- Die Sicht des jeweils Anderen: das Eigene und das Fremde
- Der deutsch-französische Krieg 1870/71
- Der Erste Weltkrieg
- Der Erste Weltkrieg im kollektiven Gedächtnis der Deutschen und der Franzosen
- Der Friedensvertrag von Versailles. Eine Bilanz
- Frankreich und Deutschland im Zweitem Weltkrieg
- Französische Zwangsarbeiter in Deutschland 1940-45
- 1945 - 1963: Deutsche und Franzosen - Von der "Erbfeindschaft" zur Partnerschaft
- Deutsch-französische Beziehungen 1945-2000
- Vierzig Jahre Beziehungen zwischen Frankreich und der DDR
- Karikaturen und kollektives Bewusstsein
- Zur Wahl der Marianne-Figur
- "Le petit chaperon rouge" und der böse BRD-Wolf
- Beier-Reds Michel und Marianne - ein Sonderfall
- Abschließende Bemerkungen
'Marianne (und Michel, nebst Uncle Sam) im frischen Wind der 40er und frühen 50er Jahre '
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Marianne (und Michel, nebst Uncle Sam) im frischen Wind der 40er und frühen 50er Jahre
Karikaturen mit deutschen und französischen nationalallegorischen Figuren als Protagonisten sind in der Karikatur des Frischen Winds der Nachkriegszeit nicht auffindbar. Im beginnenden Kalten Krieg war der Konflikt mit den USA das beherrschende Thema und dementsprechend Uncle Sam die alles beherrschende Figur. Einen beherrscht er besonders nachdrücklich, den mickrigen, halbverhungerten Deutschen Michel, der zu dieser Zeit im Frischen Wind all die Charakteristika aufweist, die wir auch in der westdeutschen Presse feststellen können (5). Inszeniert wird ein deutsch-amerikanischer Gegensatz auf der ganzen Linie: klein / groß, dünn / dick, kantig / rund, unten / oben, Träger / Last, kurz: Knecht und Herr, Opfer und Täter, Patiens und Agens.
Der Andere, das ist Amerika. Innerhalb der binären Grundkonstellation des Nachkriegs und des Kalten Kriegs verschwinden, anders als in der westdeutschen Karikatur, tendenziell die Unterschiede zwischen den europäischen nationalallegorischen Figuren, also auch zwischen Marianne und Michel. Sie alle werden vielfach infantilisiert, in Säuglings-, Kleinkinder- und Schülerrollen versetzt. Deutsch-französische Beziehungen kommen vorwiegend als Teil der europäisch-amerikanischen zur Sprache und werden implizit als Beziehungen zwischen gleichermaßen abhängigen, gedemütigten und unterdrückten Wesen dargestellt. Der Klassenkampf der Schüler gegen den ungeliebten Lehrer steht auf dem politischen Stundenplan, es wird eine europäische Solidarität der Kinder suggeriert und zur Revolte gegen den dominierenden US-Vater, wenn nicht gar zum (symbolischen) Vatermord aufgerufen (6).
Die 50er Jahre
Aus unserem eigentlichen Untersuchungszeitraum, den 50er Jahren, liegen uns einundzwanzig Marianne-Darstellungen vor, von denen wir ein Dutzend näher untersuchen wollen. Ein erster Blick auf die Figurenkonstellationen ergibt, dass Marianne kein einziges Mal ein Repräsentant der DDR, fast jedes Mal aber ein solcher der Bundesrepublik (und / oder der USA) zur Seite gestellt wird. Der Begriff "deutsch-französische Beziehungen" bedeutete also, was überraschen mag, für die DDR-Zeichner dasselbe wie im bundesrepublikanischen Sprachgebrauch, nämlich Beziehungen der Bundesrepublik zu Frankreich. Die DDR brachte es kaum je zu einer eigenständigen graphischen Positionierung gegenüber Frankreich, sie war - im wahrsten Sinn des Wortes - selbst nicht im Bild. Fast stets rekurrierte sie auf die Bundesrepublik, womit sie sich immer wieder unfreiwillig als zweiten deutschen Staat definierte. Innerhalb dieser Figurenkonstellation gelang den Zeichnern des Frischen Winds bzw. des Eulenspiegels allerdings die Entwicklung einer Zeichensprache, die dem gezeichneten Französischen ähnlicher war als dem visuellen Bundesrepublikanischen.
1793: Cette affiche présente les principaux attributs de la République: le drapeau français (non-définitif), le bonnet phrygien avec cocarde tricolore, le faisceau de licteur de la république romaine, et la devise nationale.
Quelle: www.dickinson.edu/%7Eklinem/fr236/Symboles/Marianne/mariannes.html
Die Phrygische Mütze (le bonnet phrygien) - Das republikanische Insignium Frankreichs schlechthin.
Quelle: www.kulmbach.net/~MGF-Gymnasium/bilderdaten/napoleon/
Bundesrepublikanisch-französische Beziehungen als Vergewaltigungsszenario
Im Unterschied zu westdeutschen Zeichnungen spielt das Klischee der koketten Französin, der durchtriebenen und oft berechnenden Marianne, nur eine untergeordnete Rolle. Nie wird sie in internationalem Zusammenhang so dargestellt. In begrenztem Umfang taucht dieses Bild in innenpolitisch akzentuierten Kontexten auf. So bei einer Zeichnung mit dem beredten Titel "Freier-Wahlen", in denen eine kesse Marianne de Gaulle einen Korb gibt. Ihm, der mit einer Rakete statt einem Blumenstrauß in der Hand zum Rendezvous erschienen ist, zieht sie den Mann aus dem Volk mit Baskenmütze und Nelke im Knopfloch vor (7).
Das Stereotyp der modebewussten, anziehenden Französin wird zwar herangezogen bei Louis Rauwolfs gezeichnetem Kommentar zum Wahlsieg des Front Republicain 1956 (Abb. 1), doch bezieht sich die Koketterie nicht auf ausländische Partner - ganz im Gegenteil. Eine klassische Ankleidungsszene vor dem Spiegel. Dieser - Metapher der Wahrheit - bringt das wahre Frankreich an den Tag. "Marianne bekennt Farbe", formuliert beziehungsreich die Legende, und diese Farbe ist das Rot der phrygischen Mütze. Dieses republikanische Insignium schlechthin ist, wie ihre Blicke zeigen, das einzige Objekt von Mariannes Begierde. Die Modenschau ist freilich ein Vorwand für eine politische Farbenlehre: Rot siegt über Feldgrau. Auch in dieser Zeichnung fehlt der Bezug zur Bundesrepublik nicht. Eine - wohl in jeder Hinsicht - "kopflose" männliche Person stiehlt sich auf Zehenspitzen aus Mariannes Ankleideraum davon und kann sie nur noch partiell in den Schatten stellen: vor allem ihr Oberkörper, der ähnlich wie bei Republikbüsten auf französischen Rathäusern dargestellt ist, und die Mütze sind bereits ins rechte Licht gerückt. Zivil gekleidet oder, vielleicht besser, verkleidet, wird paradoxerweise auch der "Kopflose" anhand von Kopfbedeckungen identifizierbar: er hält einen Stahlhelm mit der Aufschrift USA und einen weiteren mit Hakenkreuzemblem in der Hand, auf dem Boden bleibt ein französischer Stahlhelm liegen. Der Militaria-Händler als Inkarnation des deutsch-amerikanischen Militarismus hat seine Abfuhr bekommen, Marianne hat sich für zivile republikanische Tracht entschieden und damit für Frieden, Abrüstung, Freiheit, Demokratie.
Eine Gruppe von sechs Zeichnungen (vgl. Abb. 2-7) operiert mit einer gemeinsamen Grundstruktur. Die Perspektive, dass Frankreich sich im Rahmen der EVG militärisch mit der Bundesrepublik einlassen könnte, wird hier als aggressive sexuelle Aufdringlichkeit der die BRD metonymisch vertretenden Figuren inszeniert. Dabei handelt es sich entweder um Adenauer als widerlichen Lustgreis und/oder um monströs dargestellte Militärs. Verschiedene Stadien werden durchgespielt, von der ersten Anmache bis zum vollzogenen Eindringen in Mariannes Haus bzw. Schlafgemach. In allen Bildern dominieren auf der Seite der Bundesrepublik Zeichen phallischer Aggression, von relativ harmlosen wie Zigarre und Spazierstock bis hin zu unmittelbar bedrohlichen wie Gewehrläufen, aufgepflanzten Bajonetten und dräuend erigierten Kanonenrohren, die zumeist unmittelbar auf Mariannes Körper gerichtet sind. "Und bist du nicht willig, so brauch' ich Gewalt", ist eine unausgesprochene Legende, die unter jede dieser Zeichnungen passte.
Bei einem Teil dieser Figuren, und zwar vor allem bei den frühen, benutzt der Autor von Bild und Text Strategien, die es erlauben, die aktuelle Lage als bloße Reaktualisierung einer vertrauten historischen Situation erscheinen zu lassen. Dies bedeutet, dass die neue Lage nach dem Muster der alten beurteilt - und das heißt hier: verurteilt - werden muss, denn die Wiederaufrüstung wird als Reaktualisierung des faschistischen Überfalls auf Frankreich dargestellt.
Den, wie festgestellt, weitgehend identischen Darstellungen der Bundesrepublik entsprechen übereinstimmende Marianne-Inszenierungen. Marianne ist hier (mit einer partiellen Ausnahme, vgl. Abb. 5) nicht feminin, nicht hübsch, auch nicht fragil, sondern trägt eher harte Gesichtszüge, ihr Körper ist kräftig, wirkt wie sportlich gestählt. Diese Mariannen sind aktiv, militant, wehrhaft. Ihre Kleidung ist nie elegant, entspricht in einigen Fällen kodifizierten, offiziellen Republik-Darstellungen, wie man sie von Gemälden und Statuen kennt (vgl. insbesondere Abb. 7).
Statt vermeintlich französischer Libertinage herrscht hier die vertu républicaine. Die visuelle Form ruft implizit stets politische Inhalte auf, eben die republikanische Tradition und Mythologie. Dies wird noch verstärkt durch eine signifikante Körpersprache. Der Aggression tritt Marianne entweder mit einer abwehrend erhobenen Hand entgegen (zumeist der rechten), mit gewissermaßen statuarischer Haltung der anderen oder aber mit spitzwinklig vom Körper abgestemmten Ellenbogen, die den Übergang von der Defensive zur Offensive markieren. Auch diese Haltung dürfte doppelt determiniert sein. Sie entspricht der Situation, in der sich Marianne in diesen Bildern befindet, sie entspringt aber wohl gleichermaßen Bildtraditionen, die die kämpferischen, militanten Züge der Republik-Allegorie betonen, insbesondere dürfte damit an Abbildungen der République rouge angeknüpft werden (vgl. Abb. 8), was diesen Bildern eine ideologisch-mythische Konsistenz verleiht, die den aktuellen Anlass übersteigt.
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Anmerkungen
(5) Vgl. hierzu insbesondere das Kapitel "Die Stunde Null" in Reinhard Dietrich / Walther Fekl: Komische Nachbarn / Drôles de voisins: Die Deutsch-französischen Beziehungen im Spiegel der Karikatur, 1945-1988. Goethe-Institut, Paris 1988.
(6) Form und Funktion auch der anderen Nationalallegorien, insbesondere Michels, Germanias und Uncle Sams, in der Nachkriegszeit, haben wir ausführlicher, in einem größeren zeitlichen Rahmen und in breiterer komparativer Perspektive dargestellt in: "Nationale Allegorien in der politischen Karikatur am Beispiel Deutschland (Ost und West) - Frankreich". In: Michael Böhler et al. (Hg.): Trilateraler Forschungsschwerpunkt "Differenzierung und Integration". Zürich 1996. Die vorliegende Veröffentlichung enthält unweigerlich Überschneidungen mit diesem Aufsatz.
(7) Louis Rauwolf: "Freier-Wahlen". In: Eulenspiegel 12 / 1959. S. 2.