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Saint-Pierre
Schon früh drängte es Saint-Pierre dazu, sich für die Versöhnung unter den Menschen einzusetzen. Zu seiner Konfirmation änderte er seine Vornamen von Charles-François in Charles-Irénée – Karl der Friedliebende, Karl der Friedensstiftende. Als ,Teenager‘ fühlte er sich immer verpflichtet, die Streitigkeiten seiner Nachbarn in Saint-Pierre-Église in der Normandie, wo er lebte, zu schlichten. Sein Vater, der den Namen Castel trug, war ein Baron und leitete seinen Namen von dieser Stadt ab. Unser Autor wurde 1658 geboren. Er erhielt eine konventionelle katholische Erziehung und später die niederen Weihen, obwohl sein Glaube ziemlich oberflächlich war. Im Alter von 22 verließ er als junger Mann mit selbständigen Ideen im Kopf die Normandie und machte sich nach Paris auf. Dort begeisterte er sich anfangs dem Zeitgeist folgend für Naturwissenschaften, entdeckte aber bald für sich als Mentoren Plutarch (politische Philosophie) und Descartes (Wissenschaftstheorie). Ein englischer Herausgeber seiner Werke beschrieb ihn später wie folgt: „Er soll außerordentlich lernbegierig, aber von einer sehr schwachen körperlichen Konstitution gewesen sein.“
Saint-Pierre erfuhr jedoch recht schnell Anerkennung und wurde sogar zum Mitglied der Académie Française gewählt (3. März 1695). Zwar wurde er bald wieder ausgeschlossen, aber zunächst verschaffte ihm dies Zutritt zu den Pariser intellektuellen Kreisen wie dem (schon im Niedergang befindlichen) Club de l’Entresol und zu einigen Salons. Vor allem Madame Lambert und noch mehr Madame Dupin fühlte er sich geistig verbunden. Nur die Damen brachten die Geduld und Höflichkeit auf, den endlosen Darlegungen seiner Pläne für eine Verbesserung der Menschheit zuzuhören. Die Herren in den Salons fanden ihn zumeist unerträglich. In seinen Caractères (1688) zeichnete Jean de La Bruyère (1645-1696) ein scharfes Bild von Saint-Pierres Unsoziabilität: „Er bittet Leute, die er nicht kennt, ihn zu anderen Leuten mitzunehmen, die er auch nicht kennt… Er schleicht sich in die Kreise respektabler Persönlichkeiten ein, die überhaupt nichts von ihm wissen, und dort ergreift er, ohne dazu aufgefordert worden zu sein und ohne zu merken, dass er andere unterbricht, das Wort und spricht schnell und lächerlich." Da die Damen mehr Toleranz gegenüber seiner Taktlosigkeit bewiesen als die Herren, war es schließlich eine dieser Damen, die ihm eine zufriedenstellende Anstellung verschaffte: Er wurde Kaplan der Herzogin von Orléans, der Mutter des zukünftigen Regenten während der Minderjährigkeit Ludwigs XV. Saint-Pierre erreichte ein hohes Alter und starb 1743.
Sein Plan für einen ewigen Frieden wurde erstmals in Köln 1712 gedruckt. Der Titel lautete "Mémoire pour rendre la paix perpétuelle en Europe". Schon 1713 erschien in Utrecht eine zweibändige zweite Auflage, in der die erfolgten Kritiken eingearbeitet waren. 1714 kam es zu einer ersten englischen Übersetzung (des ersten Bandes): A project for Settling an Everlasting Peace in Europe. Saint-Pierre arbeitete den Plan weiter aus und schob 1717 einen dritten Band nach. Der Titel war inzwischen zu umständlicher Länge angewachsen und enthielt Verweise auf den Großen Plan Heinrichs IV., der von Königin Elisabeth I. und König Jakob I. von England sowie von den meisten anderen Potentaten Europas befürwortet worden sei. 1729 gab der Abbé einen Auszug heraus, den er 1738 noch einmal überarbeitete.
Saint-Pierre legte fünf Propositionen vor, mit denen er den Fürsten Europas beweisen wollte, welch unschätzbaren Vorteile ihnen die Zustimmung zu einem System, das einen ewigen Frieden gewährleistete, erbringen würde. Die erste Proposition enthält den Kern des Werks, insbesondere den Entwurf zu einem Vertrag. Dieser ist in zwölf Fundamental-, acht wichtige und acht nützliche Artikel unterteilt, die im Abrégé auf fünf Fundamentalartikel zusammengeschmolzen sind. Als nächstes folgt eine Auflistung von Einwürfen gegen den Plan, die Saint-Pierre nacheinander abarbeitet.
Im Abrégé lautet die erste zu beweisende Proposition: „Es ist nicht sehr klug anzunehmen, dass bestehende oder künftige Verträge immer eingehalten werden, und dass es keine auswärtigen Kriege mehr geben wird, solange die Souveräne Europas die fünf Fundamentalartikel einer allgemeinen Allianz nicht unterzeichnet haben, die aber absolut notwendig für einen dauerhaften Frieden sind.“
Saint-Pierre erläutert, dass sogenannte Friedensverträge immer nur Waffenstillstandsvereinbarungen seien. Dennoch würde sich allmählich die Überzeugung durchsetzen, dass ein dauernder Friede möglich sei, nicht zuletzt deshalb, weil „in den letzten neun oder zehn Jahren Leute in Europa angefangen haben, den Großen Plan Heinrichs des Großen zu lesen.“ Saint-Pierre wollte ganz offensichtlich – so wie schon Sully – die hohe Reputation Heinrichs IV. für sich instrumentalisieren.
Weiter führte Saint-Pierre in der ersten Proposition aus, dass zwischen der friedlichen Beilegung eines Konflikts vor Gericht innerhalb der Staaten und der Regelung eines internationalen Konflikts nach derselben Methode eine Analogie zu sehen sei. Der Nutzen dieser Vertragsartikel sei so offensichtlich, dass sich ein Fürst, der sie nicht unterschreiben wollte, unweigerlich einer festen Front aus den friedensbereiten Fürsten gegenüber sehen würde. Überzeugt von der Unwiderstehlichkeit seiner Argumentation beschließt der Abbé die erste Proposition mit dem Vorschlag eines europäischen Reichstags, der nach dem Vorbild des „Deutschen Reichstags“ die europäischen Völker vor dem Kriege schützen werde.
Im ersten Fundamentalartikel jenes Vertrages, den die europäischen Staaten nach Auffassung von Saint-Pierre unterzeichnen sollten, ging es um ein „ewiges Bündnis“. Unter den Vorteilen eines solchen Bündnisses sind neben dem vorrangigen Ziel, den Krieg zu bannen, zwei hervorzuheben. Die Verringerung der Militärausgaben würde ökonomische Vorteile nach sich ziehen. Der jährliche Gewinn würde ansteigen, weil der Handel vor Gefahren gesichert sei und deshalb ohne Unterbrechungen betrieben werden könne. Der andere Vorteil betrifft den von Saint-Pierre befürworteten Erhalt des politischen status quo: „[Die Herrscher] sind übereingekommen, den derzeitigen Besitzstand und die Umsetzung der letzten Verträge als fundamentalen Ausgangspunkt anzuerkennen; sie haben sich gegenseitig versprochen und garantiert, dass jeder Souverän, der diesen Vertrag unterzeichnet haben wird, und sein Haus für immer in ihrem jetzigen Besitzstand gehalten werden. Es sollten alle christlichen Souveräne zur Teilnahme eingeladen und keine Mühen gescheut werden, die größtmögliche Anzahl für das Bündnis zu gewinnen."
Die Finanzierung des Bündnisses ist Gegenstand des zweiten Artikels. Die Beiträge sollten nach dem Nationaleinkommen bemessen werden, wobei auf den unterschiedlich hohen öffentlichen Schuldenstand Rücksicht zu nehmen sei. Im dritten Artikel geht es um die friedliche Lösung von Konflikt durch Vermittlung oder Schiedsverfahren. Unter der Voraussetzung, dass die Zahl der Abstimmungsberechtigten nicht verkleinert und das Territorium der fünf mächtigsten Souveräne nicht vergrößert würde, ist Saint-Pierre zuversichtlich, dass das System perfekt funktionieren und akzeptiert werden würde. Wenn laufende Verträge einmal angenommen seien, dann "könnten künftige Differenzen nur noch unbedeutend sein“. Die Fürsten könnten sich darauf verlassen, dass entstehende Probleme immer nach Recht und Gesetz gelöst würden."
Die Einzelheiten des Systems werden dann ausführlich erläutert. Jedes Mitglied entsendet einen Abgeordneten, zwei Stellvertreter und zwei Agenten in den „Ewigen Kongress“ oder „Friedenssenat“. Die Präsidentschaft sollte wöchentlich unter den Mitgliedern rotieren. Bestellte Kommissare sollten eventuelle Gewaltakte und Auseinandersetzungen um Handelspraktiken untersuchen. Die Konflikte sollten nach den oben zitierten Verfahren erledigt werden, wobei zunächst mit der Stimmenmehrheit und nach fünf Jahren mit der Dreiviertelmehrheit entschieden werden sollte.
Aber der Arm des Gesetzes könnte ja einmal nicht ausreichen. Saint-Pierre traf für diesen Fall Vorsorge: „Ein Herrscher, der vor der Kriegserklärung des Bundes zu den Waffen greift, der die Ausführung einer Bestimmung des Völkerbundes oder eines Schiedsspruches des Bundesrats verweigert, wird zum Feinde des Bundes erklärt und so lange bekriegt, bis er entwaffnet ist und das Urteil und die Bestimmungen vollstreckt sind. Er hat die Kriegskosten zu tragen und verliert endgültig das Gebiet, das ihm bis zum Waffenstillstand abgenommen worden ist.“
Auch nach Errichtung des Bundes würde, so Artikel fünf, noch mancherlei zu regeln sein – z.B. Fragen des Prozedere, die aber zurückgestellt werden sollten, um das ganze Unternehmen ohne große Verzögerungen auf den Weg zu bringen. Saint-Pierre bemüht sich, die Fürsten Europas hinsichtlich der Regeln der Entscheidungsfindung zu beruhigen, die vorläufigen Mehrheitsentscheidungen und die mit Dreiviertelmehrheit endgültigen Beschlüsse sollten niemals als „unüberwindliche Hindernisse angesehen werden.“ Die Fundamentalartikel könnten ohnehin nur mit Einstimmigkeit geändert werden.
Saint-Pierre war mit seiner Beweisführung im Rahmen der ersten Proposition zufrieden und stellte daher in der zweiten Proposition fest: „Diese fünf Artikel reichen vollkommen aus, um die Exekution der bestehenden und der künftigen Verträge zu garantieren und um für einen dauerhaften Frieden zu sorgen.“ Im folgenden geht es um die Fortentwicklung und Konsolidierung des Systems nach seiner eigenen Logik. Die Vorteile der Zugehörigkeit und die Nachteile einer Nicht-Mitgliedschaft interpretiert er als unwiderstehliche Bindekräfte. Das Bündnis muss ewig sein. Er geht mit denen, die ihre Mitgliedschaft aufgeben wollen, scharf ins Gericht: „Solange ein Alliierter das Bündnis ungestraft verlassen kann, solange kann es nicht als ewig angesehen werden. Ist es ewig, kann es niemand ungestraft verlassen und würde als gemeinsamer Feind aller Alliierten angesehen werden. Die Angst vor einer angemessenen und unvermeidlichen Strafe wird immer jene Souveräne zurückhalten, die äußerst unklug und voll närrischer Ambitionen sind.“
In den Propositionen drei bis fünf beschäftigt sich Saint-Pierre mit den speziellen Verantwortlichkeiten der einzelnen europäischen Herrscher. Die wichtigste Aufgabe des Kaisers, des französischen Königs und der anderen Souveräne Europas sei es, „die Unterzeichnung der fünf Fundamentalartikel durch die größtmögliche Zahl von Souveränen sicherzustellen.“ Aus dem Beispiel Englands ist zu ersehen, wie der Autor das Eigeninteresse der Fürsten nachwies: „Für den König von England ist es wichtig, dass nicht eines Tages aufrührerische Leute im Parliament die souveränen Rechte, die er genießt, beschneiden. Ebenso liegt es im Interesse der englischen Nation, dass die Autorität des Parliament und die gegenwärtige Regierungsverfassung immer in der jetzigen Form erhalten bleiben, um den Maßnahmen allzu tyrannischer Minister und ungeduldiger und schlecht beratener Fürsten zu trotzen.“
Der gute Abbé war überzeugt, an alles gedacht, alle Einwürfe beantwortet und ein ebenso dichtes wie perfektes System entworfen zu haben. Seiner Selbstsicherheit und seinem Optimismus wurde der Lohn der Verwirklichung allerdings nicht zuteil. Gewiss, sein Plan fand nicht zuletzt dank Rousseau eine große Leserschaft, aber Rousseau war auch nicht der einzige, der erkannte, wie irreal dieses grandioseste aller Projekte zur europäischen Einheit tatsächlich war.
Text: Heater, Derek: Europäische Einheit. Biographie einer Idee. Aus dem Englischen von Wolfgang Schmale und Brigitte Leucht (Herausforderungen; 8), Bochum 2003, S. 112 f., 116-124 (gekürzt; mit freundlicher Genehmigung des Dr. Winkler-Verlages Bochum)