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'Europa denken lernen als Bildungsaufgabe'
 
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Europa denken lernen als Bildungsaufgabe

Welche Rolle kann und soll das Bildungswesen, insbesondere die Schule, bei der Erneuerung Europas spielen? Es ist nach dem Gesagten offenkundig, dass eine Unterrichtseinheit zur Europäischen Union im Politikunterricht in einem der letzten Pflichtschuljahre eine vielleicht nicht schädliche, gewiss aber eine nicht ausreichende Antwort ist. Es dürfte bereits mehr als fraglich sein, ob eine Übersetzung dieser Aufgabe in eine feste Folge von Unterrichtsthemen ein angemessener Zugang ist, jedenfalls dürfte die Verwandlung der offenen Frage nach der kulturellen Identität und der politischen Zukunft Europas in "Stoff", der "durchgenommen" wird, mehr Schaden als Nutzen stiften.

Allerdings wird die Schule junge Menschen, die heute in Europa aufwachsen, mit der Frage konfrontieren müssen, was eben dieses Aufwachsen in Europa für sie, für ihr Bild der Welt, für ihr Verständnis von Politik und für die Bewältigung der politischen Probleme, mit denen sie heute und in absehbarer Zukunft konfrontiert sind, bedeutet. Mit Blick auf individuelle Lebenskonzepte von Lernenden bedeutet das die Konfrontation des Einzelnen mit der Frage, was es für ihn oder für sie heute heißt, als Europäer oder Europäerin zu leben. Hierbei versteht es sich, dass weder eine verbindliche Antwort vorgegeben werden darf, noch die Ebene einer europäischen Identität alle anderen sozialen Zugehörigkeiten dominieren oder gar ersetzen soll. In politischer Perspektive bedeutet es die Einführung der jungen Generation in den Diskurs über die politische Zukunft Europas und seiner künftigen Rolle in der Welt was, wie oben dargelegt, die Auseinandersetzung mit dem politisch kulturellen Erbe, das Europa in die Gestaltung einer globalen Kultur und Politik einbringen kann, einschließt. Europa denken zu lernen, wäre vielleicht die Formulierung für eine Bildungsaufgabe, die diese beiden Bereiche umschließt.

Leben und Lernen in Europa; Werbeposter für die Europabildungsprogramme des Niedersächsischen Bildungsservers.






(Quelle: nibis.ni.schule.de/%7Elle-ohz/)

Im Kern ist dies eine politische Bildungsaufgabe. Sie ist freilich nicht auf ein Schulfach begrenzbar (wenngleich sie ohne die explizite Thematisierung politischer Fragen keinesfalls auskommt), sondern eine Aufgabe politischer Bildung in einer engen Verbindung mit historischer und kultureller Bildung bis hin zu den philosophischen Aspekten einer zeitgemäßen naturwissenschaftlichen Bildung. "Europa" ist nicht ein Thema, es ist ein Aspekt, eine Dimension vieler Themen. So gesehen ist die Auseinandersetzung mit Europa ein nachgerade klassisches Beispiel für den notwendigen Zusammenhang des Politikunterrichts mit den anderen Fächern der Schule und der allgemeinen Schulkultur (vgl. Mickel 2002, Sander 1994).

Im Politikunterricht ist noch immer häufig die oben kritisch kommentierte Unterrichtseinheit zur EU in der 9., 10. oder 13. Klasse das eingeschliffene Muster der Auseinandersetzung mit Europa und europäischer Politik. Dies ist in vielerlei Hinsicht unbefriedigend: weil dieser curriculare Ansatz "Europa" gewissermaßen "nach draußen", in den Kontext der internationalen Beziehungen jenseits der Innenpolitik verlegt; weil er damit zu wenig offen dafür ist, dass die Europäische Union für Deutschland längst zu einer "vierten Ebene" von Politik nach Kommunal , Landes und Bundespolitik geworden ist, deren Entscheidungen in vielen Bereichen zu verbindlichen Vorgaben für die anderen Ebenen führen; weil schließlich die scheinbare Erfahrungsferne, von der dieser curriculare Ansatz ausgeht, die Beziehungen des Einzelnen zur Frage einer europäischen Identität eher verstellt. Dagegen ist die europäische Dimension ein wesentlicher Aspekt des Gegenstandsfelds des Politikunterrichts in allen Zonen des Politischen (vgl. zu diesem Konzept der Auswahl und Strukturierung von Lerngegenständen Sander 2001, 107 ff.):

  • im Bereich der "Oberfläche", der alltäglichen Wahrnehmung von Politik und der aktuellen politischen Interessen der Lernenden durch die mediale Präsenz von Ereignissen, die einen tieferen Zugang zu Fragen nach der Identität und Politik Europas erlauben, vom (um Beispiele zu nennen) Irak Krieg über die Debatte um einen EU Beitritt der Türkei bis zur Europawahl;
  • im Bereich der "mittleren Zone", der mittel und längerfristigen politischen Problemlagen, beispielsweise durch die Frage nach der künftigen Verfassung der EU und der Demokratie in Europa oder durch die Frage nach der künftigen Rolle Europas in der Friedenspolitik;
  • im Bereich des "Kerns", der Auseinandersetzung mit Politik als einer dauernden menschlichen Aufgabe, durch die Begegnung mit Philosophien und Theorien der Politik aus der europäischen Kulturgeschichte und mit den Erfahrungen und Desastern, die diese reflektieren.

Die beiden EU-Bildungsprogramme Sokrates und Leonardo wenden sich an eine Vielzahl von Bildungseinrichtungen, Lehrende und Lernende. In den Programmen wird ein breites Spektrum von Projekten gefördert. Dazu gehören Mobilitätsmaßnahmen, Pilotprojekte und Netzwerke, wobei Fördersätze und Antragsverfahren in den einzelnen Bildungsbereichen und Programmaktionen sehr unterschiedlich sind.

(Quelle: sokrates-leonardo.de/, inaktiv, 02.06.2006)

In der Kernzone des Politischen kommt, wenn sie Gegenstand des Lernens im Politikunterricht wird, am deutlichsten Morins Aspekt der "Erinnerung" zum Tragen. Der Aspekt der "Öffnung" verlangt eine Erweiterung des in der heutigen Politikdidaktik durchweg akzeptierten Prinzips der Kontroversität und Multiperspektivität über den Bereich des nationalen politischen Diskurses hinaus: Positionen und Perspektiven aus anderen europäischen Gesellschaften müssen systematisch Eingang in die Praxis der politischen Bildung finden, so etwa in Lehrplanvorgaben und Lernmaterialien.

Die Europäische Union ist längst zu einer "vierten Ebene" von Politik nach Kommunal , Landes und Nationalpolitik geworden. Europabezogene Bildung ist somit auch keine EU-Staatsbürgerkunde. Sie ist nur vor dem Hintergrund der Einordnung des eigenen Kontinents in einen globalen Diskurs sinnvoll.

(Quelle: www.bpb.de/publikationen/NXEZB6,1,0,Europ%E4ische_Union_in_der_Erweiterung.html)

Eine solche europabezogene politische Bildung ist keine EU Staatsbürgerkunde, keine Werbeveranstaltung zum Ausgleich von Legitimationsdefiziten. Dennoch steht eine politische Bildung, die sich als Anstiftung zur Freiheit versteht (Sander 2001), in der kulturellen Tradition Europas. Die Vorstellung einer politischen Bildung für alle Menschen, die nicht der Indoktrination, sondern der eigenständigen politischen Urteilsbildung freier Menschen dient, ist selbst Teil des geistigen Konstrukts "Europa".

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