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Einleitung
Übersetzen heißt, Vermittler sein zwischen zwei Kulturen, zwischen zwei Sprachen. Darüber hinaus verlangt die literarische Übersetzung von dem, der sich daran wagt, dass er versucht, unter dem Namen (und unter dem Schutzschild) des Autors selbst ein literarisches Werk zu erstellen. Laut Walter Benjamin [1] besteht die Aufgabe des Übersetzers darin, "diejenige Intention auf die Sprache, in die übersetzt wird, zu finden, von der aus in ihr das Echo des Originals erweckt wird". (1) Ich würde prosaischer sagen, dass man in der Sprache, in die man übersetzt, etwas in Bewegung setzen muss. Häufig ist sie es, die Probleme verursacht, die Widerstand leistet. Es genügt nicht, dass die Übersetzung exakt und angemessen ist, erstrebenswert ist auch, ihre kleine literarische Wirkung zu erzeugen und Erstaunen hervorzurufen. Für die Beurteilung des literarischen Ergebnisses aber fehlen objektive Kriterien. Sie hängen vom ästhetischen Urteil ab, das heißt von der jeweiligen Meinung. (2)
Inszenieren heißt ebenfalls, Vermittler zu sein: einerseits zwischen einem Stück - das der Regisseur einigermaßen verstehen sollte -, und den Schauspielern; andererseits zwischen einem Stück und dem Publikum. Während der Proben nimmt der Regisseur den Platz ein, den später das Publikum einnehmen wird. In dieser Position wird der Regisseur gewissermaßen vom Theaterkritiker verdoppelt, der ebenfalls als Vermittler zwischen Stück und Publikum tätig ist. Beide Funktionen, die des Regisseurs und des Theaterkritikers, sind übrigens fast zur selben Zeit entstanden.
Schauspieler und Publikum, und oft auch die Kritiker, haben im allgemeinen weder die Texte im Original gelesen, noch kennen sie die Umstände ihrer Entstehung. Daher wundern sich regelmäßig - und zweifelsohne aus französischem Narzissmus - einige Kritiker darüber, dass so viele ausländische - vor allem deutsche - Stücke gespielt werden. Anstatt sich zu fragen, warum das so ist - es gibt zahlreiche Gründe dafür -, machen andere - einige Künstler und ein Teil des Publikums - sich Gedanken und sind neugierig auf die deutsche Kultur, die deutsche Mentalität, auf Deutschland und setzen an diesem Punkt mit ihrer Vermittlung als Kritiker ein. Was der richtige Ansatz ist, in einem europäischen Kontext Theaterkritiker in Paris zu sein.
Übersetzen ist nur mit einer kleinen Portion Dyslexie (neurotische Lesestörung) vorstellbar. Deutsch denken und Französisch schreiben; nicht in der Sprache denken, in der man sich ausdrückt. Eine Beckettsche Übung: ein Handicap in einen produktiven Zwang verwandeln. Das ist auch der Grund, warum ein guter Germanist nicht notwendigerweise ein guter Übersetzer sein muss und umgekehrt. Diese Dyslexie verdoppelt sich auf der Ebene der Darstellung: Ein deutscher Autor erzählt eine Geschichte (durch die Vermittlung des Übersetzers und des Regisseurs), die aus seinem Erfahrungsbereich stammt, einem deutschen also, und diese Geschichte wird durch handelnde Personen, die von französischen Schauspielern verkörpert werden, einem französischen Publikum gezeigt.
LA CHAMBRE ET LE TEMPS ET LE TEMPS ET LA CHAMBRE - das Stück von Botho Strauß [2] DIE ZEIT UND DAS ZIMMER ist unter beiden Titeln übersetzt worden - in der Inszenierung von Patrice Chéreau [3] ist ein gutes Beispiel dafür. Offensichtlich war es Chéraus Absicht, soweit wie möglich den Humor, die Stimmung und die Sprache von Botho Strauß zu „französisieren“. Das Stück wirkt wie eine Folge von Einaktern, die alle am selben Ort, in einem Zimmer einer Wohnung, spielen, und handelt von einer linkischen Frau, die nicht ganz richtig im Kopf ist. Die Einheit des Stückes ist durch die Einheit des Ortes und durch die Konstruktion um eine Person gegeben; doch eine Einheit der Handlung gibt es nicht, diese ist im Gegenteil zerstückelt, ist eine Abfolge von Szenen, und die Zeit bereitet dabei Probleme: Bald vergeht sie schnell, bald vergeht sie nicht, bald merkt man nicht, dass sie vergeht.
Die Einheit des Ortes wird in der Pariser Inszenierung zu einem Prinzip dieses Theaters, zu einem quasi surrealistischen Prinzip oder genauer zu einem quasi absurden. Das Zimmer als einziger Ort, wie er im Theater des Absurden zu finden ist. Für einen Franzosen ist es unwahrscheinlich, dass so viele Begegnungen in einem Zimmer stattfinden. Anders in Berlin. Dort sind die Wohnungen groß, also teilt man sie. Ist ein Zimmer frei, bietet man es selbstverständlich einem anderen zeitweiligen Mieter an. In Berlin kann eine Wohnung Ort zufälliger Begegnungen sein. In Paris ist sie Privatraum. Zufällige Begegnungen finden woanders statt, an Durchgangsorten. Das Stück von Botho Strauß ist in Berlin also „realistisch“ oder wahrscheinlich, in Paris ist es absurd oder surrealistisch.
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Anmerkungen
(1) Walter Benjamin, DIE AUFGABE DES ÜBERSETZERS, im Vorwort zu seiner Übersetzung von Charles Baudelaires TABLEAUX PARISIENS.
(2) siehe dazu: Immanuel Kant, KRITIK DER URTEILSKRAFT.