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Europa als Frage

Die neu gegründete Bundesrepublik, so hat ein scharfsinniger politischer Beobachter damals formuliert, sei ein "Kind der NATO". In der Tat, ohne die Eskalation des Ost-West-Konflikts in den Kalten Krieg und ohne die damit verbundenen Bedrohungsvorstellungen im westlichen Europa wäre es nicht so rasch zu einer politischen und bald auch wirtschaftlichen Konsolidierung dieses Staates gekommen. Dessen Staatsräson war jedenfalls von Anfang an engstens mit dem Westen verbunden, und zwar in einem "Zwei-Kreise-Modell".
Der erste Kreis umfasste Frankreich und die anderen westlichen Nachbarstaaten, der zweite die Vereinigten Staaten von Amerika und Kanada.
In (West-)Europa eine politische Union zu bilden, damit endlich Schluss sein würde mit den inner-europäischen Rivalitäten, das war ein vorrangiges Ziel der Gründerväter eines vereinigten Europa, an ihrer Spitze Robert Schuman [1] , Konrad Adenauer [2] und Alcide de Gasperi [3] . Dabei kam es insbesondere auf den Gleichklang der französischen und der deutschen Politik an. Diese beiden Länder waren die gewichtigsten auf dem europäischen Kontinent; ohne einen starken deutsch-französischen Motor würde die europäische Integration nicht sehr weit kommen.

Abbildung 6:

Europäische Union und Euro

 

 

 

 

Internet-Quelle [4]

Dieses Tandem ist bis heute das entscheidende Element für die Ausbildung der Europäischen Union als eines makro-regionalen und weltpolitischen Akteurs. Dabei unterschieden sich die Motive der deutschen und französischen Regierungen in ihrer jeweiligen Europapolitik nicht unbeträchtlich. Das hat zuweilen zu Verzögerungen und Krisen geführt, ohne dass die Integrationsdynamik wesentlich nachgelassen hätte.
Wir stoßen hier allerdings auf ein merkwürdiges Phänomen. Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts 1989/90 hat die europäische Integration, entgegen den Erwartungen mancher Skeptiker, erheblich an Schwung gewonnen. Durch die Verträge von Maastricht [5] und Amsterdam hat sich die Integration vertieft. Außerdem hat sich die Zahl der Mitglieder und vor allem der Mitgliedskandidaten erhöht. Seit der Konferenz von Nizza [6] und der Einberufung des Verfassungskonvents [7] bemerken die Europäer allerdings auch die missliche Lage, in welche das Projekt der Europäischen Union geraten ist - sein Ziel ist ihm irgendwie abhanden gekommen. Wie kann man die öffentliche Zustimmung für die Integration in den einzelnen Mitgliedsländern vor weiterem Absinken bewahren? Wie kann man mehr Legitimation, Transparenz und mehr Partizipationsmöglichkeiten für die Bürgerinnen und Bürger schaffen? Welche Art von Akteur soll Europa werden? Wie sollen die verschiedenen Handlungsebenen - regionale, nationale, supranationale und intergouvernementale - aufeinander abgestimmt, wie die Kompetenzen zwischen ihnen verteilt werden? Welche Rolle soll die Europäische Union im internationalen System anstreben?

Abbildung 7:

Karikatur zum Vertrag von Maastricht

 

 

 

Internet-Quelle [8]

Die Auseinandersetzung darüber nennt man mit leicht resigniertem Unterton die Finalitäts-Debatte [9] . Sie hat viele Aspekte. Aber einer ist für unser Thema von besonderem Belang. Wenn man den überraschend erfolgreichen Gang des Integrations-Prozesses untersucht, stößt man immer wieder darauf, dass entscheidende und das Tempo dieses Prozesses weitgehend allein bestimmende Akteure die verschiedenen Regierungen waren. Die Bundesregierungen in Bonn, von Konrad Adenauer bis Gerhard Schröder, haben dieses Tempo in der Regel zu beschleunigen und die Zahl und Bedeutung ihrer supranationalen Elemente zu erhöhen versucht. Dabei achteten sie darauf, dass der transatlantische Kontext durch europäische Entwicklungen nicht oder allenfalls marginal gestört wurde. Und sie achteten auch darauf, früher geradezu penibel, seit ein paar Jahren häufiger mit mehr Lässigkeit, dass Deutschland nicht in die Rolle eines seine Wirtschaftskraft als Hebel benutzenden Integrations-Anführers geriet, der ebenso eindeutige wie einseitige und notfalls auch mittels politisch-ökonomischem Druck herbeigeführte Richtungsentscheidungen fällt und durchsetzt.