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'Die Definition "Mitteleuropas" überdenken'
 
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Die Definition "Mitteleuropas" überdenken

Nun können wir daran gehen, den Begriff "Mitte" zu definieren. Die Länder, die diesem neu strukturierten Europa beitreten, befinden sich in einer neuen geopolitischen Lage. In der Zeit, als der Kontinent durch den Eisernen Vorhang und die Berliner Mauer geteilt war, schrieb Milan Kundera [1] den Artikel "Die Tragödie Mitteleuropas". Die ukrainischen Dissidenten haben alles getan, damit dieser Artikel in den illegalen "Samisdat"-Veröffentlichungen oder in der Presse der Auslandsukrainer verbreitet wurde. Unsere Zeitschrift hat dies auch getan. Dennoch wird man in dem Essay vergebens nach einer Erwähnung der Ukraine suchen. Für Kundera lag die Ukraine zu dieser Zeit bereits außerhalb seiner Vision von Mitteleuropa - sie war vielmehr ein Bestandteil der Sowjetunion, welche sein mitteleuropäisches Tschechien unterworfen hatte. Die ukrainischen Dissidenten hatten dies damals in ihrer Naivität gar nicht bemerkt. Kundera leitete seinen Artikel ein mit dem Kampf für den europäischen Geist, mit dem Ungarnaufstand von 1956 und zitierte den berühmten Satz des Direktors der Informationsagentur des ungarischen Radios: "Wir sind bereit, für Ungarn und für Europa zu sterben". Der Autor wusste wahrscheinlich nichts davon, dass der Untergrundkampf gegen die Sowjets "für die Ukraine und für Europa" in der Westukraine bis in die 1950er Jahre angedauert hatte. Tausende Ukrainer sind tatsächlich für die Ukraine und für Europa gestorben, ganz so wie sie es sich in ihrer Naivität vorgestellt hatten. Sie ahnten wahrscheinlich nicht, dass im Laufe dieser zehnjährigen Auseinandersetzung 150.000 ukrainische Partisanen in die stalinistischen Konzentrationslager verschleppt werden sollten.

Abbildung 5:

In seinem Artikel "Die Tragödie Mitteleuropas" diskutierte Milan Kundera seine Vision Mitteleuropas, in der die Ukraine, die baltischen Staaten und die Republik Weißrussland ausgeschlossen blieben. 

 

 

 

 

 

Internet-Quelle [2]

Es stimmt, dass ich nicht weiß, wie viele tschechische Partisanen in den Jahren 1940-1950 bewaffnet gegen die sowjetische Besatzung gekämpft haben. Es kann sein, dass meine Aussagen politisch nicht korrekt sind und jemanden schockieren. Aber ich habe es gewagt, die Stimme zu erheben, weil in meiner Generation nahezu jeder Zweite ein Kind jener ist, die mindestens zehn Jahre Haft im Konzentrationslager für diesen Kampf verbüßt haben, der absolut nicht intellektuell, sondern ein bewaffneter Kampf war. Dies ist für uns keine politische oder intellektuelle Spekulation, sondern die Geschichte unserer Familien. Ich weiß, dass Kundera bereits auf diese politisch inkorrekten Aussagen geantwortet hat und diese Antwort Russland betraf. Aber ich glaube, für ihn ist die Ukraine und die UdSSR/Russland dasselbe. Deshalb müssen wir alle, auch ich, für die UdSSR antworten: "Ich hätte gewünscht, ihre Welt niemals kennen gelernt zu haben, von ihrer Existenz nichts zu wissen". Die Tragödie der Ukraine interessiert Kundera natürlich nicht.

So ist es vollkommen gerechtfertigt, dass der Platz der Ukraine auf dem Meeresgrund liegt und nicht in den Konferenzsälen von Zürich behandelt wird, dort, wo die Probleme Mitteleuropas diskutiert werden. Für Kundera besteht Mitteleuropa aus den Ländern, die der EU beitreten - Tschechien, Polen, die Slowakei und Ungarn. Er sieht den mitteleuropäischen Raum naiv als jenes Gebilde, das durch den "Raum zwischen Deutschland und Russland" begrenzt wird. Aber der Begriff Mitteleuropa [3]  betraf historisch gesehen Deutschland und vielleicht seine nächstgelegenen deutschsprachigen Nachbarn (perspektivisch vielleicht auch die Schweiz). Aus politischen Gründen ist dieser Begriff im modernen politischen Diskurs durch verschiedene Euphemismen der Art "altes Europa" oder Kerneuropa - ersetzt worden. Jetzt schon liegt auf der Hand, dass dieses "Kerneuropa [4] " Deutschland, Frankreich und Belgien umfassen wird. Unserer Meinung nach ist das wirkliche Mitteleuropa gerade im Begriff sich zu bilden. Der Grund, weshalb man den Namen auf jenen informellen Klub der EU anwendet, liegt nicht in der geographischen Situation oder einer geistigen Wesensverwandtschaft dieser Länder, sondern in dem realen Niveau ihrer wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung und damit in ihren politischen und wirtschaftlichen Interessen. 

Abbildung 6:

"Kerneuropa" wie es die Politiker Schäuble und Lamers (1994) vorgeschlagen haben. 

 

 

 

 

 

 

Internetquelle [5]

Die Länder "Kerneuropas" sind - und zwar für lange Zeit - nicht nur den Ländern im Osten voraus, sondern auch den Ländern im Süden. Großbritannien besitzt eine besondere, ich würde sagen transatlantische Stellung, und kann allein als westliches, d.h. transatlantisches Land bezeichnet werden. Eine besondere Gruppe wird sich wiederum im Mittelmeerraum konstituieren - hier wird sich Südeuropa mit seinen spezifischen Zielen und Bedürfnissen bilden. Also werden sich die Länder zwischen Deutschland und dem ‚Nicht-Europa im Osten' (Republik Moldau, Ukraine, Weißrussland, Russland), so traurig dies erscheinen mag, erneut und wirklich in Osteuropa wieder finden. Dies ist ein bitteres Déjà-vu-Erlebnis. Und das Problem liegt nicht in dieser gräulichen Bezeichnung Osteuropa, die Milan Kundera abgelehnt hatte. Diese Länder haben, ob sie wollen oder nicht, spezifische Interessen, ein Niveau wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung, so dass sie eine recht homogene Gruppe bilden, die sich östlich von "Kerneuropa" befindet.