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'Ein Europa, zwei Visionen? Vom produktiven Umgang mit Unterschieden'
 
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Ein Europa, zwei Visionen? Vom produktiven Umgang mit Unterschieden

Die deutsch-französische Partnerschaft hat von Anfang an eine Schlüsselrolle für die europäische Integration eingenommen. Viele wesentlichen seit 1958 sind deutsch-französischen Initiativen zu verdanken. Bis heute gilt der Grundsatz, dass in der EU nichts geht, solange Frankreich und Deutschland keine gemeinsame Linie gefunden haben - sehr zum Ärger mancher Partner, die wiederholt den deutsch-französischen Führungsanspruch kritisch thematisiert haben. Dabei ist die Geschichte der europäischen Integration seit 1958 auch die Geschichte deutsch-französischer Kontroversen. Häufig vertraten Bonn und Paris unterschiedliche, ja gegensätzliche Positionen, wenn es um die Fortentwicklung der europäischen Politik ging. Mehr als einmal bildeten die französische und die deutsche Position die beiden gegensätzlichen Pole innerhalb des Spektrums der EU-Staaten.

Abbildung 15:

Pressekonferenz nach dem Gipfeltreffen in Maastricht

 

 

 

Internet-Quelle

Dies begann bereits mit der grundsätzlichen Einstellung zu den Zielen der europäischen Integration. Diese hatte für Frankreich als einem Land mit ungebrochener nationalstaatlicher Tradition - neben den erwähnten deutschlandpolitischen Motiven - im wesentlichen eine instrumentelle Funktion. Diejenigen Zielsetzungen, die im nationalstaatlichen Rahmen alleine nicht mehr erfolgreich verfolgt werden konnten, sollten nunmehr auf europäischer Ebene erreicht werden. Die europäische Integration war somit Instrument zur Bewahrung des Nationalstaates und zur Abstützung der außenpolitischen Ambitionen Frankreichs, nicht aber - wie in Westdeutschland - zur Überwindung des Nationalstaates. Folglich bevorzugte Frankreich eine intergouvernementale Interpretation der Römischen Verträge: eine Zusammenarbeit von Staaten, die ihre Souveränität im übrigen behielten. Der im EWG-Vertrag angelegten, von der Bundesrepublik nachdrücklich unterstützten föderalen Dynamik begegnete vor allem das gaullistische Frankreich in den sechziger Jahren mit starkem Misstrauen. Dies führte mit dem institutionellen Konflikt um die Einführung des Mehrheitsvotums im EWG-Ministerrat 1965/66 zu einer ersten ernsthaften Krise der Gemeinschaft. Es dauerte lange Zeit, bis Frankreich Mehrheitsentscheidungen in Brüssel akzeptierte und der Aufwertung des Europäischen Parlaments [1] mit der Einführung der Direktwahl 1979 zustimmte. Bis heute tut sich Frankreich - ähnlich wie Großbritannien oder Dänemark - schwer, wenn es bei der Fortentwicklung der EU-Institutionen um Einschränkungen der nationalen Handlungsfreiheiten geht. Hier liegt auch bis heute ein Widerspruch der französischen Europapolitik, die häufig ehrgeizige Ziele für gemeinsame EU-Politiken formuliert, aber vor entsprechenden institutionellen Konsequenzen zur Herstellung einer handlungsfähigen Union zurückschreckt und mit supranationalen Institutionen wie dem Europäischen Parlament nach wie vor nur wenig anfangen kann. Zwar hat der Konflikt insofern an Schärfe verloren, als auch die deutsche Seite ihre ursprünglichen Lippenbekenntnisse zugunsten eines europäischen Bundesstaates seit langem verwässert hat und beide Seiten nach pragmatischen Lösungswegen zu suchen bereit sind. Dennoch bleibt eine Reibungsfläche zwischen den unterschiedlichen institutionellen Konzepten für die Europäische Union bestehen.

Ein weiterer Konfliktpunkt der sechziger Jahre war das Verhältnis zu den USA und die damit verbundene Rollendefinition der Europäischen Union. Während das gaullistische Frankreich seine Vision eines europäischen Europa durch Distanz zur westlichen Führungsmacht erreichen wollte, vertrat die Bundesrepublik eine entgegengesetzte Position, weil die enge Verbundenheit mit den USA aufgrund der spezifischen Sicherheitsabhängigkeiten unverzichtbar war. Davon abgeleitet unterschieden sich Bonn und Paris auch in der Frage des britischen EWG-Beitrittes, der von der Bundesrepublik gefordert wurde, von de Gaulle aber wegen der britischen transatlantischen Bindungen scharf abgelehnt wurde (erst Georges Pompidou [2] öffnete ab 1969 Großbritannien den Weg in die Gemeinschaft). Geradezu paradigmatisch wurde dieser Gegensatz mit der Unterzeichnung des Deutsch-Französischen Vertrags in aller Schärfe offengelegt. De Gaulle hatte, nachdem seine Vorschläge für eine engere außenpolitische Zusammenarbeit (Fouchet-Plan [3] ) bei den EWG-Partnern auf Widerstand gestoßen waren, mit dem deutsch-französischen Vertrag von 1963 die Bundesrepublik für seine außenpolitischen Zielsetzungen gewinnen wollen. Gerade dies rief in der Bundesrepublik innenpolitischen Widerstand gegenüber dem Vertrag hervor, dessen ehrgeizige Formulierungen auf privilegierte außen- und sicherheitspolitische Beziehungen zwischen Bonn und Paris hinausliefen. So wurde dem Vertrag bei seiner Ratifizierung im Bundestag eine erläuternde Präambel vorangesetzt, die die Grundsätze der westdeutschen Außenpolitik bekräftigten und indirekt eine Absage an die französischen Pläne bedeuteten. Dies rief wiederum in Paris ernsthafte Verstimmungen und Zweifel am Wert des eben geschlossenen Vertrages hervor. Welch ein Fehlstart für einen Vertrag, der später zum Inbegriff erfolgreicher deutsch-französischer Kooperation werden sollte! Seither ist auch dieser Konflikt in dem Maße weitgehend entschärft worden, wie die Suche nach einer eigenständigen außenpolitischen Rolle Europas in den Folgejahren weniger gegen die USA gewendet wurde und die seit 1970 begonnene, immer engere außenpolitische Abstimmung der EU-Mitgliedstaaten ihre Früchte zu tragen begann. In jüngerer Zeit hat Frankreich eine Wiederannäherung an die NATO eingeleitet, die allerdings mit der Forderung nach einer Aufwertung der europäischen Staaten innerhalb des Bündnisses verknüpft wird - eine Forderung, die heute im Grundsatz auch von deutscher Seite geteilt wird.

Weiter aktuell bleibt ein drittes Konfliktfeld, die Wirtschaftspolitik. Seit den sechziger Jahren sind die unterschiedlichen Wirtschaftsphilosophien beider Staaten mehrfach aufeinandergeprallt: In der Außenhandelspolitik steht dem deutschen Verlangen nach Freihandel eine französische Position gegenüber, die bis heute in Einzelfällen eine EU-Präferenz für legitim hält und bei den GATT-Verhandlungen stets zäh um Ausnahmeregelungen für die Landwirtschaft und die Filmindustrie kämpfte. Die wiederholte französische Forderung nach einer gemeinsamen EU-Industriepolitik stieß sich am deutschen Misstrauen gegenüber jeglicher staatlicher Strukturlenkung nach französischem Vorbild. Zwar hat Frankreich im Maastricht-Vertrag erreicht, dass die Industriepolitik in den Kreis der Gemeinschaftspolitiken aufgenommen wurde, aber Deutschland bestand in dieser Frage darauf, dass Entscheidungen nur einstimmig zustande kommen. Umgekehrt war Frankreich mehr als irritiert, wenn die deutschen Lippenbekenntnisse zur Marktwirtschaft mit ausgedehnten, wenig marktkonformen Subventionspraktiken einhergingen. Schließlich verfolgten beide Länder unterschiedliche Strategien bezüglich der europäischen Währungsunion. Während Frankreich sich schon immer für eine schnelle Einführung der Währungseinheit aussprach, plädierte Deutschland dafür, zunächst die wirtschaftlichen Voraussetzungen durch Konvergenz der ökonomischen Grunddaten (Inflation, Verschuldung usw.) zu schaffen. Auch nachdem sich die deutsche Position weitgehend durchgesetzt hatte und früher kontroverse Fragen wie die Unabhängigkeit der Notenbank oder der Vorrang der Stabilitätspolitik von Frankreich längst akzeptiert wurden, kehrte zunächst keine Ruhe ein. Dem deutschen bis ans Unerbittliche gehenden Verlangen nach unbedingter Haushaltsstabilität stand die französische Position entgegen, die die einseitige Stabilitätsorientierung ablehnte und der Wirtschaft Luft zum Atmen lassen wollte. Die französische Forderung, der Europäischen Zentralbank (EZB) eine Art europäischer Wirtschaftsregierung gegenüberzustellen, wurde in Deutschland als Versuch gewertet, die im Maastricht-Vertrag festgeschriebene Unabhängigkeit der EZB zu unterlaufen. Diese Beispiele ließen sich beliebig verlängern. Sie verweisen darauf, dass auch nach der Annäherung der wirtschaftspolitischen Grundoptionen (beide Länder vertreten eine marktwirtschaftliche, stabilitätsorientierte Wirtschaftspolitik) zahlreiche Reibungsflächen existieren, die zudem häufig emotional aufgeladen und zu Prestigefragen hochstilisiert werden.

Abbildung 16:

Europäische Zentralbank

Das Europäische System der Zentralbanken (ESZB) besteht aus der Europäischen Zentralbank (EZB) und den nationalen Zentralbanken (NZBen) [EN] aller 15 EU-Mitgliedstaaten. Der Begriff "Eurosystem" bezeichnet die EZB und die NZBen der Mitgliedstaaten, die den Euro eingeführt haben. Die NZBen der Mitgliedstaaten, die nicht am Euro-Währungsgebiet teilnehmen, sind jedoch Mitglieder des ESZB mit einem besonderen Status - es ist ihnen gestattet, ihre jeweilige nationale Geldpolitik durchzuführen, sie sind aber nicht am Entscheidungsprozess hinsichtlich der einheitlichen Geldpolitik für das Euro-Währungsgebiet und der Umsetzung dieser Entscheidungen beteiligt.

Internet-Quelle

Angesichts dieser langen Liste an Divergenzen und Konflikten erscheint die Frage legitim, wie denn Frankreich und Deutschland ihre Führungsrolle in der Europäischen Union überhaupt haben ausüben können. Die Antwort ist nur scheinbar paradox: nicht obwohl, sondern gerade weil die Ausgangspositionen der deutschen und der französischen Seite so häufig auseinander lagen, hat die Zusammenarbeit beider Staaten eine Schlüsselrolle für den Fortgang der europäischen Integration erhalten. Denn gerade mit ihrer wiederholt unter Beweis gestellten Fähigkeit, Unterschiede zu überwinden und sie durch gemeinsame Arbeit tragfähigen Lösungen zuzuführen, konnten Bonn und Paris wegweisend auch für die übrigen EU-Partner sein. Nicht die Divergenzen sind also wichtig, sondern der konstruktive Umgang mit ihnen: die Fähigkeit, unterschiedliche Positionen zusammenzuführen. Entscheidend dabei war und ist, dass beide Partner aus den Belastungen der gemeinsamen Geschichte heraus ein Bewusstsein für ihre besondere Verantwortung in Europa gewonnen haben und weil sich in den vergangenen Jahrzehnten enger Kooperation eine Vertrauensgrundlage zwischen beiden Ländern herausgebildet hat. Das Beispiel der Währungsunion zeigt zudem, wie manche Kontroversen durch den Gang der Geschichte abgeschliffen werden. Nachdem Deutschland (wie Frankreich) im Jahre 2004 die Vorgaben des Stabilitäts- und Wachstumspaktes zum dritten Mal hintereinander nicht wird erfüllen können, gibt es neue Chancen für mehr Gemeinsamkeit.

Bei alledem gilt: die deutsch-französische Zusammenarbeit muss bei allen erzielten Erfolgen ihre Fähigkeit, Motor der europäischen Integration zu sein, stets neu beweisen. Dieses Handeln für Europa wird angesichts der vor der Europäischen Union stehenden Herausforderungen (Währungsunion, EU-Erweiterung, institutionelle Reform, Außen- und Sicherheitspolitik) nicht leichter. Denn eine deutsch-französische Einigung ist nicht mehr automatisch eine gute Entscheidungsgrundlage für die EU; Paris und Berlin müssen mehr als bisher für die Mehrheitsfähigkeit ihrer Vorschläge arbeiten. Hinzu kommt, dass die europäische Wirtschaftsintegration ein Stadium erreicht hat, in dem sie immer stärker in tradierte innen- und gesellschaftspolitische Handlungsfelder hineinwirkt: das Beispiel der Wirtschafts- und Währungsunion mit ihren einschränkenden Auswirkungen auf die nationale Konjunktur-, Haushalts- und Geldpolitik ist ein ebenso beredtes Beispiel wie die wachsende Standortkonkurrenz im Zeitalter der Globalisierung, in der auch Fragen der sozialen Sicherung, der Steuerpolitik und der Effizienz der staatlichen Verwaltung zu Problemen der wirtschaftlichen Attraktivität und Wettbewerbsfähigkeit werden. Damit rückt die Frage nach der Gestaltung des gemeinsamen europäischen Wirtschafts- und Währungsmodells immer mehr in den Mittelpunkt der EU-Politik. Sie erfordert die verstärkte Einbeziehung der wirtschaftlichen und sozialen Akteure und neue Formen des transnationalen Dialogs, der sich dem gemeinsamen Nachdenken über die zentralen Herausforderungen unserer Gesellschaften widmet.

"Die Fähigkeit zum gemeinsamen Handeln für Europa hängt also von der Dialog- und Kooperationsfähigkeit beider Gesellschaften ab. Diese kann umso mehr Substanz gewinnen, je mehr sich die Akteure und Entscheidungsträger in allen gesellschaftlichen Bereichen daran gewöhnen, über ihre bisherigen Grenzen hinaus zu denken und sich zu verständigen. Das Europa der Bürger ist keine Frage von verordneten Symbolen und gnädig gewährten Erleichterungen. Es kann nur von den Bürgern selbst, also in erster Linie von den meinungsbildenden Repräsentanten der Zivilgesellschaft entwickelt und getragen werden." (Kolboom/Picht 1995, S. 361)

Hier könnte ein neues Aufgabenfeld für die deutsch-französischen Beziehungen liegen, die sich durch ein breites Spektrum zivilgesellschaftlicher Kontakte und Partnerschaften auszeichnen und damit gute Voraussetzungen dafür bieten, einen Beitrag zur Herausbildung einer europäischen Gesellschaft zu leisten.