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'Europapolitik als Deutschlandpolitik'
 
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Europapolitik als Deutschlandpolitik

Frankreich hat sich nach 1945 von Anfang an aktiv am europäischen Einigungsprozess beteiligt. Dabei war für Frankreich Europapolitik zugleich auch Deutschlandpolitik. Es ging nicht nur - nach Ausbruch des kalten Krieges und der beginnenden Ost-West-Konfrontation ab 1948 - um Sicherheit vor der Sowjetunion und deren Einflusszone, sondern immer auch um Sicherheit gegenüber dem deutschen Nachbarn nach drei deutsch-französischen Kriegen und einem Jahrhundert blutiger Konfrontation und tiefer Feindschaft. Beide Motive waren - und sind bis heute - untrennbar miteinander verbunden.

Frankreich war an den Konferenzen von Jalta und Potsdam nicht beteiligt, trat aber dem Potsdamer Abkommen [1] nachträglich bei und erhielt wie die USA, die Sowjetunion und Großbritannien die Rechte und Verantwortlichkeiten für Deutschland als Besatzungs- und Schutzmacht. In der unmittelbaren Nachkriegszeit war die französische Besatzungspolitik von dem Ziel beherrscht, Sicherheit vor Deutschland dadurch zu erlangen. Nach drei deutsch-französischen Kriegen seit 1870/71 und unter dem noch frischen Eindruck der nationalsozialistischen Aggressionspolitik sollte der besiegte Nachbar so entscheidend geschwächt werden, dass nie wieder von deutschem Boden aus eine Gefahr für Frankreich erwachsen könne. So lehnte die provisorische Regierung de Gaulles zunächst alle Versuche ab, eine einheitliche Verwaltung für alle vier Besatzungszonen in Deutschland einzurichten, weil sie darin die Gefahr eines wiederentstehenden deutschen Zentralstaates sah. Statt dessen forderte Frankreich die Bildung mehrerer Teilstaaten, die ständige Besetzung des Rheinlandes und eine internationale Kontrolle über das Ruhrgebiet, um so die Eisen- und Stahlindustrie als Basis der Rüstungsproduktion dauerhaft der deutschen Verfügungsgewalt zu entziehen. Darüber hinaus verfolgte Frankreich ab Ende 1946 die Abtrennung des Saarlandes von Deutschland und seine zunächst wirtschaftliche, dann auch politische Bindung an Frankreich.

Abbildung 11:

 Das Hauptquartier der französischen Militärverwaltung in Baden Baden
(Aufnahme 1949, Staatsarchiv Baden Baden) 

Die französische Besatzungszone [2]  wird erst nachträglich aus Gebieten der britischen [3]  und amerikanischen Zone [4]  gebildet. Sie liegt ganz im Südwesten Deutschlands, an der Grenze zu Frankreich und ist mit 39.000 qkm und 5,8 Millionen Einwohnern die kleinste Besatzungszone. Das Hauptquartier der französischen Besatzungstruppen unter General Koenig befindet sich im Hotel Stephanie in Baden-Baden (vgl. Bild). Im Gegensatz zu Briten und Amerikanern verfolgt Frankreich gegenüber Deutschland eine eigene, von einem starken Sicherheitsbedürfnis geprägte Politik.

Internet-Quelle [5]

Diese Politik erwies sich allerdings in dem Maße immer weniger als durchsetzungsfähig, wie die Allianz der vier alliierten Siegermächte gegenüber dem besiegten Deutschland zerbrach und von der Ost-West-Konfrontation abgelöst wurde. Damit stellte sich das deutsche Problem für die Westalliierten neu; im Rahmen der wirtschaftlichen und politischen Stabilisierung Westeuropas gegenüber der Machtsphäre der Sowjetunion galt es, das westliche Deutschland in das westeuropäische Bündnis einzubeziehen und zu stärken. Widerstrebend akzeptierte Frankreich 1948 die Zusammenlegung der westlichen Besatzungszonen und stimmte den Londoner Beschlüssen [6] vom 4.6.1948 zu, in denen die Grundlagen für die Schaffung der Bundesrepublik Deutschland gelegt wurden.

Abbildung 12:

 Die Londoner Beschlüsse 

Auf der Londoner Sechsmächtekonferenz im Frühjahr 1948 einigen sich die Westmächte und die Benelux-Länder auf die Schaffung eines westdeutschen Staates. Die Beschlüsse dieser Konferenz werden als "Frankfurter Dokumente" am 1. Juli 1948 den Ministerpräsidenten der westdeutschen Länder übergeben.

 

 

Internet-Quelle [7]

Damit setzte sich auch in Frankreich ein anderes deutschlandpolitisches Konzept durch, das man als Sicherheitspartnerschaft bezeichnen kann. Von Anfang an hatten hohe Beamte im Außenministerium eine solche Linie vertreten, wie sie etwa der diplomatische Mitarbeiter des französischen Militärgouverneurs in Berlin Anfang 1948 formulierte:

"Das Deutschland, das wir anstreben, soll ein Deutschland für Friedenszeiten sein. ... Anstatt ein Spielball in den Händen anderer Mächte zu werden, soll es das Gefühl haben, dass seine eigenen Interessen und seine Zukunft berücksichtigt werden. Was wir den Deutschen in der gegenwärtigen Zeit bieten können, ist eine wirksame und aktive Beteiligung am Wiederaufbau eines Europas, das wir als ein organisiertes und harmonisches Gebilde verstehen." (zit. nach Weisenfeld 1986, S. 31.)

In diese Richtung wirkten auch zahlreiche private Initiativen, die von Personen und Gruppierungen unterschiedlicher Herkunft getragen wurden und die sich aktiv für eine Aussöhnung mit Deutschland und die Aufnahme eines offenen deutsch-französischen Dialogs einsetzten. Stellvertretend für viele andere stehen die linkskatholische Zeitschrift Esprit um Emmanuel Mounier [8] und Joseph Rovan [9] , das 1948 gegründete Comité d´échanges avec l´Allemagne nouvelle mit Mounier und Alfred Grosser [10] , das im gleichen Jahr gegründete Deutsch-Französische Institut [11] in Ludwigsburg sowie die 1945 vom Jesuitenpater Jean du Riveau gegründete Gesellschaft für übernationale Zusammenarbeit bzw. Bureau International de Liaison et de Documentation [12] mit ihren Zeitschriften Dokumente [13] und Documents [14] .

Das Verdienst dieser Gruppierungen kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Ihre vielfältige Informations- und Aufklärungsarbeit stellte ein erstes Netz von Kontakten wieder her und bildete die unerlässliche Grundlage für die spätere Aussöhnung zwischen Franzosen und Deutschen. Auf ihrer Grundlage ist eine Art menschlicher Infrastruktur für die Beziehungen (Alfred Grosser) entstanden, die bis heute einzigartig ist und ein besonderes Qualitätsmerkmal der deutsch-französischen Beziehungen darstellt.

Abbildung 13:

Alfred Grosser

wurde 1925 in Frankfurt/Main geboren, ist seit 1937 französischer Staatsbürger und lehrte bis zu seiner Emeritierung am Institut d´etudes politiques in Paris. Der einflussreiche und international bekannte Politikwissenschaftler sieht sich als Mittler zwischen Franzosen und Deutschen, und hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, darunter zuletzt "Verbrechen und Erinnerung" (1990), "Mein Deutschland" (1993) und "Deutschland in Europa" (1998). Seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 hat Alfred Grosser die deutsche Politik ebenso aufmerksam wie kontinuierlich begleitet. Dabei hat der Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels es stets verstanden, Analyse und publizistische Wirkung miteinander zu verbinden.

Internet-Quelle

Video: http://www.dhm.de/lemo/objekte/video/
JahreDesAufbausInOstUndWest_videoSchumanPlan/index.ram [15]

Als geradezu paradigmatisch für eine positive Verknüpfung deutschland- und europapolitischer Zielsetzungen kann der Schuman-Plan [16] bezeichnet werden, aus dem 1952 die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS [17] ) hervorging. Der damalige französische Außenminister Robert Schuman [18] begründete seinen Vorschlag, die Kohle- und Stahlindustrie der sechs Staaten (außer Frankreich und Deutschland auch Italien und die Benelux-Staaten) gemeinsam zu verwalten und dazu gemeinsame politische Institutionen zu schaffen, wie folgt:

"Europa läßt sich nicht mit einem Schlage herstellen und auch nicht durch einfache Zusammenfassung: Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst die Solidarität der Tat schaffen. Die Vereinigung der europäischen Nationen erfordert, dass der jahrhundertealte Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland ausgelöscht wird. Das begonnene Werk muß in erster Linie Deutschland und Frankreich erfassen ... Die Solidarität der Produktion, die so geschaffen wird, wird bekunden, dass jeder Krieg zwischen Frankreich und Deutschland nicht nur undenkbar, sondern materiell unmöglich ist." (zit. nach Menyesch/Uterwedde 1988, S. 33)

Die EGKS war der eigentliche Startschuss zur späteren, mit den Römischen Verträgen 1957 gegründeten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft [19] (EWG). Sie nahm nicht nur die funktionale Methode der europäischen Integration vorweg, die darin bestand, durch die Herstellung sektoraler Wirtschaftsverflechtungen den Druck auf die politische Zusammenarbeit zu verstärken, also die Wirtschaft als Motor der politischen Integration zu nutzen. Der Schuman-Plan verband auch geschickt französische Sicherheitsinteressen gegenüber Deutschland mit den Motiven der Partnerstaaten und entschärfte das bilaterale Verhältnis, indem er es in einen größeren europäischen Rahmen einbettete. Für Frankreich lag der Vorteil darin, dass mit der Zusammenlegung der Montanindustrie, die damals noch als strategisch, weil für die Rüstung unentbehrliche Schlüsselindustrie angesehen wurde, eine Kontrolle über die deutsche Stahlproduktion gewährleistet war. Außerdem konnte Frankreich auf eine Führungsrolle in dem sich anbahnenden politischen Verbund hoffen und damit sein außenpolitisches Gewicht stärken. Für die teilweise noch unter Besatzungsrecht stehende, das belastende Erbe der verbrecherischen Hitler-Diktatur tragende Bundesrepublik war der Schuman-Plan eine Chance, die Abhängigkeit von alliierten Kontrollen durch eine gleichberechtigte Zusammenarbeit innerhalb eines europäischen Verbundes abzulösen und den Weg in die demokratische europäische Staatengemeinschaft zu finden.

Das Scheitern der Pläne für eine europäische Verteidigungsgemeinschaft zeigt allerdings auch Grenzen des europäischen Ansatzes auf, als es um die Frage der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik ging, die sich im Zuge des Ost-West-Gegensatzes immer nachhaltiger stellte. Als nach dem Ausbruch des Korea-Krieges 1950 die USA ihre europäischen Alliierten drängten, einem westdeutschen Verteidigungsbeitrag zuzustimmen, löste dies in Frankreich, sechs Jahre nach Ende des Weltkrieges und der Besetzung Frankreichs durch hitlerdeutsche Truppen, tiefgreifende Ängste aus. Verteidigungsminister René Pleven schlug die Bildung einer europäischen Armee vor, der auch einige deutsche Einheiten unterstellt sein sollten und die eine gemeinsame politische Führung nach dem Vorbild der Institutionen der EGKS erhalten sollten. Nach der Unterzeichnung des EVG-Vertrages [20] 1952 erfolgte eine leidenschaftliche Debatte in Frankreich, in deren Verlauf die Gegner der EVG - aus unterschiedlichen Lagern und mit unterschiedlichen Argumenten - schließlich die Oberhand behielten und den Vertrag 1954 zu Fall brachten. Zur Ironie der Geschichte zählt auch, dass die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik gleichwohl erfolgte - im Rahmen der daraufhin1954 gegründeten Westeuropäischen Union (WEU) und mit der Aufnahme der Bundesrepublik in die NATO.

Abbildung 14:

Angst vor der deutschen Wiederbewaffnung

In Frankreich gab es große Vorbehalte gegen die erneute Bildung von Streitkräften in Westdeutschland. Deshalb wurde ein Plan aufgestellt, der eine europäische Truppe vorsah (Pleven-Plan, der Name rührt von dem französischen Premierminister René Pleven her), die aus Soldaten der Mitgliedsstaaten bestand. Dieser Plan wurde nach langwierigen Verhandlungen stark modifiziert. Er mündete schließlich in den EVG-Vertrag (Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft), der am 27. Mai 1952 in Paris unterzeichnet wurde.

Internet-Quelle [21]

Dennoch setzte sich spätestens mit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1957 der kooperative Weg einer gemeinsamen politisch-wirtschaftlichen Integration durch. Der gemeinsame Weg Frankreichs und der Bundesrepublik in die EWG markierte einen neuen Abschnitt in den deutsch-französischen Beziehungen. Nunmehr waren beide Länder zu Partnern des europäischen Einigungsprozesses geworden, in dem sie aufgrund ihrer wirtschaftlichen und politischen Bedeutung sehr bald eine Schlüsselrolle einnahmen. Die damit eingeleitete neue Phase der Kooperation wurde auf bilateraler Ebene durch die Unterzeichnung des Vertrages über die deutsch-französische Zusammenarbeit am 22. Januar 1963 unterstrichen (Elysée-Vertrag [22] ). Mit diesem Vertrag wurde eine weitgehende Zusammenarbeit in der Außen- und Verteidigungspolitik, der Wirtschaftspolitik sowie im Kulturbereich vereinbart. Mit der anschließenden Gründung des Deutsch-Französischen Jugendwerkes [23] wurde eine originelle Institution geschaffen, die den Jugendaustausch zwischen beiden Ländern fördern sollte. Mit Hilfe des Jugendwerkes sind bis heute millionenfache Begegnungen zwischen jungen Menschen beider Länder ermöglicht worden - ein wesentlicher Beitrag zur Vertiefung der oben erwähnten menschlichen Infrastruktur der Beziehungen in Gestalt zahlloser Partnerschaften, Austauschprogramme und Begegnungen zwischen Deutschen und Franzosen. Schließlich stellte der Vertrag einen umfangreichen Konsultationskalender auf, in dem regelmäßige gemeinsame Sitzungen der Regierungen vorgesehen waren. Bis heute sind die halbjährlich stattfindenden deutsch-französischen Regierungskonsultationen ein wesentliches Element der Abstimmung zwischen beiden Staaten in Fragen der Europa- und internationalen Politik.

Für die deutschland- und europapolitischen Motive Frankreichs spielten - und spielen heute noch - zwei miteinander verbundene Elemente eine große Rolle: die Einbindung des deutschen Nachbarn in die europäisch-atlantische Integration und das Gleichgewicht in den bilateralen Beziehungen.

Für Frankreich war die doppelte Integration der Bundesrepublik Deutschland in das atlantische Verteidigungsbündnis und in die Europäische Gemeinschaft eine wichtige Garantie gegen etwaige deutsche Unwägbarkeiten (incertitudes allemandes). Folglich blieb es ein konstantes Ziel französischer Außen- und Europapolitik, diese Einbindung des deutschen Partners zu festigen. Jedesmal, wenn die deutsche Westbindung sich zu lockern schien, reagierte die französische Seite besorgt. Dies galt gegenüber der aktiven deutschen Ostpolitik ab 1969 (obwohl diese sich klar im Rahmen des westlichen Bündnisses bewegte) ebenso wie gegenüber den innenpolitischen Auseinandersetzungen um die Stationierung amerikanischer Pershing-Raketen im Rahmen der NATO-Nachrüstungs-Debatte und den darin zum Ausdruck kommenden pazifistischen Tendenzen Anfang der achtziger Jahre. Und natürlich gewannen diese Fragen mit der deutschen Einheit und dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Mittel- und Osteuropa, die Deutschland wieder in das Zentrum Europas rückten und neue Perspektiven außenpolitischer Nachbarschaft eröffneten, für Frankreich neue Aktualität. Die Bekräftigung der West- und Europaeinbindung als Ziel auch des vereinigten, größer gewordenen Nachbars Deutschland stellte aus französischer Sicht daher eine zentrale Voraussetzung dar, den Einheitsprozess zu akzeptieren. Der 1992 abgeschlossene Vertrag von Maastricht [24] zur Vertiefung der europäischen Union war in dieser Hinsicht aus französischer Perspektive eine Nagelprobe für den politischen Willen des vereinten Deutschland, weiter an der europäischen Integration festzuhalten.

Das für Frankreich sehr wichtige psychologische Gleichgewicht der deutsch-französischen Beziehungen [25] bestand über Jahrzehnte hinweg darin, dass die wachsende Stärke der westdeutschen Wirtschaft und der DM als Anker der europäischen Währungsunion wettgemacht wurde durch die besondere Führungsrolle Frankreichs in außen- und sicherheitspolitischen Fragen. Dieses Gleichgewicht ist mit der deutschen Einheit empfindlich in Unordnung geraten, nachdem Frankreich seinen Status als alliierte Schutzmacht verlor und die Bundesrepublik die uneingeschränkte Souveränität erlangte. Während Frankreich also die Umbrüche in Europa als teilweisen Verlust seiner bisherigen privilegierten Position erlebte und seine Rolle in der veränderten Situation neu finden musste, hat auch das vereinte Deutschland noch Probleme, seine neue, gewachsene außenpolitische Rolle und Verantwortung zu finden und wahrzunehmen. Daraus ergaben sich zunächst auf beiden Seiten Irritationen, die aus Unsicherheiten über die wirklichen Absichten des Partners herrührten. Indessen: das Vertrauenskapital der deutsch-französischen Beziehungen ist nach Jahrzehnten einer produktiven Partnerschaft groß genug, um eine neue Basis der Bewältigung gemeinsamer Herausforderungen in Europa zu finden.

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