reichs 1871 im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles.
(Quelle: www.herodote.net/histoire/evenement.php)
Diese andere Geschichte des Bürgertums in Frankreich erklärt sich aus der längeren Tradition einflussreicher ländlicher und städtischer Notablen, aus dem politischen Rückhalt des Bürgertums in einer breiten kleinbürgerlichen Mittelschicht, vielleicht auch aus dem langsameren Tempo des wirtschaftlichen Wandels. Dem deutschen Bürgertum dagegen gelang es nicht in gleichem Maß, seinen politischen Machtanspruch durchzusetzen und daneben auch gesellschaftliches Modell zu werden, teils weil ihm die nationale Einigung durch den konservativen Bismarck wichtiger war als eine liberale Verfassung, teils weil es staatsabhängiger blieb und ihm diese Staatsnähe mit zahlreichen Orden, Titeln, Nobilitierungen attraktiv gemacht wurde, teils weil es weniger in sich verflochten war und stärker als in Frankreich in Wirtschafts- und Bildungsbürgertum, auch in Regionen, in katholisches und protestantisches Bürgertum gespalten war, teils auch weil es sich einer mächtigeren, besser organisierten, verbal radikaleren Arbeiterbewegung gegenübersah und auch deshalb stärker auf die liberale Option verzichtete. Allerdings ist umstritten, ob das deutsche Bürgertum damit historisch richtig bewertet wird oder ob nicht doch seine Leistungen in der Wissenschaft und Hochschulausbildung, in der Stadtplanung und in der Sozialreform, in der Wirtschaft und der Staatsverwaltung unterschätzt werden und darüber hinaus das liberale Bürgertum in den norddeutschen Hansestädten, im Rheinland, in Süddeutschland zu wenig berücksichtigt wird.
Die Arbeiterbewegung in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts. (Textilarbeiterinnen aus Crimmitschau kämpfen für den Zehnstundentag, 18.01.1904, Copyright DHM)
(Quelle: www.dhm.de/sammlungen/bildarchiv/I/abw.html)
Es wird auch kontrovers diskutiert, ob dieser französisch deutsche Unterschied seit den 1950er Jahren dadurch verschwand, dass sich dieses Bürgertum allmählich auflöste. Für die Auflösung spricht die Verwischung der alten gesellschaftlichen Abgrenzungen des Bürgertums nach unten durch Bildung und Besitz. Die früher scharfe soziale Distinktion des akademischen Bürgertums verschwamm in beiden Ländern mit der enormen Expansion der Hochschulen, die direkt nach dem Zweiten Weltkrieg nur wenige Prozent, heute dagegen rund ein Drittel bis die Hälfte jedes Jahrgangs besuchen. Die einstigen scharfen Unterschiede zwischen Besitzbürgertum und besitzloser Masse der Bürger verwischten sich ebenfalls in beiden Ländern mit der starken Verbreitung von langlebigem Konsumgüterbesitz wie von Autos, Haushaltsgeräten, Einfamilienhäusern, auch von Lebensversicherungen und staatlichen Versicherungsansprüchen.
Für das Wiedererstarken des Bürgertums spricht dagegen der bleibende starke politische Einfluß der bürgerlichen Berufsorganisationen, auch die Erhaltung eines bürgerlichen Lebensstils der feinen Unterschiede. Auf jeden Fall erhielt sich in Frankreich das Bürgertum nicht nur länger. Auch eine andere soziale Abgrenzung der Oberschicht nach unten blieb in Frankreich schärfer gezogen als in Deutschland: die herausgehobenen Absolventen der Elitehochschulen, der Grandes Ecoles, die nach harten Aufnahmeprüfungen lebenslange Netzwerke von sozialen Beziehungen pflegen und außergewöhnliche Chancen auf dem Arbeitsmarkt besitzen und oft in die Spitzenstellungen des Staates und der Wirtschaft aufrücken. Diese Elite präsentierte sich weit stärker in der Öffentlichkeit als die deutsche Oberschicht, wurde teils in öffentlichen Ritualen, manchmal mit Uniformen, häufig mit Prüfungserfolgslisten in der Presse, auch in öffentlichen Diskussionen stark herausgehoben. Sie war auch weit mehr Thema der Sozialwissenschaften als die Oberschicht in Deutschland. Auch durch diesen Unterschied ist das wechselseitige Verstehen zwischen beiden Ländern immer wieder gefordert. [3]