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Die "normalere" Nation in Frankreich
Auch der Unterschied im Nationalbewußtsein und in nationalen Symbolen, Riten, Werten verbleibt im Rahmen der europäischen Gemeinsamkeiten der Nationalismen; der gemeinsamen Erfindung der Nation im späten 18. und frühen 19. Jh.; der anfänglich gemeinsamen liberalen, antimonarchischen, antiaristokratischen, auch antiklerikalen Ausrichtung des Nationalismus; der ähnlichen Art der Geschichtskonstruktion und nationalen Gedächtnisorte; der ähnlichen Trägerschichten und des ähnlichen antagonistischen Grundcharakters des Nationalismus; seiner ähnlichen Ausrichtung an einem äußeren Feind, gestützt durch einen oft ähnlichen Mythos eines Unabhängigkeitskrieges, im Fall von Frankreich symbolisiert durch Jeanne d'Arc [1] , im Fall von Deutschland symbolisiert durch die antinapoleonischen Kriege. Aber auch, was den Rückgang des Nationalstolzes angeht, gibt es in beiden Ländern in den 1970er und 1980er Jahren als Folge des Individualisierungsprozesses und des Wertewandels analoge Prozesse zu beobachten.
Seit der Französischen Revolution versinnbildlicht die Trikolore das Nationalbewußtsein vieler Franzosen. Jedoch behielt daneben die rote Fahne der Proletarier große Bedeutung. Sie galt als Symbol des Kampfes für soziale Gerechtigkeit. Die Trikolore erhielt ab 1885 ihren festen Platz in allen öffentlichen Schulen, Ämtern und Institutionen.
(Quelle: wissen.swr.de/sf/begleit/bg0014/bg_fe05a.htm, inaktiv, 02.06.2006)
Innerhalb dieses Rahmens entwickelte sich freilich das Nationalbewußtsein und die öffentliche Präsentation der Nation in Frankreich anders als in Deutschland. Das Verständnis der Nation, wie es sich vor allem im Staatsbürgerrecht niederschlug, war in beiden Ländern verschieden. Die staatsbürgerrechtliche Zugehörigkeit zur Nation wurde in Frankreich schon am Anfang des 19. Jh. festgelegt und war damals stark bestimmt vom klassischen Liberalismus, wurde schon damals für Personen geöffnet, die nicht von französischen Eltern abstammten. Dieses Verständnis der französischen Nation blieb während des 19. Jh. auch deshalb erhalten, weil Frankreich aufgrund seiner außergewöhnlich niedrigen Geburtenraten ein Einwanderungsland war und Immigranten in seine nationale Kultur integrieren mußte. Frankreichs nationales Selbstverständnis war deshalb in hohem Maß kulturell definiert. Es bot Immigranten die Möglichkeit, die französische Kultur anzunehmen und dadurch angenommen zu werden.
Im 19. Jahrhundert gab es in Deutschland einen starken Bevölkerungszuwachs. Das noch schwach ausgebildete Gewerbe war nicht in der Lage, genügend Arbeitsplätze zu schaffen und die Landwirtschaft bot keine ausreichende Ernährungsbasis. Zu Beginn der 1850er Jahre griff die Auswanderungswelle auf ganz Deutschland über und erreichte im Jahre 1854 einen ersten Höhepunkt.
(Quelle: fb1.uni-siegen.de/auswanderung/deutsch1863/19jhdt.htm, inaktiv, 08.08.2003)
Deutschlands staatsbürgerrechtliche Definition dagegen stellte die ethnische Abstammung von Deutschen in das Zentrum. Sie stammte aus dem Anfang des 20. Jh., als überall in Europa eine starke Strömung der ethnischen, nicht selten rassistischen Nationskonzepte vorherrschte, in Deutschland stärker als anderswo. Von diesem ethnischen Selbstverständnis der deutschen Nation abzurücken, gab es in Deutschland weniger Zwänge, da bis in die 1950er Jahre Deutschland mit seinen damals hohen Geburtenraten ein Auswanderungs , weniger ein Einwanderungsland war. Erst seit damals milderte sich dieser Unterschied ab, da inzwischen auch Deutschland ein Einwanderungsland geworden ist und in jüngster Zeit langsam von seinem traditionellen ethnischen Staatsbürgerrecht und nationalen Selbstverständnis abrückte. Ein gemeinsames europäisches Staatsbürgerrecht könnte diesen Unterschied weitgehend beseitigen.
Darüber hinaus verbanden sich in Frankreich und Deutschland mit der Nation unterschiedliche Werte. In Frankreich war die Nation seit der Französischen Revolution in starkem Maß mit Menschen und Bürgerrechten verbunden, verstärkt noch seit der Durchsetzung einer bürgerlichen Honoratiorenrepublik im letzten Viertel des 19. Jh. Militärische Feiern und Paraden, Nationalfeiertage, Kriegerdenkmäler [2] und patriotische Sportveranstaltungen gab es in beiden Ländern ähnlich häufig in ähnlichen Formen. Aber sie waren in Frankreich stärker von zivilen und individualistischen Werten geprägt, standen auch stärker unter dem Einfluß ziviler und kirchlicher Honoratioren, nach der nationalen Niederlage gegen Preußen 1871 noch stärker als zuvor. In Deutschland dagegen verband sich nach der kriegerischen Durchsetzung des Nationalstaates 1871 die Nation im öffentlichen Raum zunehmend mit militärischen und monarchischen Werten. Nach der Niederlage Deutschlands 1918 gelang es den Gegnern der parlamentarischen Republik, nationale Werte und demokratische Werte weiter zu trennen. Erst am Ende des 20. Jh. verbanden sich auch in Deutschland nationales Selbstverständnis mit Verfassungsidentität. Die Inhalte des nationalen Selbstverständnisses nähern sich in Frankreich und Deutschland damit an.
Schließlich waren auch die grundsätzlichen Züge der Geschichte des Nationalbewußtseins in Frankreich und Deutschland anders. Frankreich steht für ein normales, ungebrochenes Nationalbewußtsein, Deutschland für eine vielfältig gebrochene Geschichte. In Frankreich blieben nationale Identität und Nationalstaat über mehr als zwei Jahrhunderte eng verbunden und ungetrennt. In Deutschland hingegen fehlte der nationalen Identität über lange Zeit das Pendant des Nationalstaats, und zwar vor 1871 und zwischen 1945 und 1990, also im längeren Teil der letzten 200 Jahre. Deshalb verband sich in Deutschland die nationale Identität auch stärker mit regionalen und lokalen Identitäten. In Frankreich dagegen war die nationale Identität ausschließlicher, die regionalen Identitäten blieben mit einigen Ausnahmen eher schwach. Darüber hinaus wurde die deutsche Nation in der Geschichte auch weit stärker durch die Genozide und die fast ganz Europa ruinierende militärische Ausbeutung des NS Regimes diskreditiert, nicht nur bei anderen Nationen, sondern auch bei den Deutschen selbst. Es erstaunt daher nicht, dass der traditionelle Nationalstolz in Deutschland wenig ausgeprägt ist. Nationale Symbole wie Fahne, Hymne, nationale Feiern und Riten spielten aus allen diesen Gründen in Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jh. eine geringere Rolle. Erst seit 1990 wurde der öffentliche Raum wieder etwas stärker durch politische Symbole und Riten besetzt.
Bei Sedan kam es am 1. September 1870 zum entscheidenden Sieg Preußens über die Truppen Napoleons III. Am Morgen nach der Kapitulation wird der gefangene Napoleon in offener Kutsche von Bismarck zu König Wilhelm geleitet. W. Camphausen hat diese Szene in einem Ölgemälde festgehalten. Dem französischen Nationalbewußtsein wurde durch diese Niederlage ein schwerer Schlag versetzt.
(Quelle: www.dhm.de/ausstellungen/bildzeug/qtvr/DHM/n/BuZKopie/raum_23.09.htm)
Die Krisen des französischen nationalen Selbstverständnisses wurden durch Niederlagen, durch die Niederlage gegen Preußen 1871, gegen das NS Deutschland 1940, durch die ungleiche Partnerschaft im Zweiten Weltkrieg, durch den Zusammenbruch des Kolonialreichs in Indochina und Algerien ausgelöst. Sie wurden aber, anders als in Deutschland, meist durch verstärkte nationale Symbolik und Riten im öffentlichen Raum kompensiert. Dieser historische Hintergrund erklärt auch die andere Verbindung zwischen nationaler und europäischer Identität. Die europäische Identität wurde in Frankreich im Allgemeinen mit der Ausnahme einiger linker und rechter politischer Richtungen als eine Erweiterung und Verstärkung der nationalen Identität verstanden. In Deutschland hingegen war sie nach dem Zweiten Weltkrieg eher eine Kompensation der diskreditierten nationalen Identität. Erst nach 1990 begannen sich nationale und europäische Identität in ähnlicher Weise zu verbinden wie in Frankreich [3] .