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'Individueller und organisierter zivilgesellschaftlicher Austausch'
 
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Individueller und organisierter zivilgesellschaftlicher Austausch

Die traditionellen Formen zivilgesellschaftlichen Austausches zwischen Deutschland und Frankreich, die auf der überwiegend individuellen Motivgrundlage der Bildungs-, Erwerbs- und Zufluchtssuche im 18. und 19. Jh. entstanden waren, wurden im Ersten Weltkrieg nicht nur unterbrochen, sondern sie wurden zerbrochen. Diese tiefe Zäsur in den zivilgesellschaftlichen Beziehungen hatte nicht allein mit dem zunehmenden Zwang zur Organisierung der Interessen, der bereits nach der Jahrhundertwende von Beobachtern der Gesellschaftsentwicklung festgestellt wurde, zu tun. Sie kam auch deswegen zustande, weil die Weltkriegs- und die ersten Nachkriegsjahre in Frankreich wie in Deutschland von einer umfassenden feindlichen Mobilisierung der Köpfe und Herzen geprägt waren, die völlig neue Gegebenheiten für den bilateralen Gesellschafts- und Kulturaustausch schuf. (vgl. Beitrag Krapoth [1] )

Abbildung 6:

Germania am Marterpfahl

Propagandapostkarte gegen die Bestimmungen des Versailler Vertrags, Ausdruck der mentalen Barrieren, die sich nach 1919 in den deutsch-französischen Beziehungen aufgetürmt hatten.

 

 

 

 

Internet-Quelle [2]

Die Jahre 1914 bis 1924 hatten wenige der früher bestehenden Austauschstrukturen intakt gelassen und ein Neuanfang musste ansetzen bei der "geistigen Demobilisierung", die am frühesten nachdrücklichsten von Vertretern des französischen Pazifismus gefordert wurde. In den beiden Zwischenkriegsjahrzehnten 1919 bis 1939 kamen zu den mentalen Barrieren, die sich in den deutsch-französischen Beziehungen aufgetürmt hatten, noch neuartige administrative Hürden hinzu, die den gesellschaftlichen Verkehr über den Rhein hinweg erschwerten. Der Visumzwang und die Devisenbewirtschaftung waren vor allem die Instrumente gesellschaftlicher Verkehrssteuerung, deren sich die politische Administration bediente. Da in diesen Jahrzehnten weder die politische Konfliktlösung im Zeichen des Versailler Vertrages [3] von 1919, noch die wirtschaftliche Problemlösung in der Folge der Weltwirtschaftskrise [4] von 1929 gelang, standen alle zivilgesellschaftlichen Versuche der Verständigung oder der Zusammenarbeit zwischen beiden Nationen mehr als je zuvor unter der Drohung der politischen Vereitelung oder Instrumentalisierung. Angesichts dieser mentalen, administrativen und politischen Schwierigkeiten ist das Spektrum dieser bilateralen Verständigungsversuche der Zwischenkriegszeit gleichwohl beeindruckend.

Als charakterisierendes Merkmal der (in dieser Periode dominanten) organisierten und planmäßigen Gesellschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und Frankreich ist erkennbar, dass deren Protagonisten jeweils in einem bestimmten Gesellschaftsausschnitt die geistigen und materiellen Ressourcen für die Herstellung und Pflege von Kontakten zum Nachbarland zu bündeln versuchten. Und zwar mit der doppelten Absicht, die Mitglieder ihrer Organisation in ihrem guten Willen zu bekräftigen und in der eigenen nationalen Öffentlichkeit für die Kenntnis des anderen Landes zu wirken. Dieser doppelten Zielsetzung entsprachen die neuen Instrumente, deren sich die Verständigungsorganisationen bedienten. Zum einen wurden Veranstaltungsprogramme durchgeführt, die teils mehr geselligen, teils mehr informierenden Charakter hatten und die in jedem Fall die Teilnehmer für das Nachbarland interessieren sollten. Zum anderen versuchten diese Vereinigungen über eigene Zeitschriften oder andere Presseorgane, in der größeren Öffentlichkeit über die andere Nation zu berichten bzw. Fragen der bilateralen Beziehungen zu erörtern.

Das Spektrum der zivilgesellschaftlichen Milieus, in denen dergleichen Organisationsgründungen versucht wurden, war groß. Im Milieu der republikanisch und pazifistisch engagierten Vertreter der freien Berufe und Beamten (Juristen, Lehrer, Hochschullehrer, Journalisten, Ärzte) kam es bereits 1922 zu einer parallelen Organisationsgründung. In Deutschland konstituierte sich die Deutsche Liga für Menschenrechte [5] , die mit der Ligue des droits de l'homme [6] (bereits 1898 gegründet) in ein enges Kooperationsverhältnis eintrat. In den gemeinsamen Aktionen und Manifestationen standen die Werte der Rechtssicherheit und der Friedenssicherung obenan.

Abbildung 7:

Emil Mayrisch, ein luxemburgischer Großindustrieller, der 1926 ein "Deutsch-Französisches Studienkomitee gründete, dem führende Vertreter der Großindustrie, der Kultur und der Politik angehörten.

 

 

 

 

 

Internet-Quelle [7]

In Frankreich war der republikanisch-pazifistische Personenkreis ein staatstragender Teil der Bevölkerung; in Deutschland wurden die entsprechenden Kräfte in der Weimarer Republik fortschreitend marginalisiert, und sie gehörten zu den frühesten Opfern nationalsozialistischer Verfolgung. Auf breiterer Basis konstituierten sich in der Locarno-Ära [8] der Entspannungspolitik (etwa 1925 bis 1930) weitere Verständigungsorganisationen. Im Sozialmilieu des Bildungsbürgertums entstanden ab 1927 mit maßgeblicher Beteiligung der höheren Lehrberufe in Deutschland Deutsch-Französische Gesellschaften in größeren Städten. Ihr Pendant in Frankreich war die Ligue d'Etudes germaniques, die Ortsgruppen vor allem in größeren Provinzstädten hatte und dem französischen Interesse an Deutschland dienlich sein wollte. Im wirtschaftsbürgerlichen Bereich wurde durch die Vermittlung des luxemburgischen Großindustriellen Emil Mayrisch [9] 1926 ein Deutsch-Französisches Studienkomitee [10] gegründet, dem führende Vertreter der Großindustrie, der Kultur und der Politik angehörten. Es war als exklusives Konfliktschlichtungs-Gremium mit der damaligen internationalen Kartell-Bewegung verbunden und weniger der Öffentlichkeit zugewandt als die bildungsbürgerlichen Verständigungsorganisationen. Während diese über eigene Zeitschriften verfügten - erstmals in der Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen - ("Deutsch-Französische Rundschau", "Se connaître", "Revue d'Allemagne"), wirkte das Mayrisch-Komitee vorwiegend indirekt auf die großen Zeitungsredaktionen ein im Sinne der Versachlichung der Berichterstattung.

Abbildung 8:

René Cassin (1887-1976), Träger des Friedensnobelpreises 1968, zählte zu den Gründungsvätern und bedeutendsten Vertretern der Union Fédérale seit deren Gründung im Jahre 1917

 

 

 

 

Internet-Quelle [11]

In anderen Gesellschaftsmilieus blieben die zivilgesellschaftlichen Versuche organisierter Verständigung zwischen beiden Nationen in den Jahren 1919 bis 1939 weitgehend ohne Erfolg (z.B. im katholischen Milieu). In der gesellschaftlichen Großgruppe der Kriegsteilnehmer gab es hingegen in den linksorientierten Verbänden (Union Fédérale [12] und Reichsbund der Kriegsbeschädigten) ein konvergierendes Interesse an der Friedenssicherung und eine nachhaltige Kommunikationsbereitschaft, die über eine gemeinsame transnationale Dachorganisation gepflegt wurde. Relativ spät entstand 1930 auch eine Gesprächsgrundlage in der Jugendgeneration auf beiden Seiten des Rheins, die im "Sohlbergkreis [13] " eine lockere organisatorische Gestalt annahm.

Diese neuartigen organisierten Bemühungen um zivilgesellschaftliche Kontakte zwischen Deutschen und Franzosen wurden in den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft [14] in Deutschland von 1933 bis 1939 nicht auf der ganzen Linie rückgängig gemacht, sondern in mehrfacher Weise transformiert. In den Jahren 1933 bis 1936 wurden die demokratischen und pazifistischen Fundamente der Verständigungsorganisationen in personeller wie in ideeller Hinsicht zerstört. Der Name eines der wichtigsten Protagonisten aus ihrem Kreis wurde jedoch usurpiert, als im Oktober 1935 eine nationalsozialistische Deutsch-Französische Gesellschaft (DFG) ins Leben gerufen wurde, der auf französischer Seite ab 1936 ein Comité France-Allemagne als Partnerorganisation gegenüberstand.

Die NS-DFG und das Comité France-Allemagne übten von 1936 bis Kriegsbeginn (1939) vorwiegend die Funktion politischer Instrumente aus und entbehrten des zivilgesellschaftlichen Eigenlebens. Die NS-DFG wurde durch korporative Mitgliedschaft beruflicher Verbände zur Massenorganisation, das Comité France-Allemagne ein Sammelbecken von Gruppen und Individuen, deren kleinster gemeinsamer Nenner der Wille zum Friedenserhalt um jeden Preis war. Der Vorgang der politischen Vereinnahmung ursprünglich zivilgesellschaftlicher Kommunikationskanäle fand seinen Höhepunkt in den Kriegsjahren, als diese im nationalsozialistischen Besatzungsregime in Frankreich von 1940 bis 1944 zum Vehikel ideologischer Durchdringung und Beherrschung des Landes wurden, dem in umgekehrter französisch-deutscher Richtung jegliche entsprechende Möglichkeit der freien Selbstdarstellung fehlte. Diesem Zweck der kulturellen Durchdringung des besetzten Frankreich diente auch das Deutsche Institut in Paris, das vermittels eines Netzes von Filialen in der Provinz die gesellschaftlichen Austauschinteressen in die gewünschten Bahnen zu lenken hatte.

Abbildung 9:

Im militärischen Besatzungsregime Deutschlands nach 1945 gab es in der französischen Zone eine Direction culturelle, die sich besonders um die Aktivierung des Austausch zwischen jungen Deutschen und Franzosen bemühte.

 

 Internet-Quelle [15]

Im militärischen Besatzungsregime, dem Deutschland nach Kriegsende unterworfen war, gab es zwischen 1945 und 1949 zwar auch keine selbstbestimmte Darstellungs- und Austauschmöglichkeit von der deutschen Seite nach Frankreich. In der französischen Besatzungszone gab es jedoch in der Direction culturelle (insbesondere in der Abteilung Sports et Jeunesse) Kräfte, die davon überzeugt waren, dass die demokratische Umerziehung der Deutschen nicht mit undemokratischen Mitteln erfolgen könne. Sie setzten deshalb auf die Aktivierung spontanen Interesses besonders der jungen Deutschen an Frankreich und auf eine partnerschaftliche Zusammenarbeit im vorpolitischen Bereich. Hier zeichneten sich die ersten Ansätze einer neuen Periode zivilgesellschaftlicher Kooperation zwischen beiden Ländern ab, die für die zweite Hälfte des 20. Jh. bestimmend wurden.