- Bevölkerungsstruktur, Migration, Minderheiten
- Die sozialen und kulturellen Beziehungen Frankreichs und Deutschlands seit 1945
- Zum Nationsverständnis in Frankreich und Deutschland
- Zivilgesellschaftliche Kooperation zwischen Deutschland und Frankreich
- Einleitung
- Hintergründe
- Konsequenzen des Ersten Weltkriegs
- Der Einfluss der Pfarrer und Lehrer auf politische Mentalitäten
- Die Bedeutung der Agrarverbände
- Der Sieg radikaler politischer Parteien
- Das Jahr 1968 und die Folgen
- Begegnungen im Alltag
'Radikalisierung der politischen Meinungen'
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Radikalisierung der politischen Meinungen
Deutschnationale und Radicaux konnten in ihren regionalen Milieus über weite Strecken dominieren, weil sie neben dem lutherisch-konfessionalistischen bzw. antiklerikalen Mentalitätskern auch die seit dem 19. Jahrhundert daran angelagerten nationalistischen bzw. republikanischen Mentalitätsschichten am besten erreichten. Das nationalprotestantische Westmittelfranken hatte auf das Scheitern der Verbindung von ”Thron und Altar” und den Schock des ”Versailler Diktats [1] ” mit einer Flucht in den völkischen Nationalismus sowie verschärftem Antisemitismus reagiert. Abgesehen von einer schwachen Sozialdemokratie erfasste diese Ideologie die gesamte Lokalgesellschaft; sie wurde in besonderem Maße von den dezidiert völkisch auftretenden Deutschnationalen aufgegriffen, die dabei schon während ihrer Hochzeit in den zwanziger Jahren mitunter Mühe hatten, sich von den ”parteivölkischen” Nationalsozialisten abzugrenzen.
In der Corrèze dagegen stabilisierte der Sieg der Dritten Französischen Republik im Krieg gegen Deutschland, dem das Empire Napoleons III. 1870 noch unterlegen gewesen war, den ohnehin schon kräftigen ”republikanischen Nationalismus”; auch wenn dessen Überzeugungen von einer universalen Mission der französischen Zivilisation aus teils ähnlichen anthropologischen und soziologischen Wurzeln stammten wie der integrale Nationalismus in Westmittelfranken, kräftigte er doch innenpolitisch eindeutig die Parteien der Demokratie, der Menschenrechte und der Völkerverständigung. Dies gilt insbesondere für die auf dem ”republikanischen Nationalismus” gründende pazifistische Stimmung, die sich in der Corrèze naturgemäß besonders ausbreiten konnte. Die gesellschaftlich einflussreichen Kriegsveteranen, bis hin zur eigentlich eher rechtskonservativen Union Nationale des Combattants, kultivierten hier einen ”patriotischen Pazifismus der Sieger”, demzufolge der Große Krieg, koste es was es wolle, der letzte gewesen sein sollte.
Abbildung 7:
Das Bildnis Napoleons III. kräftigte, trotz der für Frankreich als Katastrophe empfundenen Niederlage im deutsch-französischen Krieg 1870/71, innenpolitisch eindeutig die Parteien der Demokratie, der Menschenrechte und der Völkerverständigung, im Gegensatz zur Reaktion nach dem Ersten Weltkrieg, der sowohl in Frankreich als auch in Deutschland die Entwicklung radikaler Strömungen anfachte.
Internet-Quelle (http://utopia.utexas.edu)
Für das stets wach bleibende Bewusstsein des grauenhaften Sterbens corrézischer Bauern in der französischen Infanterie, einen bis in die Kriegerdenkmäler hinein spürbaren Pazifismus, gab es in Westmittelfranken kein Äquivalent; hier entwickelte sich stattdessen ein schroffer ”Militarismus der Besiegten”, der den behäbigeren Stammtisch-”Militarismus der kleinen Leute” aus den Kriegervereinen des Kaiserreichs mit dem Ziel einer Revision von Versailles verhängnisvoll politisierte; die auf dem Nährboden der aufgelösten antibolschewistischen Einwohnerwehren gewachsenen Hauptträger dieser Ideologie – Wehrverbände wie Reichsflagge, Bund Oberland und Stahlhelm – wurden schon bald zu wichtigen Rekrutierungsfeldern für die rechten Parteien.
Auf den politisch gegensätzlich gelagerten Fundamenten formten sich in der Corrèze und Westmittelfranken auch die typischen regionalistischen und ”agraristischen” Bestandteile europäischer Provinzmentalität sehr unterschiedlich aus. Die nach 1918 ungebremst andauernden Prozesse von Industrialisierung und Landflucht erfuhren in der politischen Kultur Westmittelfrankens eine scharf antisozialistische und antiliberale Deutung, während in der Corrèze die liberalen Radicaux die speziell gegen Paris gerichtete Großstadtfeindschaft aufgriffen und die agrarromantischen Affekte gleichsam republikanisch-laizistisch einhegten. Regionalistische Potentiale, wie sie im südlichen Okzitanien aus der Bewegung Frédéric Mistrals [2] entstanden, blieben an seinem nördlichen corrézischen Saum, in einer jakobinisch-revolutionären Traditionslandschaft, politisch chancenlos, zumal katholische Kleriker sich bei diesem Thema stark exponierten. Im evangelischen Westmittelfranken speiste sich dagegen ein stark konfessionalistisch grundierter Regionalismus nach wie vor aus dem historischen Gefühl der kulturellen und wirtschaftlichen Benachteiligung gegenüber dem katholischen Altbayern, das in Zeiten ökonomischer Krisis von deutschnationaler und nationalsozialistischer Seite erfolgreich geschürt werden konnte.