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'Die Bismarckära: Europaidee und nationale Realitäten'
 
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Die Bismarckära: Europaidee und nationale Realitäten

In der Mitte des 19. Jahrhunderts setzt sich die Nation gegenüber der Europaidee immer mehr durch, besonders in Deutschland. Die deutsche Frage und das europäische Ideal entgingen nicht den Veränderungen einer Epoche, in der das System Metternichs zusammenstürzte und die politische Einigung Deutschlands sich vollzog.

Bismarck [1] schuf mit seiner Realpolitik [2] ein Europa der Staaten, das nicht mehr auf Wien, sondern auf Berlin zentriert war. Über die europäischen Anschauungen des "Eisernen Kanzlers" wurden widersprüchliche Urteile gefällt. Er hat zwar ein der Wirklichkeit des Europa der Nationen entsprechendes politisches System gegründet, er war ein Gegner expansionistischer Utopien, dafür aber hat er nie Europa für eine moralische Macht, eine juristische Autorität und noch weniger eine politische Einheit gehalten. Sein Europa war eine rein geographische und diplomatische Entität, ein auf dem hochheiligen Staatsegoismus, der Gegenseitigkeit der Interessen und dem Spiel der Allianzen beruhendes Staatensystem. Kurzum ein vielgestaltiges Europa, das dazu verurteilt war, mit seinem Begründer zu verschwinden.

Otto von Bismarck und Kaiser Wilhelm II.

Quelle Bismarck [3] , Quelle Wilhelm II [4]

In diesem Bismarckschen Deutschland wurde jede Idee einer Föderation bzw. Konföderation Europas auf eine unbestimmte Zukunft verschoben, was manche Schriftsteller nicht daran hinderte, die Umrisse einer politischen, juristischen oder wirtschaftlichen Gemeinschaft zu zeichnen.

Der Föderalismus-Gedanke setzte sich als das angemessenste Organisationssystem weiter durch und konnte eine pragmatische Form annehmen wie die J. Fröbels, des ehemaligen Linksabgeordneten im Frankfurter Parlament. Da er Amerika, wo er nach dem Scheitern der Revolution von 1848 als Exilant gelebt hatte, aus eigener Erfahrung kannte, zählte Fröbel zu den ersten, die die Entstehung eines Weltgleichgewichts konstatierten, dessen dritte Kraft, zwischen Russland und Amerika, Europa sein könnte. Aus der künftigen Relativität der europäischen Macht folgerte er die Notwendigkeit, Europa nach einem originären, seinem eigenen Genie entsprechenden Prozess zu einigen. Nach ihm wären die Nationen unseres Kontinents nur noch "die Kantone einer großen Konföderation".

Neben diesem praktischen Föderalismus bestand ein christlich geprägter Föderalismus, namentlich bei den "großdeutschen" Konservativen, die sich für ein legitimistisches Europa einsetzen. Unter ihnen zeichneten sich zwei Männer aus, die wie Fröbel die europäische Frage in den Weltzusammenhang zu stellen wussten. Der eine ist J. E. Jörg [5] (1819-1901), der Chefredakteur der Zeitschrift "Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland" in München. Ein halbes Jahrhundert lang hat Jörg ununterbrochen den Zerfall des historischen Europa angeprangert, den europäischen Untergang im Kontext der Weltpolitik laut verkündet und zur Restauration der christlichen Gesellschaftsordnung gemahnt. Der andere Autor war der Haupttheoretiker des christlichen Föderalismus, C. Frantz (1817-1891). Er war auch ein Gegner des Bismarckreiches, dem er vorwarf, die historische Mission Deutschlands verraten zu haben, die darin bestanden hätte, zwischen Russland und Amerika einen ausgedehnten Bundesstaat, ein vermittelndes Reich zu schaffen, um welches sich eine "christliche Heilige Allianz" hätte bilden können. [6]

Bismarcks Reichsgründung 1871 als Staatenbund, eine eindeutige Abkehr vom Europagedanken




Quelle der Karte [7]

Für die Juristen ging die Einigung Europas mit einer Befriedung durch das Recht einher. Dem Kantianismus entlehnten sie das Prinzip des internationalen Schiedsgerichts. Diese Theoretiker der Politikwissenschaft betrachteten Europa als einen moralischen, von der Kirche unabhängigen Organismus. Der bekannteste von ihnen war der Züricher J. C. Bluntschli [8] (1808-1881), der in Deutschland Karriere machte und 1878 ein "Organisation des europäischen Staatenvereins" betiteltes Projekt einer europäischen Konföderation verfasste, das dadurch gekennzeichnet war, die Souveränität der Mitgliedstaaten zu respektieren und es bei einem Staatenbund bewenden zu lassen. Der Autor beabsichtigte also die Organisation Europas als eine zwischenstaatliche, institutionalisierte Zusammenarbeit.

Zu dieser Zeit waren die Verfechter par excellence des Ideals der "Vereinigten Staaten von Europa" die Pazifisten, die mit den Juristen das Streben nach Frieden durch ein internationales Schiedsgericht teilten. Dem Kantischen Moralismus verdankten sie viel und sie teilten oft die Begeisterung der revolutionären Romantik von 1848. Viele von ihnen waren Anhänger der "Internationalen Friedens- und Freiheitsliga", die 1867 gegründet wurde und deren Zeitschrift "Die Vereinigten Staaten von Europa" hieß. Da sie kein genaues Programm hatte, konnte die Liga weder den nationalen Differenzen noch der Konkurrenz der "Ersten Internationale [9] " standhalten.

E. Löwenthal [10] , der der Liga nahe stand, vertrat jahrzehntelang einen vollständigen, "realistischen" Pazifismus, der ihn dazu führte, um 1870 einen "Europäischen Unionsverein" zu gründen. In Wirklichkeit fasste er am Ende der Bismarckzeit nur noch einen Schiedsgerichtshof zwischen den Staaten ins Auge, etwa wie der Rechtsgelehrte E. Schlief (1851-1912), der Verfasser von "Der Friede in Europa - eine völkerrechtlich-politische Studie" (1892), dessen "Europäisches Staatensystem" die Zerstückelung des Kontinents bestätigte.

Die Sozialisten wie Marx [11] und Engels [12] , die dem als "bürgerlich" bezeichneten Föderalismus und dem idealistischen Pazifismus feindlich gesinnt waren, setzen dem ein Europa der sozialen Revolution entgegen, das aus Nationen bestehen würde, die nach ihrer Fähigkeit, für die Sache der Revolution zu kämpfen, einzustufen wären.

Die Sozialisten wie Marx und Engels, die dem als "bürgerlich" bezeichneten Föderalismus und dem idealistischen Pazifismus feindlich gesinnt waren, setzen dem ein Europa der sozialen Revolution entgegen, das aus Nationen bestehen würde, die nach ihrer Fähigkeit, für die Sache der Revolution zu kämpfen, einzustufen wären.

Quelle der Abbildungen: kommunistische-partei-deutschlands.de/15-bilder/kma/kma.html, inaktiv, 08.04.2004

Marx [13] erwartete von den industrialisierten Ländern die Befreiung des Proletariats. Für Engels [14] und für ihn war Westeuropa der "historische" Kontinent schlechthin. Ihr großes Verdienst war es, dass sie den Alten Kontinent durch die Perspektive der Weltwirtschaft betrachten. Ihr Genosse J.-P. Becker [15] (1809-1886), der in die Schweiz ausgewandert war und Mitglied der "Internationalen Friedens- und Freiheitsliga", später der "Ersten Internationale" wurde, war hingegen nie ein orthodoxer Marxist. Er setzte sich immer für ein Europa demokratischer, föderierter Republiken ein.

Die Volkswirtschaftler der Bismarckzeit waren durch eine Auseinandersetzung über Freihandel und Protektionismus, sowie über die wirtschaftliche Organisation Mitteleuropas entzweit. Als Nachfolger von F. List bemühten sie sich zu beweisen, dass Europa, ausgestattet mit dem Genius der Produktivität, das Recht habe, die Bodenschätze anderer Erdteile auszubeuten und damit einem gegenseitig unterstützenden Einigungszwang unterliege. Das Europa der Nationalökonomen nahm dabei wechselnde Dimensionen an, doch der Mitteleuropabegriff spielte bei ihnen immer eine prominente Rolle. Nach 1871 vollzog er jedoch mehrfache Wandlungen bis hin zu einem den größten Teil des Kontinents umfassenden Raum, um der Konkurrenz der Weltmächte besser begegnen zu können.