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Die territorialen Verluste im Osten
Die Deutschen empfanden die erzwungene Abtretung großer Territorien im Osten, einschließlich der Abschneidung Ostpreußens vom Deutschen Reiche und der Schaffung einer Freien Stadt Danzig, als schwere Demütigung. Sie waren damals nicht dazu bereit, die Anwendung der Grundsätze des Selbstbestimmungsrechts der Völker auf den ostmitteleuropäischen Raum zu akzeptieren, geschweige denn als gerecht anzusehen. Im Gegenteil, sie forderten die Wiederherstellung der Vorrangstellung der Deutschen im ostmitteleuropäischen Raum mit dem Argument, dass sie hier, und zwar auch in jenen Gebieten, in denen sie nur eine Minderheit waren, seit Jahrhunderten die kulturelle und wirtschaftliche Führung innegehabt hätten und dazu berufen seien, diese auch weiterhin auszuüben. Der Versailler Vertrag habe den historisch gewachsenen deutschen "Volks- und Kulturboden" in leichtfertiger Weise den Polen bzw. Tschechen zugeschlagen und die kulturtragenden deutschen Minderheiten der gewaltsamen Polonisierung bzw. Slawisierung ausgeliefert (10).
"Der deutsche Osten" – Postkarte mit Gebietsabtretungen des Deutschen Reichs. In einem erläuternden Text heißt es u.a. (...) Die wirtschaftliche, kulturelle und politische Einheit deutschen Ostgebietes ist durch den Versailler Vertrag zerschlagen. Das Hultschiner Ländchen, das oberschlesische Industriegebiet, Westpreußen und Memelland sind zurzeit an früher feindliche Staaten gefallen, Danzig zu einem sogenannten freien Staat geworden.(DHM, Berlin Pk 96/609)
Selbst ein so angesehener Historiker wie Hans Rothfels [1] argumentierte 1932, dass der Nationalstaat im westeuropäischen Sinne in Osteuropa zu einer "wirklichkeitsfremden und lebensfeindlichen Theorie" geworden sei: "Nicht die Verewigung einer Siegerkonjunktur [gemeint sind die territorialen Regelungen des Versailler Vertrages, A. d. Vf.] mit dem Schwund kulturell besonders "wertvoller" Minderheiten, sondern nur die organische Neuordnung nach der Reife der Volkskräfte und dem Grad der Leistung "könne" den östlichen Raum vor dem Chaos bewahren, das in ihm selbst lauert ..." (11). Eine solche Einstellung, wie sie in weiten Teilen der deutschen Intelligenz und namentlich der Akademikerschaft Anhang gewann, gab den Anstoß für einen erbittert geführten "Volkstumskampf" vor allem gegen die Polen, welcher der nationalsozialistischen Herrschaft in vieler Hinsicht die Wege gebahnt hat. Die jüngsten Auseinandersetzungen über die Unterstützung der nationalsozialistischen Ostpolitik durch namhafte deutsche Historiker werfen ein Schlaglicht auf diese Probleme.
In mancher Hinsicht vergleichbar war auch die Reaktion Italiens auf die Pariser Vorortverträge. Die Italiener sahen in diesen Verträgen weniger eine Sicherung des europäischen Friedens, sondern ganz im Gegenteil eine Verletzung des Londoner Vertrages [2] und eine ungerechtfertigte Beschneidung der italienischen territorialen Ansprüche an der Adria, einer Region, in der sie schon vor dem Ersten Weltkrieg eine italienische Hegemonialstellung angestrebt und ein gewisses Maß von kultureller Hegemonie ausgeübt hatten. Nicht allein die italienische Rechte sprach deshalb bitter von einem "verlorenen Frieden" (12). Dies diente als günstige Ausgangsposition für die Machtergreifung des Faschismus in Italien, der gleichsam in die Schuhe des rechten Nationalismus der Kriegsjahre und der unmittelbaren Nachkriegszeit trat.
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Anmerkungen
(10) Vgl. Wolfgang J. Mommsen, Vom "Volkstumskampf" zur nationalsozialistischen Vernichtungspolitik in Osteuropa. Zur Rolle der deutschen Historiker unter dem Nationalsozialismus, in: Winfried Schulze/Otto Gerhard Oexle, Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 20002, S. 183-214, hier S. 183ff.
(11) Hans Rothfels, Das Problem der Nationalität im Osten, in: Ders., Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke. Historische Abhandlungen, Vorträge und Reden, Leipzig 1935, S.183.
(12) Vgl. Holger Afflerbach, "... nearly a case of Italy contra mundum?” Italien als Siegermacht in Versailles 1919, in: Krumeich (Hrsg.), Versailles 1919, S. 159-173.