- Europa der Regionen
- Europäische Dimensionen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit
- Internationale Verflechtungen: Frankreich und Deutschland im internationalen System
- Niemcy, Francja, Polska: trzy drogi w dziejach Europy
- Deutschland - Frankreich - Polen
- Das Weimarer Dreieck - Die französisch-deutsch-polnischen Beziehungen als Motor der europäischen Integration
- Das Weimarer Dreieck in der erweiterten Union
- Deutschland - Frankreich - Osteuropa. Historische Dimensionen und neue Optionen
- Deutsche und französische Wirtschaft im Osten - kein vergleichbares Engagement
- Belebung des europäischen Russlanddialogs: Deutschland, Frankreich, Russland - strategische Partner für Europa
- Déja-vu in Osteuropa
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Vorbemerkung
Die im mittleren Orient geborene phönizische Prinzessin Europa wurde von Zeus, der sich in sie verliebt hatte, in Gestalt eines Stieres entführt und nach Kreta gebracht, wo sie Minos und seine Geschwister zur Welt brachte. Dieser antike Mythos erinnert an die Ursprünge unserer europäischen Kultur im Orient und zeigt, wie schwer es ist, die politischen und kulturellen Konturen Europas zu definieren. Auf die Frage nach der kulturellen Identität Europas, die im Zusammenhang mit der EU-Osterweiterung, den EU-Ambitionen der Türkei sowie der These vom „Zusammenstoß der Kulturen“ wieder in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses steht, haben im Rahmen eines Symposiums renommierte deutsche, französische sowie polnische Experten Antworten zu formulieren versucht und sind jeweils auf die besonderen historischen Erfahrungen sowie Kulturvorstellungen ihrer Nationen eingegangen. Initiatoren dieser Tagung waren das Französische Institut Berlin, das Polnische Institut Berlin und die Deutsch-Polnische Gesellschaft Bundesverband. Wir dokumentieren hier zwei Gespräche dieses Colloquiums, das am 29. April 2003 im Französischen Institut in Berlin stattfand.
Basil Kerski: Im Falle Frankreichs, Deutschlands und Polens handelt es sich um drei verschiedene Typen nationalstaatlicher Entwicklung. Was kann man aus den Erfahrungen nationalstaatlicher Prägung für die Zukunft schließen? Dort wo Frankreich, Deutschland und Polen innerhalb der Europäischen Union anfangen, gemeinsame politische Interessen zu formulieren, stoßen sie zwangsläufig auch auf Fragen der kollektiven Identität, auf historische Erfahrungen ihrer Nationen. Dieses ist der Rahmen unseres Historikergesprächs. Ich will mit Robert Traba beginnen und darf auf einen sehr persönlichen Aspekt hinweisen. Robert Trabas Eltern, Mutter und Vater, sind als Kleinkinder Anfang der 20er Jahre im Zuge der Arbeitsmigration nach Frankreich emigriert. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrten sie in die Volksrepublik Polen zurück. Ich darf annehmen, dass Sie, Herr Traba, ein besonderes Verhältnis zu Frankreich haben. Welche Rolle spielt Frankreich im gegenwärtigen kollektiven Bewusstsein der Polen und welches besaß es in der Vergangenheit?
Robert Traba: Um meine private Geschichte kurz zu ergänzen, sollte ich erwähnen, dass mein Vater als französischer Kriegsgefangener nach Angenburg in Ostpreußen verschleppt wurde. Als er nach dem Krieg nach Polen zurückkam, landete er zufällig in eben jenem Angenburg, das nun Wegorzewo hieß. So schloss sich für ihn auf merkwürdige Weise der Kreis.
Frankreich und die polnisch-französischen Beziehungen haben im gegenwärtigen kollektiven Bewusstsein der Polen nur einen geringen Stellenwert. Ein überschaubarer Kreis von Leuten bringt Frankreich überhaupt in Verbindung mit Polen. Das ist durchaus paradox, wenn man sich die Geschichte vergegenwärtigt. In der polnischen Mythologie wurden neben dem Kosciuszko-Aufstand, dem ersten nationalen Aufstand Ende des 18. Jahrhunderts gegen die Teilungsmächte, Napoleon und Frankreich zu wichtigsten Erinne-rungsobjekten im 19. Jahrhundert. Napoleon galt als die Personifizierung der polnisch-französischen Freundschaft und war folglich überaus positiv besetzt. Nach dem Ersten Weltkrieg haben die Umstände des deutsch-polnisch-französischen Verhältnisses dazu geführt, dass Polen mit Frankreich aus (macht)politischen weniger aus mythologischen Gründen stark verbunden war. Die polnisch-französische Freundschaft schien auf festem Fundament zu stehen. Freilich hatte diese Freundschaft schon damals Züge einer Ein-bahnstraße. Ich weiß nicht, ob Professor Etienne François diese Meinung teilt, aber eine gewisse Asymmetrie zwischen Polen und Franzosen in der gegenseitigen Wahrnehmung war schon damals groß. Die französische Kultur ist in der heutigen polnischen Gesellschaft im Vergleich zu den deutsch-polnischen Kontakten sehr gering und wenig sichtbar.
Basil Kerski: Professor Kaelble, in diesem auch politischen Beziehungsdreieck, Polen-Deutschland-Frankreich, ist Polens Schwäche nicht nur darin begründet, dass dieser Staat ökonomisch und militärisch weit hinter Frankreich oder Deutschland, sondern auch hinter der besonderen Bedeutung der deutsch-französischen Beziehungen zurücksteht, zumindest gilt dies für Nachkriegsdeutschland. Folglich würde ich sogar die These aufstellen, dass es für die Bundesrepublik identitätsstiftend war, die Beziehungen mit Frankreich in eine positive Bahn zu lenken. Würden Sie heute ebenfalls diese besondere Bedeutung der deutsch-französischen Beziehungen – zumindest für die politische Identi-tät des vereinigten Deutschlands – erkennen?
Hartmut Kaelble: Ich bin ein bisschen vorbelastet, weil ich viele Beziehungen mit Frankreich habe und weil ich, vielleicht kein Wahl-Pariser, aber doch ein Wahlmöchte-Pariser bin. Meine Sicht ist möglicherweise etwas eingeschränkt, aber ich denke, dass Frankreich auch nach dem Fall der Mauer für Deutschland ohne Zweifel eine sehr wichtige Rolle spielt. Zumal Frankreich nach 1989 mehr an Deutschland interessiert ist, mehr in Deutschland investiert, stärker kulturell und wirtschaftlich hier präsent ist. Ohne die Geschichte wäre diese besondere Situation nicht zu verstehen. Zum einen ist Frankreich nicht mehr das große kulturelle Zentrum in Europa und zum anderen nicht mehr das Land, gegen das sich das deutsche Nationalbewusstsein richtet. Es ist keineswegs so, dass ein guter deutscher Nationalist das Gegenteil von dem tut, was Frankreich von Nutzen sein könnte. Diese Zeit ist vorbei.
Vor diesem historischen Hintergrund hat Frankreich auch weiterhin einen hohen Stellen-wert für seinen östlichen Nachbarn, weil es für Deutschland zum Modell der Aussöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg geworden ist, und weil dieser Krieg nach wie vor in den Köpfen der Deutschen steckt, wie wir bei der Debatte um den Irak-Krieg deutlich sahen. Ohne diese Präsenz des Zweiten Weltkrieges wäre die Reaktion Deutschlands auf den Irak-Krieg nicht verständlich gewesen – die Erinnerung ist noch immer lebendig. Frankreich ist darüber hinaus weiterhin der Partner für die europäische Integration. Sicher sehen viele Deutsche die Gefahr, dass diese Partnerschaft nicht exklusiv sein darf, was sie übrigens nie war. Schon Robert Schuman hat 1950 gesagt, wir dürfen nicht exklusiv sein.
Es gibt ein deutsches Stereotyp: Frankreich ist immer noch für viele Deutsche im negativen Sinne das nationalistische Land. Das ist ganz eigentümlich, denn wenn wir uns die Umfragen ansehen, dann sind in Frankreich, genauso wie in Deutschland, bei der Frage wie stolz sind Sie auf Ihr Land, die Ja-Antworten eher rückläufig. Wenn wir in Europa irgendwo nach Ländern suchen wollten, in denen die Ja-Antworten stabil geblieben sind, dann könnten wir eher in Großbritannien oder Schweden fündig werden, nicht in Frankreich. Seltsamerweise jedoch hat sich dieses Stereotyp, wonach die Franzosen besonders nationalistisch seien, beinahe unerschütterlich in Deutschland eingeprägt. Es gibt einerseits eine starke, oft gefühlsmäßige Bindung an Frankreich – einem Land, mit dem sich die Deutschen ausgesöhnt haben. Diese Bindung hat ihre rationale Seite mit dem politischen Partner auf der europäischen Bühne gefunden. Andererseits gibt es bei den Deutschen immer noch Stereotype, die man nicht vergessen kann, die wir berücksichtigen sollten, wenn wir über die Beziehungen beider Länder diskutieren.
Basil Kerski: Professor François, Robert Traba wies darauf hin, dass die polnisch-französischen Beziehungen so ungleichgewichtig sind. Die Polen haben Erinnerungsorte in Frankreich, zum Beispiel das Hotel Lambert als Zentrum der großen Emigration im 19. Jahrhundert oder das Haus der Zeitschrift „Kultura“ in Maisons-Laffitte bei Paris. Umgekehrt jedoch ist Polen und seine Geschichte, wie Robert Traba sagte, wohl ziemlich bedeutungslos für den modernen französischen Nationalstaat. Wie sieht das in den deutsch-französischen Beziehungen aus, ist auch hier ein Ungleichgewicht spürbar? Ist Frankreich wichtiger für das Nachkriegsdeutschland und seine Identität als umgekehrt?
Etienne François: Von Ungleichgewicht würde ich heutzutage nicht mehr sprechen. Dieses Ungleichgewicht spielte vor allem in den Vorstellungen und Bildern des anderen bis zum Zweiten Weltkrieg eine zentrale Rolle. Es überwog die Angst, der Nachbar würde stärker werden, könne seine Macht aufzwingen, so dass man sich zum eigenen Schutz habe abgrenzen müssen. Diese Wahrnehmung war prägend bis 1940. Nach 1945 veränderte sich diese Perzeption sukzessive. Das Spezifische an der Entwicklung der deutsch-französischen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg war der Versuch, eine neue Form der Partnerschaft auf Basis der Gleichberechtigung und Anerkennung nationalen Spezifika zu entwickeln. Es galt die unterschiedlichen Prägungen hintanzustellen und ei-ne wechselseitige Wertschätzung zu erarbeiten. Die Einsicht, dass die Überwindung eines polarisierenden Denkens möglich ist, war das Ausschlaggebende. Sicher gab es die Bewährungsprobe in der Zeit nach der Wiedervereinigung, wo von französischen Seite auf einmal Befürchtungen geäußert wurden, ein größeres Deutschland schaffe ein Ungleichgewicht, mithin Instabilität in Mitteleuropa. Diese Ängste waren unbegründet.
Die gegenwärtigen Beziehungen zwischen den beiden Ländern sind sicher andere, als unmittelbar nach dem Krieg. Nicht zuletzt deshalb, weil die Aussöhnung ein derartig großer Erfolg geworden ist, dass ich fast versucht bin zu vergessen, wie sich Franzosen und Deutsche vor 60 Jahren gegenüberstanden. Auch wenn sich die Verhältnisse mit allen negativen Begleiterscheinungen normalisiert haben, eines bleibt: dieses Gefühl, auf beiden Seiten des Rheins, dass wir ohne das andere Land nicht auskommen können, und dass wir irgendwie zusammengehören. Ich will ein Beispiel dafür anhand der Ergebnisse einer repräsentativen Meinungsumfrage über die Einstellung zur Vergangenheit geben, die in sechs europäischen Ländern durchgeführt wurde. Die Länder waren Frankreich, Deutschland, Italien, Spanien, Großbritannien und Polen. Bei den Ergebnissen dieser Meinungsumfrage, die vor einigen Monaten veröffentlicht wurde, war eines auffällig: Die Deutschen betrachten die französische Geschichte als einen Teil ihrer eigenen Geschichte und die Franzosen betrachten die deutsche Geschichte ebenfalls als einen Teil ihrer eigenen Geschichte. Ein derartiges Empfinden gibt es im vergleichbaren Maße noch nicht mit anderen Ländern.
Basil Kerski: Bleiben wir bei Frankreich. Wir sind uns alle drei einig, dass zumindest die Mehrheit der politischen Eliten ein einiges Europa anstrebt. Problematisch wird es, die drei doch recht unterschiedlichen Nationen in einem neuen politischen Gebilde zusammenzubringen. Das vorherrschende Stereotyp über die französische Nation lautet: eine Staatsnation, deckungsgleich mit der kulturellen Identität, zentralistisch organisiert, und natürlich mit einem imperialen Erbe, aber weiterhin mit einem Anspruch Großmacht zu sein. Inwieweit stimmen diese Vorstellungen überein?
Etienne François: Die stimmen nur teilweise überein. Der Zentralismus geht rapide zu-rück, spätestens seit de Gaulle. Eigentlich aber hat dieser Prozess schon vorher eingesetzt. Ich meine eine bewusste Politik der Dezentralisierung, die jede französische Regierung fortgeführt hat, und die sich beschleunigt, die umgesetzt und akzeptiert wird von der Bevölkerung, so dass die Unterschiede zwischen dem angeblich zentralisierten Frankreich und dem angeblich dezentralisierten Deutschland immer geringer werden. Ich würde heute nur noch von Nuancen sprechen, nicht mehr von Gegensätzen.
Zweiter Punkt: Machtpolitik, Ausstrahlung in der Welt. Da gibt es noch Besonderheiten, weil Frankreich weiterhin eine Atommacht ist und einen Sitz im UNO-Sicherheitsrat inne hat. Wenn man von diesen beiden Faktoren absieht, so gibt es keine grundsätzlichen Verschiedenheiten mehr. Die Franzosen sind etwas stärker in der politischen Sphäre, die Deutschen in der wirtschaftlichen Sphäre. Es gibt sehr viele Fälle, wo sie gemeinsam agieren, da würde ich kaum große Abweichungen sehen. Im Selbstverständnis der beiden Länder gibt es keine Unterschiede mehr. Lange Zeit haben wir diese unterschiedlichen Selbstverständnisse gegen den jeweils anderen gewandt – Staatsnation auf der einen Seite, Kulturnation auf der anderen Seite. Das Selbstverständnis der Bundesrepublik und noch mehr das des wiedervereinigten Deutschlands ist identisch mit dem Selbstverständnis Frankreichs, es ist in beiden Länder ein zutiefst republikanisches.
Wenn wir alle relevanten Punkte passieren lassen, dann habe ich den Eindruck, dass die Gemeinsamkeiten inzwischen viel größer geworden sind als die Unterschiede. Wenn es Unterschiede gibt, dann nicht mehr in Form von Gegensätzen, sondern in Form von Partikularinteressen und Traditionen, die eher zur Vielfalt und Bereicherung in Europa beitragen.
Basil Kerski: Welche Auswirkungen hat die politische, administrative Dezentralisierung auf die Kultur? Gibt es so etwas wie neue, oder gar wiederbelebte regionale kulturelle Identitäten?
Etienne François: Ja, die gibt es und die gab es immer. Sie sind fest verankert und langlebig, was man in Frankreich beobachten kann. Ähnliches gilt wohl für viele andere Länder. Sofern ich das richtig beobachte, kann man diese Einschätzung auch auf Polen übertragen. Auch dort existieren vitale Unterschiede, manchmal Gegensätze zwischen einzel-nen Regionen. Das gilt nicht nur für die wirtschaftliche Sphäre, sondern genauso auf kultureller Ebene. Es ist faszinierend zu sehen, wie eine Stadt wie Lyon sich in Frankreich behauptet, aber auch die Rolle die Straßburg und die das Elsaß in Frankreich spielen. Starke Metropolen wie Bordeaux, Toulouse oder auch Marseille haben in vielen Bereichen großen Einfluss. Ich denke da an Musik, Theater, bildenden Künste. In diesen Provinzmetropolen gibt es viele Initiativen, auch Mittel und Möglichkeiten kreativ zu sein. Sie sind eher verbunden mit den Provinzmetropolen in anderen Ländern Europas, als mit der alten Hauptstadt Paris, die durch ihr reiches Erbe bisweilen belastet scheint.
Basil Kerski: Professor Kaelble, wie sehen sie als ständig zwischen Paris und Berlin pendelnder Wissenschaftler diese von Professor François beschriebenen Phänomene? Stellen auch Sie eine wesentliche Weiterentwicklung der französischen Nation fest?
Abbildung 5:
Die Unterzeichnung des Elysée-Vertrages am 22. Januar 1963 war der Beginn einer neuen Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland auf der Basis der Gleichberechtigung und der Anerkennung nationaler Spezifika
Internet-Quelle [4]
Hartmut Kaelble: Ich würde ganz ähnlich wie Etienne François die Dezentralisierungs-tendenzen, ebenso wie die Veränderung in der Einstellung zur Nation sowie die starke Konvergenz zwischen Deutschland und Frankreich wahrnehmen. Es gibt gewiss nach wie vor einige interessante Unterschiede, von denen der jeweils andere lernen kann. Ein Unterschied liegt im Bildungssystem. Im deutschen Bildungssystem werden im besonderen Maße Experten ausgebildet, die Kenner ihres Faches sind, die jedoch wenig darüber hin-aus blicken. Während im französischen Bildungssystem viel mehr Generalisten, also Per-sonen ausgebildet werden, die heute ein Theater verwalten, morgen ein Agrarverband leiten und übermorgen Wirtschaftsminister werden können. Ich übertreibe jetzt ein wenig, aber diese Verschiedenheiten sind bemerkenswert, weil die Deutschen von den Franzosen lernen können, mehr Generalisten auszubilden, aber auch weil die Franzosen bisweilen von den Deutschen lernen können. Ein zweiter erkennbarer Unterschied ist die Art und Weise ein Wirtschaftsunternehmen zu führen. Es ist heute so, dass es sowohl in Paris wie auch in Deutschland spezielle Schulen für Geschäftsleute gibt, die jeweils im anderen Land arbeiten, um ihnen die Unternehmenskultur nahe zu bringen. Erstaunlicherweise sind in dem Bereich, in dem die europäische Integration angefangen hat, nämlich in der Wirtschaft, die Differenzen sehr groß geblieben. Dies gilt etwa für die Unternehmenskultur.
Während im kulturellen Bereich, von dem angeblich Jean Monnet behauptet hat, dort hät-te mit der europäischen Integration begonnen werden sollen, es nicht so schlecht aussieht. Dieses fälschlich zugesprochene Zitat geht an der Wahrheit vorbei. Zwischen den Universitäten sind die Unterschiede heute viel geringer. Wir Universitätsleute wohnen nicht immer am gleichen Ort, wie Etienne und ich. Auch wenn wir an verschiedenen Orten sind und ganz selten zusammenkommen, so verstehen wir uns dennoch hervorragend. Noch 1969 sagte der berühmte Soziologe Pierre Bourdieu sinngemäß, dass es nur Missverständnisse gäbe, und jedes Wort zu nicht endenden, sinnlosen Debatten führe, wenn er nur ein Wort zusammen mit deutschen Kollegen fallen ließe. Heute kann man das nicht mehr behaupten. Was aber bleibt, sind die beschriebenen Besonderheiten in der Wirtschaft. Es ist interessant, darüber nachzudenken, wie man diese Ungleichheiten reduzieren kann, oder umgekehrt, wie man wechselseitig bei bestehenden Unterschieden voneinander lernt.
Abbildung 6:
Europakarte mit der Darstellung des Kontinents als Reichskönigin (Heinrich Buenting: Itinerarium Sacrae Scripturae. Magdeburg 1589)
Internet-Quelle [5]
Basil Kerski: Die EU-Integration ist für Polen nicht nur ein ökonomischer Kraftakt. Sie bedeutet sowohl ein Nachholen der Modernisierung, als auch einen kulturellen Schock für viele. Polens Bürger fanden sich zwar 1989 in einem souveränen Staat wieder, doch handelte es sich eigentlich um einen neuen Staat. Das Vorkriegspolen hatte nicht nur andere Grenzen, sondern auch eine gänzlich andere kulturelle Identität und ethnische Zusammensetzung als nach 1939. Polen, diese alte Kulturnation und dieser alte Staat, muss sich neu definieren. Wie würden Sie, Robert Traba, diesen Prozess beschreiben?
Robert Traba: Wenn ich nun auf das Referendum zum EU-Beitritt von 2003 schaue, dann gewinne ich den Eindruck, als sei das letzte Referendum mit Anliegen des 19. Jahr-hunderts. Denn es beinhaltet im Grunde genommen die ganze Rhetorik und die ganzen Auseinandersetzungen jener Epoche: Was bedeutet Polentum heute und wie bedroht ist dieses Polentum durch den EU-Beitritt? Ich habe keine abschließende Definition parat, möchte mich statt dessen auf den bedeutenden, bereits verstorbenen Historiker Tadeusz Lepkowski berufen, der übrigens mit den französischen Historikern um die Zeitschrift „Annales“ verbunden war. Er ging von sechs Charakteristika des Polentums aus – um bei diesem Begriff zu bleiben –, der in Polen anders als in Deutschland positiv besetzt ist. Lepkowskis Merkmale sind folgende: ethnische Gemeinschaft, Sprache, Religion, die Gemeinschaft der Kultur, Tradition sowie Bräuche und Sitten. 1848 hat der deutsche Ferdinand Gregorovius das Polentum mit dem Begriff „Polnischer Republikanismus“ als ein Phänomen umschrieben, dass den polnischen Staat in der Geschichte weitergebracht habe. Lepkowski hat versucht das Polentum wie folgt zu definieren: „Ich habe keinesfalls vor, die Institution und den Geist des Liberum Veto zu glorifizieren. Ich beabsichtige auch nicht, die schreckliche polnische Anarchie, die Unordnung, und den verdammten postadeligen Individualismus zu beklagen, so wie es neulich die Staatsgewalt und die ihr ergebenen Historiker taten.(...) Ich möchte lediglich auf die adelig-polnische Ablehnung des autoritären Staates hinweisen, dass schließlich in der Neigung zur Nationaldiktatur gipfelte. Des weiteren möchte ich betonen, dass ein von den Bürgern kontrollierter Staat dem Individuum, den sozialen Gruppen, und letztendlich der Nation als eine ethnisch-soziale und kulturelle Gemeinschaft dienen sollte.“
Mit diesen Worten wollte ich zeigen, dass wir hier den ganzen Komplex von unterschied-lichen nationalen Prägungen vor uns haben, die sich in Polen immer noch unter dem Begriff Polentum sammeln lassen, was uns wohl von unseren Nachbarn unterscheidet. Die Punkte, die Lepkowski betont hat, wurden in Vorbereitung des Referendums von den polnischen Nationalisten stark instrumentalisiert. Bei der Frage, wie weit der alte polnische Nationalismus im heutigen Polen noch virulent ist, können wir – zumindest teilweise – auf das Abstimmungsverhalten bei dem Referendum verweisen.
Erlauben Sie mir noch einmal auf die Spezifika der nationalen Tradition Polens eingehen. Im 17. und 18. Jahrhundert sowie zu Beginn des 19. Jahrhunderts besaßen die Polen ein sehr modernes Verständnis von Nation. Es basierte nicht zuletzt auf dem Ideal, dass sich alle Einwohner des Landes unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft als Bürger der polnischen „Rzeczpospolita“ ansehen durften. In der zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts veränderten sich die nationalen Präferenzen rapide zu Lasten der ethnischen Toleranz. Ob wir nun an einem Wendepunkt angelangt sind, ist schwer zu beantworten. Wie weit das politische Verständnis für das Nationale heute reicht, ist ebenso schwer zu bestimmen, da sich Polen rasant verändert, und verallgemeinerbare Befunde sich kaum feststellen lassen.
Basil Kerski: Der renommierte polnische Historiker Jerzy Kloczowski unterscheidet zwei konkurrierende polnische Nationaltraditionen. Zum einen die Vorstellung von einer Nation, die sich Ende des 19. Jahrhunderts im ethnisch homogenen Nationalstaat ausdrückte. Zum anderen die im Westen unbekannte alte Lubliner Union, ein multinationaler mitteleuropäischer Staat, aus seiner Sicht eine erste Form der europäischen Integration. Die Lubliner Union ist im 16. Jahrhundert entstanden und war ein politischer Zusammenschluss des Königreiches Polen mit dem Großherzogtum Litauen und mit Preußen. Würden Sie die aktuelle polnische Debatte um Nation und Europa auch vor dem Hinter-grund dieser beiden polnischen Nationalstaatsmodelle sehen?
Robert Traba: Ich würde nicht so weit in die Geschichte gehen und mich auf das Erbe des 19. Jahrhunderts konzentrieren. Wir haben es in Polen, aber auch in Deutschland, mit einem typischen Regionalismus des 19. Jahrhunderts zu tun. In Polen war das Fehlen eines polnischen Staates im 19. Jahrhundert ausschlaggebend. Der einzelne musste sich mit dem Volk identifizieren, mit dem Volk in gewissen Regionen, aber vor allem mit dem polnischen Volk. Nach 1989 haben wir das interessante Phänomen des sich Identifizierens mit der Regionalgeschichte, nicht nur der polnischen, sondern mit dem ganzen Erbe, das zum Beispiel mit unseren deutschen Nachbarn verbunden ist. Ich habe dabei die polnischen Westgebiete und die alten deutschen Ostgebiete in Sinn. Diese Gebiete sind das beste Beispiel, wie man in der Auseinandersetzung mit Geschichte einen neuen Lokalpat-riotismus herausbilden kann. „Ich bin ein Danziger, ein Gdanszczanin.“ Wenn ich das sage, so bin ich mir bewusst, dass diese Stadt nicht urpolnisch, urdeutsch, sondern ein Gemisch mehrerer Kulturen ist. Folglich bin ich heute ein Träger dieser Kulturen. Dieser Gedanke ist für viele Polen ungewohnt und dennoch so reizvoll, weil über die Auseinandersetzung mit dem Erbe der bereits angeregte fruchtbare Austausch zwischen Deutschen und Polen deutlichere Konturen bekommt.
Basil Kerski: Eine Schlüsselfrage auf der politischen Agenda Europas ist die nach den Grenzen der EU. Hier treffen – auch als Ergebnis geschichtlicher Erfahrungen – verschiedene Vorstellungen aufeinander. Es gibt die berühmte Formulierung de Gaulles, auch das politische Europa reiche bis an den Ural. In Polen tut man sich schwer mit solch eindeutigen Aussagen. Wenn die alten kulturellen Bezüge weiterhin als Kriterium für die polnische Politik gelten, würde das heißen, die Ukraine und Weißrussland zu Europa zu rechnen, Russland jedoch draußen zu lassen.
Etienne François: Die Beantwortung Ihrer Frage hängt davon ab, was man unter Europa versteht. Wenn man unter Europa vor allem ein Erbe versteht, dann wird sich vermutlich recht schnell die Frage der Grenzen entlang der Trennung zwischen dem abendländischen Christentum und dem Ostchristentum stellen. Aber das ist nur eine Dimension. Man kann das viel positiver und aktiver nicht nur als Erbe, sondern als Auftrag sehen. Europa nicht nur als eine historische Größe, sondern als ein politisches Projekt betrachten. In diesem Falle hängen die Grenzen Europas von den Mitgliedstaaten, die dazu gehören wollen, die es gemeinsam aufbauen wollen, die sich zu seinen Werten bekennen, ab. Die Frage der Grenzen ist in diesem Falle nicht so relevant. Entscheidend ist sind? die Zustimmung und der Wille gemeinsam zu arbeiten und gemeinsame Spielregeln anzuerkennen. Es kann durchaus mehrere Formen der Zugehörigkeit geben. Man sieht ganz deutlich, dass die Länder, welche unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg Demokratien im westlichen Sinne werden konnten, in vielen Bereichen eng aneinander gerückt sind, gepaart mit der Verpflichtung, zum Wohl der Gesellschaften und im Einklang mit ihren Traditionen zu handeln. Andere Länder, die später dazugekommen sind, haben nicht die gleichen? Formen der Zugehörigkeit. Formen, die man sich für die Zukunft genauso vorstellen kann.
Im Falle der Türkei müssen wir uns die Frage stellen, ob die Türkei zu Europa gehört, ob sich ihre Zugehörigkeit historisch oder politisch begründen lässt. Historisch dürfte dies schwer sein. Europa als historische Konstruktion hat sich in der Auseinandersetzung mit dem Osmanischen Reich herausgebildet. Heutzutage verhält es sich anders, wenn man von Europa als von einem politischen Projekt spricht, dann sind die Fragen der Verteilung der Macht, der zivilgesellschaftlichen Ordnung, der Anerkennung von internationalen Spielregeln entscheidend. Die Geschichte spielt dabei nur eine Nebenrolle.
Basil Kerski: Ist das wirklich so? Es gibt ja traditionell einen Diskurs unter Historikern, der die europäische Einigung zum Gegenstand hat, zugleich aber auch die europäischen Binnengrenzen sowie die unterschiedlichen Entwicklungsstränge anspricht. Es gibt gewiss politische Kräfte, die diese Binnengrenzen auch politisch instrumentalisieren. Die Äußerung von US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld über das „alte Europa“ mit Deutschland und Frankreich sowie das „neue Europa“, das östliche Mitteleuropa, wirft die Frage nach einer möglichen Substanz dieser Teilung auf. Ich habe dabei die Analyse des ungarischen Historikers Jenö Szücs im Sinn, der meinte, bei aller europäischer Einigung und Zusammengehörigkeit gäbe es drei charakteristische europäische Regionen: Westeuropa, östliches Mitteleuropa und Osteuropa. Herr Professor Kaelble, wie sehen Sie diese europäischen Binnengrenzen und Unterschiede?
Hartmut Kaelble: Ich würde als Historiker ebenfalls die Grenze nachzeichnen, die Etienne François erwähnt hat, die Grenze zwischen der Latinitas und der osteuropäischen Kirche, ohne dass wir diese Grenze für die Gegenwart überschätzen sollten. In den letz-ten 50 Jahren waren drei Grenzen entscheidend, mit denen wir uns noch immer auseinandersetzen müssen. Die erste Grenze ist die Ost-West-Grenze, die nach 1945 zwischen sowjetischem Machtbereich und dem westlichen Europa gezogen wurde und bis heute nachwirkt, auch wenn sie seit 1989 physisch nicht mehr existiert. Die zweite Grenze war die Grenze zwischen dem wirtschaftlichen Zentrum Europas, also dem Europa, das sich früh industrialisiert hat, Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Südschweden, Norditalien, Böhmen und der Peripherie im Süden und Osten Europas. Und diese Grenze ist im letzten halben Jahrhundert weitgehend verschwunden. Das ist eine der großen Leistungen des letzten halben Jahrhunderts. Eine dritte Unterscheidung, die unter Sozialwissenschaftlern sehr beliebt ist, ist die zwischen Norden und Süden, also zwischen Skandina-vien und Kontinentaleuropa.
Hinzu kommt die Unterscheidung von Donald Rumsfeld, die sie gerade erwähnt haben. Der Konflikt und die Spannungen auf die er anspielt, sind eher momentan und dem Irak-Krieg geschuldet. Bei aller vermuteten Kurzlebigkeit sind diese Spannungen im starken Maße von unterschiedlichen Erfahrungen, nicht zuletzt als Folge des Zweiten Weltkriegs geprägt. Was die jüngeren Diktaturerfahrungen anbelangt, unterschieden sich die Staaten Ostmitteleuropas grundsätzlich von Westeuropa. Das sind aber keine Erfahrungen, die unbedingt stabil bleiben müssen. Es ist eine Aufgabe im vereinten Europa sowohl für die Regierungen als auch die Intellektuellen, in den Öffentlichkeiten der jeweiligen Ländern diese Unterschiede zu diskutieren, um herauszufinden, welches die tiefer liegenden Gründe der europäischen Teilung waren.
Wir müssen zum Beispiel verstehen, warum die Ostmitteleuropäer sich in der Irak-Frage anders als die Westeuropäer positioniert haben. Es hat keinen Sinn, ihnen vorzuwerfen, sie hätten ein „falsches“ Bewusstsein. Wir müssen als erstes verstehen, warum sie den Irak-Konflikt anders wahrgenommen haben. Erst im zweiten Schritt sollten die Westeu-ropäer in der Diskussion das Gemeinsame, auch in der Außenpolitik, herausfinden. Denn ohne die Verständigung auf das gemeinsam Verbindende wird die EU-Verfassung eine leere Hülse bleiben.
Basil Kerski: Mit dem EU-Beitritt Polens und anderer junger Demokratien Ostmitteleu-ropas wird die EU-Außengrenze, die Schengengrenze, weitgehend mit einer kulturell-religiösen Grenze identisch sein. Heißt das etwa, dass Polen jetzt Richtung Westen schaut und sich abweisend, vielleicht sogar gereizt, gegenüber seinen östlichen Nachbarn verhält? Robert Traba, die von Ihnen mitgegründete Allensteiner Kulturgemeinschaft Borussia setzt sich nicht nur mit dem deutschen Kulturerbe auseinander, sondern engagiert sich auch für den Dialog mit den östlichen Nachbarn Polens, mit Russland, Weißrussland und der Ukraine, ein. Wie sehen Sie das heutige Verhältnis der polnischen Nation zu sei-nen östlichen Nachbarn?
Abbildung 10:
Europäische Völkertafel („Kurze Beschreibung der in Europa Befintlichen Völkern Und Ihren Aigenschaften" Ölgemälde Steiermark, frühes 18. Jh.)
Internet-Quelle [8]
Robert Traba: Zum Glück muss ich nicht im Namen der polnischen Nation antworten, weil wir so viele unterschiedliche Konzeptionen haben, dass es unweigerlich auch viele Antworten auf diese Frage gibt. Eines scheint mir wichtig, noch einen Gedanken zur Diskussion um Europas Grenzen hinzuzufügen. Aus polnischer Sicht ist es von Interesse zu wissen, wie weit Europa nach Osten reicht. Niemand stellt sich die Frage, ob Portugal oder Spanien zu Europa gehören. Die gleiche Frage taucht hingegen reflexartig beim Osten Europas auf. Bei diesem Thema gehen die intellektuellen Meinungen in Polen ausein-ander. Ich denke hier an das Buch von Piotr Wandycz „Der Preis der Freiheit“, in dem er den Versuch unternimmt, Mitteleuropa zu bestimmen. Was charakterisiert Mitteleuropa? Welche Vorstellungen verbinden sich mit dem Zusatz Ost vor Mitteleuropa?
Ich möchte hier beispielhaft und kurz auf die Borussia eingehen. Wir Polen haben die Chance, sei es auch nur als kleine Gruppe wie Borussia, sich mit der nichtpolnischen Landesgeschichte auseinander zu setzen und mit ihr zu identifizieren, auch dann, wenn es nicht unbedingt dem nationalen Geschichtskanon entspricht. Das heißt, unser Erbe ist nicht nur jenes, welches wir seit dem 19. Jahrhundert erzählt bekommen und weitererzählen, sondern zu unserem Erbe gehört auch die Kultur der Nachbarn, die wir uns zum eigenen Wohl erschließen müssen. Das akzeptierte jüdische und deutsche Erbe stellt für Polen eine Bereicherung dar, die sich in der öffentlichen Wahrnehmung allmählich durchsetzt. Die Etablierung gemeinsamer Diskussionsfelder zwischen Deutschen und Po-len, zwischen Polen und Franzosen kann diesen Prozess befruchten.
Basil Kerski: Gibt es so etwas wie spezifische Europavorstellungen in Polen? Auch in Polen wird zur Zeit intensiv über den Inhalt der europäischen Verfassung diskutiert...
Robert Traba: Es gibt meiner Meinung nach noch keine Europa-Debatte in Polen. Ich hoffe, dass eine offene und seriöse Debatte noch kommt.
Basil Kerski: Gibt es spezifische Europavorstellungen in Deutschland und Frankreich?
Hartmut Kaelble: Die Europa-Debatte begann in Frankreich und Deutschland erst als die Bürger in irgendeiner Form durch Europa tangiert wurden. Insofern sehe ich überhaupt keinen Rückstand von Polen. Im Prinzip sind hier die Länder sehr ähnlich. Die Öffentlichkeiten reagieren, wenn sie betroffen sind, wenn wichtige Entscheidungen zu treffen sind. Ich bin sehr skeptisch, ob sich in der langen Debatte über Europa eine spezifisch deutsche Europavorstellung herausgebildet hat. Ich kann nicht erkennen, dass es ein be-sonderes Europa-Verständnis der Deutschen gibt. Es gibt ein paar Grundmuster. Eines haben die Deutschen gemeinsam mit Spaniern, vielleicht auch mit Polen, nämlich dass Europa nach den Diktaturerfahrungen sehr oft als die verheißungsvolle Alternative angesehen und folglich zu viel von Europa erwartet wurde. Zudem wird ein Gegensatz zwischen nationaler Identität und europäische Identität konstruiert. Das war in Deutschland direkt nach 1945 so und schwingt in der Enttäuschung über Europa heute manchmal noch mit. In Spanien war es so nach dem Franco-Regime, möglicherweise ist das in Polen auch der Fall. Das ist eine bestimmte, aber keine spezifisch deutsche Situation, sondern eine Situation von Europa-Vorstellungen nach Diktaturen.
Es gibt darüber hinaus eine gewisse, manchmal naiv vorgetragene Ansicht, die Deutschen wüssten mehr über den Föderalismus, über die Art wie Staaten zusammenleben. Ich glaube nicht daran. Ich nehme an, man muss es einfach realistisch als Deutscher sehen, dass die anderen eigene Vorstellungen davon haben, man muss sich damit auseinander setzen und nicht glauben, dass dieser bundesrepublikanische Föderalismus eine Art von Heilmittel für Europa ist. Lange Zeit glaubten die Deutschen, Expertengremien, wie das Verfassungsgericht oder die Bundesbank, seien das Richtige für Europa, weil die europäische Union in gewisser Weise eine Konstruktion von oben gewesen ist. Aber es zeigt sich interessanterweise, dass diese europäische Zentralbank ganz anders funktioniert als die deutsche Bundesbank. Es hat den Anschein, als ob die Deutschen etwas exportiert hätten, aber was herausgekommen war, ist ein ganz anders funktionierendes Gremium. Also es gibt gewisse Eigenheiten der deutschen Europa-Politik, Europa-Vorstellungen, aber ich würde die Ähnlichkeiten als bei weitem überwiegend betrachten.
Abbildung 11:
Humoristische Karte von Europa, Berlin 1870
"England sitzt abwartend auf dem Wollsack; die Fahne seiner Neutralität ist etwas lädiert durch Pulver- und Gewehrsendungen nach Frankreich. Irland möchte sich von der englischen Nabelschnur durch das F[...]thum lösen. Spanien wacht noch immer nach dem verlornen Königthum und verspricht dem ehrlichen Finder eine Krone. Corsica bemüht sich vergebens, wieder einen "großen Corsen" zur Welt zu bringen. Sicilien ladet zu einer neuen Vesper. Die Türkei dampft und wird ihr politisches Dasein wohl bald verraucht haben. Italien spielt mit Rom Imp[...] und erwischt dabei den "schwarzen Peter". Frankreich verliert beim Ausreissen zwei Hemdenzipfel (Elsass und Lothringen), die Deutschland, beim Haschemänn-chen, in der Hand behält. Preussen hat Ihm schon. Oesterreich liegt auf der Lauer. Belgien und Holland laden die Kriegsparteien zum Besuch auf ein neutrales Gericht Bayonett mit Kolben. Die Schweiz heilt die Wunden der Wunder des Ch[...]t's. Dänemark's "[...]" und Russland harrt mit scharf geschliffenem Messer der Stunde, wo es ihm vergönnt sein wird, ein Stück vom Halbmond für sich abzuschneiden. Zu der ganzen Comödie spielen Schweden und Norwegen vorläufig die Zuschauer. (Die Dampfer-Linien nach London sind stark befahren)"
Internet-Quelle [9]
Etienne François: Ich sehe eine Besonderheit in dem französischen Weg nach Europa, eine Vorstellung, die mit de Gaulle verbunden ist. Dass Europa dazu diene, die führende Rolle von Frankreich zu bewahren und fortzuführen. Die enge Verbindung zwischen nationalem Ehrgeiz und größeren Ambitionen in der Weltpolitik. Europa als politisches Mittel spielt dabei noch immer eine Rolle, und bleibt unverändert aktuell. Diese Bedeutung lässt sich bei Gesprächen, sei es zwischen Vertretern unterschiedlicher Länder über die Zukunft Europas oder im europäischen Konvent, feststellen, nicht zuletzt dann, wenn es Konflikte gibt. Diese Vorstellung, Europa sei mehr als nur ein Raum von gemeinsamen Werten und Spielregeln, sondern solle sich zu einer Macht mit einer eigenständigen Verteidigungspolitik entwickeln, ist in Frankreich vermutlich stärker verbreitet als anderswo.
Wobei die Franzosen meistens mit sich selbst nicht einig sind, denn nachdem sie behauptet haben, Europa solle sich zu einer wirklichen Macht im Spiel der Weltmächte stilisieren, tun sie sich schwer, den Dialog mit dem anderen Partner, Großbritannien, zu führen. Wir haben so gut wie gar nicht von Großbritannien gesprochen, aber wenn man die rein wirtschaftliche Ebene zugunsten der außen- und verteidigungspolitischen verlässt, dann wäre der Partner vor allem Großbritannien, mit seinem besonderen Verhältnis zu den Vereinigten Staaten, und jeder weiß, dass wir hier weit auseinander liegen. Das wäre es, was ich zu dem französischen Weg in Europa sagen würde.
Eines fällt mir noch in Frankreich auf. Man ist sich dort immer mehr bewusst geworden, dass die Hoffnung, Europa könne sich zu einer neuen Macht entwickeln, sich nicht von der Entstehung eines europäischen Bildungsraumes abkoppeln lässt. Die Anpassung der unterschiedlichen Bildungssysteme, die Zurückstufung der Eigenart des französischen Bildungsweges ist etwas, was ich in den letzten Jahren beobachte. Man kann sagen, dass es nicht schnell genug geht, aber ich sehe das in allen Grandes Ecoles, den Elitehochschulen, einem französischen Spezifikum. Sie versuchen, sich seit ungefähr fünf Jahren zu europäisieren, den Zugang zu ihnen nicht nur über französische Examina und Wett-bewerbe, sondern auch über andere Kriterien, die allgemeingültig für andere Länder Europas sind, zu ermöglichen. Das ist eine neue Entwicklung. Alle diese Eliteschulen wissen, dass sie nur dann eine Zukunft haben, wenn sie europarelevant sind und nicht mehr rein auf Frankreich bezogen wirken. Das hat Folgen für die Verbreitung von Sprachkenntnissen. Wir waren lange Zeit in Frankreich das Schlusslicht, was die Sprachen betrifft. Mir scheint, die Engländer sind noch schlimmer als wir, aber die sprechen immerhin die Weltsprache, was bei uns nicht mehr der Fall ist. Ich bin sehr beeindruckt zu sehen, wie man heutzutage in Frankreich von unten her versucht, sich an diese neue Realität von Europa anzupassen, etwa in puncto Mehrsprachigkeit. Dass man nicht nur Französisch spricht, sondern auch Englisch und wenn es geht noch eine dritte Sprache. Das ist eine Herausforderung, die für alle europäischen Länder gilt, nicht nur für Frankreich oder Deutschland. Der Weg ist noch ein weiter, aber wenn es uns gelingt, dann helfen wir uns, Europa einander näher zu bringen als es heute noch der Fall ist.
Basil Kerski: Das ist ein hervorragendes Schlusswort. Vielen Dank für das Gespräch.
Fotos: Emanuela Danielewicz
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- [4]http://www.ofaj.org/netzwerk/grund/vertrag63.html
- [5]http://www.celtoslavica.de/europa/virgo.html
- [6]http://fhh1.hamburg.de/maps/english/europe/europa.htm
- [7]http://www.vulture-bookz.de/imagebank/Karikaturen/pages/1887%7EDas_heutige_Europa_%28Nebelspalter%29.html
- [8]http://www.jungeforschung.de/europa-bilder/voelkertafel.htm
- [9]http://www.vulture-bookz.de/imagebank/Karikaturen/pages/1870%7EHumoristische_Karte_von_Europa_%28A_Neumann%29.html