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'Der Sieg radikaler politischer Parteien '
 
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Der Sieg radikaler politischer Parteien

In beiden Regionen hatte der Erosionsprozess der Milieuparteien neben der ökonomischen freilich auch eine politisch-ideologische Ursache: Im konservativen Westmittelfranken war es das Entsetzen über die Wahlerfolge der marxistischen Parteien bei den Wahlen 1928 und die Verzweiflung darüber, nun neben dem einflussreichen preußischen SPD-Ministerpräsidenten auch noch einen SPD-Reichskanzler an der Spitze des Staates - und womöglich bald einer ”Linksdiktatur”? - sehen zu müssen, wodurch sich die Bereitschaft zu einer nationalen Frontbildung unter Einschluss der schlagkräftigen NSDAP entscheidend verstärkte (Volksausschuss gegen den Young-Plan [1] , Bad Harzburg) und die ”Parteivölkischen” endgültig auch in bürgerlichen Kreisen salonfähig wurden. In der links orientierten Corrèze trat zur wirtschaftlichen Malaise die Furcht vor dem Faschismus, die sich hauptsächlich aus einer Fehlwahrnehmung der blutigen Pariser Demonstrationen vom 6. Februar 1934 und einer Überschätzung der von paramilitärischen Ligen wie den Croix de feu ausgehenden Gefahren speiste. Gleichwohl führte dies zu einer antifaschistischen Formierung der parteipolitisch disparaten Kräfte des republikanischen Laizismus, wobei antiklerikale Ressentiments abermals instrumentalisiert wurden. So irrationale Ängste der Volksfront wie auch der Harzburger Front [2] teilweise zugrunde lagen, so unterschiedlich waren ihre strategischen Ziele: Defensive Sorge um den Bestand der Republik bei der französischen Linken, offensive Hoffnung bei der deutschen Rechten, dem in einer schweren Staats- und Wirtschaftskrise agonierenden Weimarer Staat endlich den Todesstoß zu versetzen.

Abbildung 14:

"Bis in die dritte Generation müßt ihr fronen!" Plakat zum Volksbegehren gegen den Young-Plan.
Entwurf: Herbert Rothgängel. Reichsausschuß für das Deutsche Volksbegehren Berlin, Oktober 1929.

 

 

 

 

 

Internet-Quelle [3]

Die nationalen historischen Prozesse schlugen sich in der regionalen Parteienlandschaft in einem besonders rasanten Aufstieg von NSDAP bzw. SFIO, PCF und Parti agraire nieder, wobei den Positionen der traditionellen Meinungsführer in der evangelischen Agrarprovinz und auf dem republikanisch-laizistischen Land entscheidende Bedeutung zukam. Obwohl die NSDAP die nationalkonservativen Bauernführer nur selten ganz zu sich herüberziehen konnte, ging sie aus dem Kampf um den Landbund und um die politischen Sympathien seiner Mitglieder 1930 bis 1932 endgültig als Sieger hervor, nachdem die Landbundmänner inhaltlich nicht mehr eindeutig vom bloß radikaleren Nationalsozialismus zu unterscheiden waren, es den Agrarkonservativen nach dem Scheitern Schieles im Kabinett Brüning [4] und der Demontage Hindenburgs durch Hugenberg [5] an alternativen Politikentwürfen fehlte und ihre Distanz zur jungen NS-Bewegung schließlich als reiner Egoismus alter Verbandsfunktionäre erscheinen musste.

Abbildung 15:

Unter den Auswirkungen der Wirtschaftskrise und der Massenverelendung feierte die NSDAP bei der Reichstagswahl vom 14. September 1930 einen erdrutschartigen Wahlerfolg: Mit 18,3 Prozent wurde sie zweitstärkste Partei und konnte die Zahl ihrer Reichstagsmandate von 12 auf 107 erhöhen

 

 

 

Internet-Quelle [6]

Hinzu kam nach dem sensationellen Anschwellen der NSDAP bei den Septemberwahlen 1930 die weitgehende Eroberung des fränkischen Nationalprotestantismus, dem zentrale anti-ultramontane, ”vaterländisch”-militaristische, antisemitische und agrarromantische Programminhalte der NSDAP im Ansatz vertraut, allenfalls (noch) zu radikal vorkamen und der sich in seiner volksmissionarischen Furcht, nach der Arbeiterschaft auch noch das junge nationalsozialistische Bürger- und Bauerntum zu verlieren über durchaus vorhandene Bedenken religionspolitischer Art hinwegzutäuschen vormochte; zumal ihm das bedrohliche Anwachsen der bolschewistischen Gottlosenbewegung und Sorgen vor einer forcierten katholischen Gegenreformation keine andere Wahl zu lassen schienen. Mehr noch als unter den evangelischen Pfarrern wuchs die Anfälligkeit gegenüber dem Nationalsozialismus nur unter den wirtschaftlich depravierten (Jung-)Lehrern, deren tragende Rolle innerhalb der aktivistischen NS-Propaganda, aber ebenso im vorpolitischen Raum der Vereine sogar noch höher veranschlagt werden muss.

Teilten sich Lehrer und Pfarrer Westmittelfrankens in ihrem praktischen und ideologischen Einsatz für die ”nationale Front”, so übernahmen die corrézischen Instituteurs - angesichts der klerikalen Ohnmacht - für die antifaschistische Formierung des republikanischen Laizismus eine Doppelfunktion. Sie sorgten nicht nur - an der Seite der zunehmend SFIO-orientierten Freimaurerlogen und Menschenrechtsligen - für die geistige Mobilisierung pazifistischer und antiklerikaler Überzeugungen zugunsten der Volksfront, sondern engagierten sich selbst an vorderster Front immer zahlreicher in der demokratisch organisierten sozialistischen Partei, deren Reihen sich auch ein Jahrzehnt nach dem Spaltungskongress von Tours erst langsam wieder schlossen und die somit aufstrebenden Junglehrern ein viel erfolgversprechenderes Betätigungsfeld bot als die von alten Notabeln beherrschten Radicaux mit ihren undurchsichtigen paternalistischen Nominierungsprozeduren. Der Generationenkonflikt gewann also auch in der französischen Zwischenkriegszeit eine politische Dimension, wobei seine im Vergleich zu Deutschland geringere Brisanz einer gleichzeitig weniger extremen demographischen Entwicklung entsprach.

Abbildung 16:

Die politische Zusammensetzung der Volksfront-Regierung 1936-1940.

 

Internet-Quelle [7]

Die Fédération Faure, ohnehin nie so eindeutig auf den PRS fixiert wie der Landbund [8] auf die DNVP, sah sich im Zuge des Agrarprotests parteipolitisch neutralisiert, die Autorität ihres PRS-nahen Präsidenten wurde durch innerverbandliche Attacken von Anhängern des PCF und des Parti agraire untergraben; so nahm der Wert der Fédération für die Radicaux rapide ab. Zudem durch gravierende Korruptionsskandale geschwächt, als tragende Partei der Dritten Republik mit dem offensichtlichen Unvermögen des parlamentarischen Systems identifiziert, einen Weg aus der Staats- und Wirtschaftskrise zu finden, gebrach es den liberalen Radicaux - nicht anders als den deutschen Konservativen - an einem plausiblen Politikentwurf, so dass sie sich auf das waghalsige Abenteuer einließen, einerseits die letzten Regierungen vor den Volksfrontwahlen zu stellen und deren schmerzhafte Deflationspolitik mitzutragen, aber andererseits durch Beteiligung an der Volksfront [9] einem faktisch oppositionellen Bündnis mit weitreichenden sozialen Reformvorstellungen anzugehören. Von der Zerrissenheit und Schwäche des PRS profitierten nicht nur die Sozialisten, sondern im konservativeren Süden der Corrèze die bäuerliche Interessenpartei des Parti agraire sowie im ärmeren Norden der PCF, wobei bezeichnenderweise nur letzterer aufgrund seiner Beteiligung an der Volksfront einen greifbaren Wahlerfolg in Form eines Parlamentssitzes erzielte, während die Bauernpartei zu Unrecht in die Nähe der angeblich faschistischen ”Grünhemden” von Dorgères [10] gerückt wurde und in den Stichwahlen keine Chance hatte.

Tatsächlich aber konnte es schon aus taktischen Gründen weder eine linke noch eine rechte Protestformation an Bekundungen grundsätzlicher republikanischer Überzeugungstreue im Vorfeld der Wahlen fehlen lassen. Die Unzufriedenheit des Landvolks in der Corrèze hatte, anders als im antirepublikanischen Westmittelfranken, keinen systemsprengenden Impetus. Und während sich hier die Ideologie des Nationalsozialismus in ”bestehende Sinngewißheiten” (V. Sellin) konfessionalistischer, nationalistischer, militaristischer, regionalistischer und agrarromantischer Art einfügen ließ und so hohe Geltung gewinnen konnte, galt für den Faschismus in der antiklerikal, individualistisch, universalistisch und pazifistisch orientierten Corrèze eher das Gegenteil. Aus dem Milieu des republikanischen Laizismus führte nicht einmal eine schwache Spur zum Faschismus, vom Nationalprotestantismus zum Nationalsozialismus dagegen verlief eine breite Straße. Die stabilisierende Funktion des historischen Mythos von 1789 für die französische Zwischenkriegsdemokratie wird also besonders deutlich im Vergleich mit Deutschland; in dessen evangelischer Agrarprovinz hinterließ der zerstörte Mythos von Kaiser und Reich ein politisch-mentales Vakuum, welches die Weimarer Republik nicht schnell genug zu füllen vermochte.