- Europa der Regionen
- Europäische Dimensionen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit
- Die deutsch-französische Verständigung: Grundlage Europas
- Vorbemerkung
- Antiamerikanische Strömungen
- Die Rolle der UNO
- Das Verhalten Frankreichs und Deutschlands in der Irak-Krise
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- Deutschland im europäischen und internationalen System
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'Unterschiedliche Grundhaltungen nach 1945'
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Unterschiedliche Grundhaltungen nach 1945
Zugespitzt könnte man sagen, den USA gegenüber war Frankreich ein Beispiel übertriebener Undankbarkeit, die Bundesrepublik ein Modell übertriebener Dankbarkeit. In seiner berühmten Rede vom Balkon des Pariser Rathauses im August 1944 hatte de Gaulle verkündet, dass sich Paris selbst befreit habe, mit der Hilfe der französischen Armee und mit der Unterstützung des gesamten französischen Volkes. Kein Wort von der Befreiung durch den siegreichen Marsch der Amerikaner und der Briten. Aber damals versuchte de Gaulle, Frankreichs Position wieder herzustellen, trotz seiner Schwäche. Er erreichte sein Ziel mindestens auf zwei wesentlichen Gebieten. Dank Churchill in Jalta [1] wurde Frankreich eine der Vier Mächte, die das besiegte Deutschland besetzten und beherrschten, und dank seiner geschickten Politik in San Francisco erhielt Frankreich 1945 einen der fünf ständigen Sitze im neu eingerichteten Sicherheitsrat der Vereinten Nationen – eine Errungenschaft, die in der Irak-Krise 2002/2003 eine große Rolle spielen sollte.
Das Ziel war ein doppeltes und ist es auch zweimal nach ihm (nach 1946 und nach 1969) geblieben. Es geht um das Prestige und um den «Rang». Das Prestige war nicht nur Mittel, sondern auch Selbstzweck. Davon wird 2002/2003 bei Jacques Chirac und Dominique de Villepin noch einiges zu verspüren sein, aber abgeschwächt. Der Rang, das ist ein Begriff, der weitgehend einer Grundfrage entspricht, die zwei Länder nach 1945 gestellt haben.
Bei den Feiern zum 40. Jahrestag des Elysée-Vertrags wurden zwei Daten ausgeklammert. Einerseits der 14. Januar (1963) – einige Tage vor der Unterschrift –, und der Oktober des Vorjahrs (1962). Am 14. Januar hatte de Gaulle Großbritannien ein energisches Nein entgegengeschmettert. Warum? Der verkündete Grund war ein Widerspruch: «England darf nicht in die Europäische Gemeinschaft, weil es eine Form dieser Gemeinschaft ablehnt, die Frankreich übrigens auch ablehnt». Zur gleichen Zeit und dann noch in der Präambel des Bundestags gab es den entgegengesetzten Widerspruch: «Gegen de Gaulle muss Großbritannien herein in ein Europa der Supranationalität – wobei doch gerade London jede Supranationalität ablehnt». Der wahre Grund war ein anderer. Seit Kriegsende fragen sich Frankreich und Großbritannien: «Wie kann ich Welteinfluss behalten oder zurückgewinnen, wo ich doch weiss, dass ich keine Weltmacht mehr bin?» Die britische Antwort war: «Indem ich ein special relationship mit der einzigen echten Weltmacht habe». Das hat Tony Blair in der Irak-Krise praktiziert, wobei sein Land doch seit 1973 Mitglied der Europäischen Gemeinschaft ist, und er sogar versucht, das Pfund in den Euro hineinzubringen. Fazit: ein schwer durchzuhaltender Spagat.
Frankreichs Antwort war, bereits zur Zeit von Robert Schuman und Jean Monnet: «Indem ich ein Europa schaffe, in dem ich allein Welteinfluss ausüben würde. Die Bundesrepublik, mit ihrer politischen Schwäche und ihrer wirtschaftlichen Macht, kann mich dabei unterstützen». Dass dies die Bedeutung des Elysée-Vertrags war, wurde vom damaligen Gerhard Schröder gesehen und wurde im Januar 2003 im Rückblick übersehen. Warum war aber gerade zu dieser Zeit die deutsche Unterstützung wichtig?
Im Oktober 1962 hatte die Kuba-Krise stattgefunden. Sie erlaubte de Gaulle zu zeigen, was die Grundlage seiner Außenpolitik war. Wenn der Westen bedroht wird, ist Frankreich der feste Verbündete der USA. John F. Kennedy hat de Gaulle dafür gedankt, ihn in der Krise eher noch stärker, noch eindringlicher unterstützt zu haben als London und Bonn. Sobald aber die Bedrohung schwächer wird, soll Frankreich auf Distanz zu den USA gehen, um mehr Unabhängigkeit und mehr Prestige zu erreichen. Kennedy war der Sieger, also durfte man versuchen, mit Hilfe Adenauers Distanz zu Washington zu nehmen. Wobei de Gaulle vergaß, dass man die Bundesrepublik nie zwingen sollte, zwischen Paris und Washington zu wählen, denn die Entscheidung würde immer gegen Frankreich getroffen werden.
Eine Reihe von psychologischen Elementen haben lange eine Rolle gespielt und spielen sie vielleicht nach wie vor. Zunächst die merkwürdige Definition der Gleichheit: Frankreich muss in der NATO auf derselben Ebene stehen wie die USA – aber wie vermessen sind doch die Niederlande, wenn sie die Gleichheit mit Frankreich in Europa fordern! Der weiter unten zu kommentierende Ausbruch Chiracs gegen Polen und die anderen, die Bush unterstützt hatten, ist wohl einer ähnlichen Überzeugung entsprungen. Der Wunsch, mit Amerika auf derselben Stufe zu stehen, drückt sich eben auch durch die erwähnte Undankbarkeit aus. In einem netten Theaterstück des XIX. Jahrhunderts Le voyage de Monsieur Perrichon , will dieser, ein biederer Pariser Bourgeois, seine Tochter nicht mit dem jungen Mann verheiraten, der ihm das Leben gerettet hat, sondern mit dessen geschicktem Freund, der getan hat, als hätte ihm Perrichon das Leben gerettet. Er sagt ihm: «Ich habe ihr Leben gerettet. Das werde ich nie vergessen!» Liebt man Amerika, so spricht man von Benjamin Franklin und Lafayette. Die waren klein. Wir waren groß. Wir haben Ihnen geholfen. Wohl in keinem Land, das nach 1947 amerikanische Wirtschaftshilfe erhalten hat, sind die 50 Jahre des Marshall-Plans1997 so wenig gefeiert worden wie in Frankreich! In der Irak-Krise hat aber diese Einstellung kaum eine Rolle gespielt. Es ging weniger um die Politik Amerikas schlechthin als um die von George W. Bush.
Die deutsche Dankbarkeit ist natürlich voll berechtigt. Die Luftbrücke hat Westberlin gerettet und zugleich die Westdeutschen zu Verbündeten der moralischen Mächte gegen die verbrecherische Bedrohung gemacht. Ohne den Marshall-Plan hätte das «Wirtschaftswunder» nicht stattgefunden. Bei der Wiedervereinigung gab es aus Washington mehr Verständnis und Unterstützung als bei irgend einem Europäer, mit Ausnahme von Jacques Delors, Präsident der Brüsseler Kommission.
Abbildung 2:
Am 26. Juni 1963 besuchte J. F. Kennedy Berlin. Er schloss seine Rede vor dem Schöneburger Rathaus mit den berühmt gewordenen Worten „Ich bin ein Berliner“
Internet-Quelle [2]
Aber die Dankbarkeit wird übertrieben, wenn sie sich auf Mythen bezieht. 2003 feiert man begeistert den 40. Jahrestag von Kennedys «Ich bin ein Berliner». Wer hat da gesagt, dass ja gerade Kennedy die Berliner Mauer zwei Jahre zuvor aus guten Gründen zugelassen hatte? Im Juni 1961 hatte er die «three essentials» definiert, die zu verteidigen waren: Die amerikanische Präsenz in Westberlin, der freie Zugang der USA zu Westberlin und die Sicherheit der Westberliner Bevölkerung. Der Mauerbau vom 13. August verletzte die «essentials» nicht. Die Mauer war auch der friedlichste Weg, um die Massenflucht aus der DDR zu unterbrechen. Der andere wäre gewesen, die Zug- und Luftverbindungen zwischen Westberlin und dem Westen zu verhindern – eine echte Weltkriegsgefahr! (Auch in Deutschland muss daran erinnert werden, dass zwischen 1948 und 1961 zwar Berlin zweigeteilt war, aber dass ein DDR-Bürger ohne große Schwierigkeiten nach Ostberlin konnte, von dort nach Westberlin – und von Westberlin in die Bundesrepublik).