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Ich war Hamlet

1978 habe ich mit Heinz Schwarzinger (7) DIE HAMLETMASCHINE übersetzt, einen Text von neun Seiten, den Müller 1977 verfasst hatte. Ich brachte ihn, mit MAUSER gekoppelt, im Januar 1979 auf die Bühne. Damals kam mir der Text elliptisch vor. Er schien geradewegs den Hirnwindungen eines inspirierten Autors entsprungen zu sein. Müller galt damals als eine Art postbrechtscher Artaud oder Beckett der DDR. Der Text kam mir vor wie eine Neu- bzw. DDR-Fassung von Jules Laforgues HAMLET. (8) Gilles Aillaud, der das Bühnenbild entwarf, sagte mir, als ich mich über die Form des Textes wunderte, er sei dadaistisch, und als wir uns über Müllers politische Absichten unterhielten - der Text durfte damals weder veröffentlicht noch aufgeführt werden -, dass dies alles bereits Merleau-Ponty (9) gesagt habe: es handele sich um eine Totalitarismus-Kritik. Bei der Inszenierung des Stücks ließen wir uns durch diese beiden Ansätze leiten. Das Bühnenbild erinnerte an Bildfragmente von Carpaccio (an den Bilderzyklus des Heiligen Hieronymus in der Chiesa degli Schiavoni in Venedig) und an eine Verkündigung Leonardo da Vincis, allerdings mit einigen Varianten. Da Vincis Jungfrau, mit einem Falken ausgestattet, sprach den Text der Elektra, der wie ein Aufruf zur Rache klang: „Wenn sie mit Fleischermessern durch eure Schlafzimmer geht, werdet ihr die Wahrheit wissen.“ Obwohl das Stück von drei Schauspielern gespielt wurde, wirkte es relativ monologisch wie die Selbstkritik eines ehemaligen marxistischen Theologen.

Abbildung 8:

Bühneszene der Hamletmaschine von Heiner Müller in einer Aufführung während der 47. Berliner Festwochen. Der Regisseur Gert Hof wählte für den Gastspielort kein festspielerprobtes Staatstheater, sondern entschied sich für die legendäre Berliner Stahlhalle ARENA, ein ehemaliges Busdepot in Treptow.

Internet-Quelle [1]

DIE HAMLETMASCHINE habe ich 1991 beim Festival d'Avignon wieder inszeniert. Diesmal ließ ich die Monologe zu einem Choral verschmelzen. Nach einem Prolog, der aus Berichten aus KORREKTUR bestand, die auf den Bau des Kombinats von Hoyerswerda [2] verweisen, öffneten sich die Gräber, und das Stück begann: „Ich war Hamlet ...“ Es war ein Hamlet aus der ehemaligen DDR, der Gestus der Aufführung war die Auferstehung der Toten, ein ungemein Shakespearescher Gestus. Bei Shakespeare ist einzig Hamlets Vater ein Gespenst. Bei uns wurde das gesamte Stück Müllers zu einer Art „Gespenstersonate“. Mit dem zeitlichen Abstand von zwölf Jahren und nach dem Fall der Mauer entdeckten wir bei der neuerlichen Auseinandersetzung mit der HAMLETMASCHINE, auf welch bemerkenswerte Weise das Stück konstruiert ist: das „Familienalbum“ als eine Abfolge analytischer Kommentare in Form von Überschreitungen: das totemistische Mahl, der Inzest mit der Mutter, die wieder Jungfrau wird, wiederum eine Ophelia, ein außerordentliches Spiel von Verschiebung und Verdichtung. Mit drei Schlägen der Suppenkelle wird der Hamlet psychoanalytischen Zuschnitts erledigt. Er ist jetzt auch ein Hamlet, der durch den Reißwolf des Videoclips gedreht und der Poetik des Fernsehens entstammt: das Stück wird zum atemberaubenden Horrortrip ohne tragische Wirkung. Bis der Schauspieler des Hamlet nicht mehr spielt, seine Rolle hat ihm nichts mehr zu sagen.

Textexzerpt aus Heiner Müller: HAMLETMASCHINE
Das Europa der Frau: Ich bin Ophelia. Die der Fluß nicht behalten hat. Die Frau am Strick. Die Frau mit den aufgeschnittenen Pulsadern. Die Frau mit der Überdosis AUF DEN LIPPEN SCHNEE. Die Frau mit dem Kopf im Gasherd. Gestern habe ich aufgehört mich zu töten. Ich bin allein mit meinen Brüsten meinen Schenkeln meinem Schoß. Ich zertrümmere die Werkzeuge meiner Gefangenschaft den Stuhl den Tisch das Bett. Ich zerstöre das Schlachtfeld das mein Heim war. Ich reiße die Türen auf damit der Wind herein kann und der Schrei der Welt. Ich zerschlage das Fenster. Mit meinen blutenden Händen zerreiße ich die Fotografien der Männer die ich geliebt habe auf dem Tisch auf dem Stuhl auf dem Boden. Ich lege Feuer an mein Gefängnis. Ich werfe meine Kleider in das Feuer. Ich grabe die Uhr aus meiner Brust die mein Herz war. Ich gehe auf die Strasse gekleidet in mein Blut.

Internet-Quelle [3]

 

Und dann beginnt alles wieder bei Null: „Der Aufstand beginnt als Spaziergang.“ Müller kennt Jan Kotts (10) Deutung des HAMLET genau (sein Text zitiert die von Jan Kott [4]  angeführten Passagen: „Dänemark ist ein Gefängnis“). Der Text von Kott (11), der Hamlet zu einem jungen Mann unter dem Stalinismus, zu unserem Zeitgenossen werden lässt, wo der Überwachungsapparat der politischen Polizei eine zentrale Rolle spielt (von Polonius bis Rosenkranz und Güldenstern), wurde nach dem XX. Parteitag anlässlich einer Aufführung von 1956 geschrieben. Nun ist aber 1956 auch das Jahr des Budapester Aufstandes und des Einmarsches russischer Panzer in Ungarn. Zum eigenen Schutz legt sich der Kommunismus einen Panzer an, und gerade dieser Panzer ist es, der ihn zugrunde richtet. In dieser Situation wird der Hamlet-Darsteller wieder zu Hamlet und ist auf „beiden Seiten der Front ....“. Hier finden wir das tragische Motiv der Spaltung wieder. Als eine Neubelebung des Hamlet-Mythos unmöglich schien und das Stück zu kentern drohte, tritt aus der Problematik der Spaltung der Hamlet des Kommunismus hervor. Wieder eine Verschiebung-Verdichtung, dieser Hamlet findet sich als Raskolnikow wieder und als Wucherin hat er nur drei nackte Frauen: Marx, Lenin, Mao. Müller nimmt Kotts Interpretation wörtlich und führt sie bis zur letzten Konsequenz. Kotts Analyse fügt er wie im Traum den Budapester Aufstand hinzu.

Abbildung 9:

Die Hamletmaschine in einer Inszenierung der Compagnie 4 cats in Bordeaux (2003). Die Stücke Heiner Müllers gehören zu den meistgespielten des modernen deutschen Theaters in Frankreich.

 

Internet-Quelle [5]

Nach meinen beiden Aufführungen zu urteilen, hat sich die Rezeption der HAMLETMASCHINE zwischen 1978 und 1991 geändert. 1991 setzte die Inszenierung andere Akzente. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn diese neuen, fein aufgespürten Aspekte die intuitivere Auffassung von 1978 nicht ausgelöscht hatten. Doch auch dieser Text ist älteren Datums, das wurde deutlich in der Art und Weise, wie Heiner Müller den Text in seiner Inszenierung von HAMLET im März 1990 am Deutschen Theater behandelte, acht Tage nach der Wahl, die über die Wiedervereinigung abstimmte. Etwas funktionierte nicht mehr, vielleicht einfach folgendes: der Bericht des Aufstands, die Panzer, die den Kommunismus zugrunde richten, wobei sie ihn doch schützen sollten, wandte sich an ein Publikum, unter dem sich Claudius, der Mörder, stellvertretend für die Bürokraten befand. Als das Stück im März 1990 aufgeführt wird, sind aber die Bürokraten nicht mehr da. Fortinbras ist bereits angekommen. Der Schauspieler, der Hamlet in Müllers Inszenierung spielte, hat kaum noch die Zeit, Hans Modrow (damals Ministerpräsident der DDR) in einem Fernsehinterview zu fragen: Haben Sie den Eindruck, Hamlet zu sein? Modrow ist perplex. Das Zusammenspiel von Stück und Ereignis war verblüffend.

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Anmerkungen

(7) (1990-1996). Mit der Spielzeit 1996/97 übernimmt Georges Lavaudant die Leitung. 

(8) Heinz Schwarzinger übersetzte u. a. Karl Kraus, Nestroy, Horváth ins Französische und Jarry sowie andere zeitgenössische französische Autoren ins Deutsche: Joël Jouanneau, Enzo Cormann, Armando Llamas.

(9) Jules Laforgue, HAMLET, aus MORALITES LEGENDAIRES.

(10) Maurice Merleau-Ponty, französischer Philosoph (1908 – 1961), Schüler von Husserl, zusammen mit Jean-Paul Sartre Gründer der Zeitschrift LES TEMPS MODERNES.

(11) Jan Kott, SHAKESPEARE HEUTE.