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Europa zur Bewahrung der "Grande nation"
Der Begriff der Nation ist von zentraler Bedeutung, wenn es um die Erfassung der Identität Frankreichs, aber auch von dessen Europaverständnis und -politik geht. Darin kommt ein durchaus bedeutsamer Unterschied zur Bundesrepublik Deutschland zum Ausdruck: Wird hier nach 1945 der Nationalismus als Gegensatz zum Europabekenntnis verstanden, erscheinen Patriotismus und europäisches Denken, Nation und Weltbürgertum als sich ausschließende Alternativen, so ist dies in Frankreich anders. Europaorientierung geht in Frankreich nicht mit der Intention einer Überwindung des Nationalen einher, vielmehr ist Europa jene Hülle, in der die Nation bewahrt werden kann. Es geht zwar auch um die nationale "Größe, wenn von der "Grande nation" die Rede ist, aber eben nicht nur. Spätestens seit de Gaulle bezieht sich die "Große Nation" nicht nur auf den französischen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, die Atomstreitmacht (force de frappe) und den Einfluss in der Dritten Welt, sondern hat auch eine immanente europäische Dimension.
Wenn man von einem politikwissenschaftlichem Verständnis von Nationalismus ausgeht, dann definiert sich dieser als jenes Prinzip, wonach politische und nationale Einheit deckungsgleich sein sollen. Nationalismus ist damit an die Moderne und an die bürgerliche Gesellschaft geknüpft und keineswegs - wie manche Historiker unterstellen - so alt wie die Geschichte. Wo früher territoriale Einheiten durch das dynastische Prinzip bestimmt waren - Bevölkerungen wurden nach ihrer Zugehörigkeit zu Herrschaftshäusern eingeteilt -, wird in der Moderne das nationale Prinzip bestimmend, und zwar entweder in seiner republikanischen oder in seiner ethnischen Form. Frankreichs Nationalismus bestimmt sich eher nach der ersten Ausprägung als "tagtägliches Plebiszit" (Ernest Renan: "un plébiscite de tous les jours"), wogegen der deutsche Nationalismus stark durch das ethnische Prinzip, durch die völkische Abstammung geprägt ist.
Im späten Mittelalter hieß Franzose zu sein, ein guter Christ zu sein, weshalb der französische König als ein Monarch von Gottes Gnaden die Suprematie gegenüber dem Papst beanspruchen konnte. Die französische Sprache - für die Herausbildung des Nationalismus von eminenter Bedeutung - wurde zwar als "Ur-Sprache" glorifiziert. Allerdings wurde sie im mittelalterlichen Frankreich keineswegs in weiten Teilen des Landes gesprochen oder gar geschrieben. Bis ins sechzehnte Jahrhundert war die französische Identität an den König gebunden. Obwohl sich die Französische Revolution von 1789 im Namen des Dritten Standes erhob, schloss sie die Adligen aus der Nation keineswegs aus. Denn als Angehöriger der Nation erwies man sich durch den Dienst an derselben. Die Nation "versöhnte" mithin in der Ideenwelt diejenigen Bevölkerungsklassen, die in der Politik hart aneinandergerieten. Was früher "königlich" gewesen war, wurde mit der Revolution "national" bzw. "republikanisch": die Nationalgarde (Garde Républicaine), die Nationalversammlung (Assemblée Nationale), die nationale Erziehung (Education Nationale) usw. Es mag dies einer der Gründe dafür sein, dass die Nation - zwar besonders unter de Gaulle [1] , im Grundsatz aber bis heute - sowohl für "Rechte" als auch für "Linke" akzeptabel geblieben ist.
Das von der Revolution geprägte republikanische Konzept der Nation wurde als die Willensgemeinschaft all derer definiert, die sich zu den gemeinsamen politischen Grundzielen bekannten. Auf diese Weise konnten Befürworter wie Gegner der Revolution zueinander finden. Dies umso mehr, als sich seit Napoleon I. die Nation zur "Grande nation" verklärte. Und eben diese "Größe" Frankreichs konnte sich General de Gaulle zunutze machen, als er dem durch das "System von Jalta" [3] , d.h. die Nachkriegsordnung, in die Defensive und in die innere Unsicherheit geratene Frankreich seine "gewisse Idee Frankreichs" offerierte. Die Vorstellung eines weltpolitisch bestimmenden Frankreichs ist darin als Programm enthalten. Die Nation und die Unabhängigkeit werden hochgehalten. Aber das Konzept der Nation wird zugleich organisch mit Europa verbunden.
Am Beispiel de Gaulles lässt sich das Besondere des "europäisierten Nationalismus" Frankreichs verdeutlichen. Angesichts der französischen Nachkriegstraumata eines verlorengegangenen kolonialen Empires und einer Rückstufung gegenüber den beiden Supermächten USA und Sowjetunion hat de Gaulles Nationalismus die innerlich zerrissene Nation zusammenführen, hat Republikaner, Linke, Monarchisten und Rechte einigen können. Der Appell an die Nation hat dann zwar Mitte der sechziger Jahre der weiteren Vertiefung der europäischen Integration durch die "Politik des leeren Stuhls" [4] (d.h. das Fernbleiben von den Sitzungen der Brüsseler Institutionen 1965/66) ein Ende bereitet, hat auf der anderen Seite aber durchaus so visionäre Elemente wie eine Intensivierung der politischen Zusammenarbeit der Staaten Europas enthalten, für die sich zu Beginn der sechziger Jahre die europäischen Partner Frankreichs allerdings noch nicht aufgeschlossen zeigten. Die extrem nationalbetonte Politik de Gaulles belegt mithin, dass sie sich zwar der Aufhebung der Nationalstaatlichkeit widersetzte und mithin den Plänen zur Schaffung eines Europäischen Bundesstaates [5] ablehnend gegenüberstand, dass sie aber mit einer europaorientierten Politik durchaus konform gehen konnte. Und diese Feststellung kann durchaus auf die französische Europapolitik nach 1945 verallgemeinernd übertragen werden.