- Deutsch-französische Kulturbeziehungen
- Die deutsch-französischen Kulturbeziehungen seit 1945
- Werte und Wertewandel in Frankreich und Deutschland
- Kulturpolitik in Frankreich und Deutschland
- Ein Ziel - mehrere Wege? Kultur als Dimension der europäischen Integration
- Einleitung
- Schein und Größe
- Vom Charakter zur Handlung
- Mannschaft und Schützen
- Meine Müller-Jahre
- Ich war Hamlet
- Quellen
- Kulturelle Ausdrucksformen in europäischen Kontexten politisch neu deuten
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Eine Familienangelegenheit
Eine solche Auffassung der Hamlet-Figur ist in Frankreich undenkbar. Bei uns wäre er nur eine ehemals romantische Gestalt, heuchlerisch wie Tartuffe und verführerisch wie Don Juan. In Deutschland ist er eine mythische Figur; und der Mythos macht aus Hamlet nicht nur den beraubten jungen Mann am Anfang des Stückes, sondern auch den Mörder im zweiten Teil, beide sind untrennbar. Hamlets Rezeption in Deutschland ist eine Geschichte geologischer Schichten: angefangen mit Goethes WILHELM MEISTERS LEHRJAHRE über Hauptmanns HAMLET IN WITTENBERG bis hin zu Döblins HAMLET, ohne dabei Freiligraths Gedicht DEUTSCHLAND IST HAMLET oder die Kommentare des Shakespeare-Übersetzers A. W. Schlegel zu vergessen.
Wenn Hamlet in diesem Maß ein deutscher Held ist, dann deshalb, weil etwas von der Spaltung in ihm ist, die König Jakob I. bestimmt, den Nachfolger von Elisabeth, der Protestantin, und den Sohn der Katholikin Maria Stuart, die auf Befehl Elisabeths hingerichtet wird. Maria Stuart hatte wie Gertrud in Shakespeares Stück den Mörder ihres Mannes geheiratet. Nach der Analyse von Carl Schmitt in einem kleinen Werk, auf das ich durch einige Bemerkungen Müllers aufmerksam wurde, ist Hamlet/Jakob I. eine tragische, nach den Religionskriegen gespaltene Figur.
Die Texte Müllers, die ich seit 1978 übersetzt und inszeniert habe, wurden alle zwischen 1977 und 1987 geschrieben (oder zumindest veröffentlicht). Meine Arbeit als Übersetzer und Regisseur hatte nicht das Meisterwerk oder den Ruhm, die Dankbarkeit oder den Medienerfolg im Visier, mein Ehrgeiz war ein anderer: ich war auf der Suche nach Aktualität - nach etwas, was über die Aktualität der Medien und Zeitungen hinausgeht -, daher habe ich diese Texte, kurz nachdem Müller sie geschrieben hatte, inszeniert. So wurden DIE HAMLETMASCHINE und WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE in Frankreich aufgeführt, bevor sie auf deutsche Bühnen kamen.
Was ein wenig paradox, doch zugleich auch erklärlich ist. Als ich an QUARTETT für die Aufführungen in Avignon 1991 oder an BILDBESCHREIBUNG im Jahre 1987 arbeitete, wurde mir bewusst, dass die Dramaturgie Müllers mit ihren eigenen Mitteln - eher chorale Gebilde als Personen, eher eine Vorliebe für den lyrischen denn für den dramatischen Bericht - in eine eigentlich sehr private und persönliche Form mündete. Müsste man diese beiden Stücke mit anderen vergleichen, so fällt einem Strindberg ein: man denkt an DIE GESPENSTER-SONATE, TOTENTANZ und FRÄULEIN JULIE - dort findet der Kampf der Gehirne, der Kampf der Geschlechter eher als der Klassenkampf statt. Dieser Übergang von der epischen, öffentlichen und politischen Erzählung zur lyrischen und privaten wird in der Abfolge von fünf Sequenzen in WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE sehr genau veranschaulicht: durch eine Kriegssituation an der Ostfront während des Zweiten Weltkriegs, durch einen Aufstand, vermutlich 1953 in Berlin, durch eine private Familiensituation in den 70er Jahren, als der linientreue Vater die Entscheidung trifft, seinen (Adoptiv-) Sohn zu verstoßen, ihn zu verbannen, als Bestrafung in den Westen zu schicken – doch über den offiziellen Weg –, bevor er ihn dem Schicksal derer überlässt, die auf eigene Gefahr versuchen, die Mauer zu überwinden. Was wir dieser fünften Episode entnehmen – und worüber nachzudenken wäre – ist, dass der Kommunismus in der DDR seit den 70er Jahren zu einer Familienangelegenheit geworden war.
Wenn ich diesen fünften Teil lese (oder ihn aufgeführt sehe), möchte ich doch einen Unterschied machen zwischen denjenigen, denen das Privileg des westlichen Exils gewährt wurde, und jenen, denen man nur die Wahl ließ, zu bleiben oder zu versuchen, die Mauer zu überwinden.
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Anmerkungen
(12) Carl Schmitt, HAMLET ODER HEKUBA, Der Einbruch der Zeit in das Spiel.