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'Die strukturellen Veränderungen der bilateralen Zusammenarbeit'
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Die strukturellen Veränderungen der bilateralen Zusammenarbeit
Die Generation der Pioniere auf dem "deutsch-französischen Feld" kämpfte jahrzehntelang für mehr Austauschmaßnahmen und vergleichende Analysen sowie für den Aufbau enger Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich. Persönlichkeiten aus den verschiedensten Fachbereichen und Politiker haben so die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern geprägt und verkörpert. Weil diese Männer und Frauen an die deutsch-französische Aussöhnung und das europäische Aufbauwerk glaubten, als sich Europa gerade erst von der Zerstörung des Zweiten Weltkrieges und von der grauenhaften Erfahrung des Nationalsozialismus erholte, und weil sie sich engagierten, wurden diese Aussöhnung und das Aufbauwerk möglich. Beides hat die Welt dauerhaft verändert.
Der Deutschlandbesuch Charles de Gaulles im Jahre 1962
(Quelle: www.dhm.de/lemo/html/DasGeteilteDeutschland/DieZuspitzungDesKaltenKrieges/TeilungDeutschlands/deutschFranzoesischeBeziehungen.html)
Heute sind die deutsch-französischen Beziehungen [1] so weit gediehen, dass Tabus verschwunden sind und Meinungsverschiedenheiten offen angesprochen werden. Im Grunde liegt darin die größtmögliche Belohnung für all die Anstrengungen von mehr als fünfzig Jahren: Ihnen verdanken wir es, dass wir heute ungezwungen und vertrauensvoll miteinander sprechen können. Auf diesem tragfähigen Fundament müssen wir heute gemeinsam die Herausforderungen von morgen meistern und dabei die strukturellen Veränderungen in der bilateralen Zusammenarbeit akzeptieren, die im letzten Jahrzehnt eingetreten sind.
Die Wiedervereinigung Deutschlands und auch der Umzug der Bundesregierung nach Berlin versinnbildlichen das Wiedererstehen eines selbstbewussten Deutschlands, das seine nationale Identität behaupten möchte und sich seiner Verantwortung in Europa bewusst ist. Die neuen Ziele der Europäischen Union, sei es die politische Integration oder die Erweiterung, setzen ihrerseits den Verzicht auf Souveränitätsrechte voraus - auch für die großen Mitgliedsstaaten der Union -, der nicht leicht zu leisten ist, sowie eine neue Standortbestimmung des deutsch-französischen Paares im Verhältnis zu den übrigen Mitgliedstaaten. Durch die Globalisierung wiederum werden Deutsche und Franzosen dazu angeregt, ihre Beziehung "operativ" zu gestalten, um schwierige Herausforderungen wie beispielsweise die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und die wachsenden sozialen Ungleichheiten, die Fragen im Zusammenhang mit der Bioethik oder auch der Zuwanderung meistern zu können. Während in der Vergangenheit die Annäherung zwischen Deutschland und Frankreich im Mittelpunkt unserer bilateralen Beziehungen stand, geht es heute darum, in größeren europäischen und internationalen Foren zu argumentieren, in denen Deutsche und Franzosen selbstverständlich "im selben Boot" sitzen und gemeinsame Werte und Interessen schützen müssen.
Aber die noch grundlegendere Veränderung in unserem bilateralen Verhältnis ist zweifellos der Generationenwechsel. Abgesehen von den Themen sind auch die Akteure der deutsch-französischen Beziehungen heute nicht mehr von dem Bedürfnis nach Aussöhnung geprägt, das in der Nachkriegszeit die stärkste politische und moralische Motivation für die Annäherung zwischen unseren beiden Ländern darstellte. Diese Feststellung gilt bei weitem nicht nur für die neue Generation von Politikern und Politikerinnen, die heute Verantwortung trägt und im allgemeinen die schmerzhafte Erfahrung des Krieges nicht gemacht hat, sondern natürlich auch für die gesamte neue Generation von Experten der deutsch-französischen Beziehungen, für die Wissenschaftler, für die Studenten und die Arbeitnehmer und natürlich auch für den normalen Bürger, der seine wie auch immer gearteten Kontakte zum Nachbarland hat. Alle gehören der "Generation 1963" an und sind so jung wie der Elysée-Vertrag [2] oder sogar noch jünger. Sie sind also mit außerordentlich engen bilateralen Beziehungen aufgewachsen, sie agieren auf einem bestellten Feld. Sie wurden in einem europäischen Rahmen sozialisiert, der zum selbstverständlichen Bezugspunkt für jede einzelne Kontaktaufnahme zwischen Deutschland und Frankreich geworden ist.
Deutsch-französischer Freundschaftsvertrag
Im sogenannten Elysée-Vertrag wird eine weitreichende politische, wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit beider Länder vereinbart.
Paris, 10. Juni 1963
Papier, Wachs, Textil (Reproduktion)
35,1 x 23 cm
Haus der Geschichte, Bonn
EB-Nr.: 1994/05/0252
(Quelle: www.dhm.de/lemo/html/DasGeteilteDeutschland/DieZuspitzungDesKaltenKrieges/TeilungDeutschlands/deutschFranzoesischeBeziehungen.html)
Das deutsch-französische Verhältnis lebt also heute nicht mehr aus sich selbst heraus: Es ist nicht mehr ausschließlich Selbstzweck und muss sich über sich selbst hinaus definieren. Die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern sind somit vor allem Opfer ihres eigenen Erfolgs. Viele der Ideale und Ziele, die in der Aussöhnungsphase formuliert wurden, sind heute erreicht, unter anderem die Entmystifizierung des Partnerlands. Die gegenseitige Faszination im Zusammenhang mit einem konfliktbeladenen Verhältnis ist in der Tat verschwunden, weil die Tradition des Hasses und der Feindseligkeit zwischen unseren beiden Ländern ein für alle Mal beendet ist.
Charles de Gaulle und Konrad Adenauer bei der Unterzeichnung des Elysée-Vertrags
(Quelle: www.ofaj.org/netzwerk/grund/vertrag63.html)
Deutsche und Franzosen stehen heute vor denselben Alltagsschwierigkeiten, was unter anderem zu einer Normalisierung, ja Banalisierung unseres bilateralen Verhältnisses geführt hat. Ein Franzose, der seit fünf Jahren in Berlin oder in Stuttgart lebt, sucht im deutschen Alltagsleben vergeblich die faszinierende Tradition der Romantik, die Spuren der Träumereien von Madame de Stael oder die Seelentiefe von Wagner. Ein Deutscher, der das starre französische Schulsystem kennengelernt hat, glaubt nicht mehr an Schlagworte wie "liberté toujours", in den Vororten sucht er vergeblich die berühmte Eleganz, und im Café Flore trifft er keinen einzigen Existenzialisten mehr. Aber beide haben ihre Freunde und Lebensgefährten im anderen Land, kommunizieren ganz selbstverständlich in beiden Sprachen, gehen zum Arzt, unterschreiben Mietverträge und Versicherungspolicen. Ihr Alltag ist gelebtes Europa. Wer die Zusammenarbeit als etwas Selbstverständliches betrachtet und praktiziert, gibt im allgemeinen auch wenig Grundsatzerklärungen zu diesem Thema ab. Was ist daran bedauerlich oder gefährlich?
Das deutsch-französische Verhältnis wird sich nur umso stärker als eine Methode der unerlässlichen, wirkungsvollen Zusammenarbeit im Rahmen der Europäischen Union durchsetzen. Es ist unerlässlich, um gemeinsam die Zustimmung von Drittländern zu den Integrationspolitiken der Europäischen Union und zu ihrer Erweiterung um die mittel- und osteuropäischen Länder oder den Mittelmeerraum zu gewinnen. Der deutsch-französische Dialog verfügt dazu über ein dichtes, vielfältiges Netz bilateraler Strukturen. Im Grunde geht es heute darum, die Früchte des Erfolgs zu ernten, aber gleichzeitig dieses hart erarbeitete Potenzial nicht zu verschwenden, indem man im Status quo verharrt, sondern es einzusetzen, um die grundlegenden Unterschiede zwischen den kulturellen Tendenzen in Europa zu verbalisieren, um nach gemeinsamen europäischen Antworten auf Fragen wie die der Biotechnologie oder des Verhältnisses zum Islam zu suchen und auf diese Weise Europa als Wertegemeinschaft voranzubringen.