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'Minimaler Staat, Leiden des Subjekts, neue Formen des Politischen'
 
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Minimaler Staat, Leiden des Subjekts, neue Formen des Politischen

Um die Folgen der Globalisierung für die Erziehung zu begreifen, muss man die Analyse vertiefen, zumindest in Bezug auf drei weitere Themen: die Frage des Staates, das, was gegenwärtig auf das Subjekt zukommt und die neuen Formen des Politischen.

Man nimmt im Allgemeinen an, dass die Globalisierung einen Rückzug des Staates einleitet, einen Rückgang des Wohlfahrtsstaates. Diese Idee ist zutreffend, aber zu summarisch. Wir erleben in der Tat einen Rückzug des Staates aus dem Bereich der Wirtschaft (umfassende Privatisierungen), einen Rückgang des öffentlichen Dienstes (der für den Neoliberalismus [1] unerträglich ist, weil er Regulierungen aufzwingt), einen Kontrollverlust des Staates über einige derjenigen Hebel, die die Beherrschung eines Territoriums gewährleisten (Wirtschaft, Währung, teilweise das Recht, bald vielleicht die Armee). Doch der wirtschaftliche Liberalismus geht nicht mit einem politischen Liberalismus [2] (in der nordamerikanischen Bedeutung des Begriffs) einher. Der Staat bleibt Garant der sozialen Ordnung, er muss die sozialen Folgen der Globalisierung regulieren und dabei die öffentliche Ordnung gewährleisten (im Angesicht der Gewalt, die überall die neo-liberale Politik begleitet), und dort, wo es unvermeidlich ist, ein Minimum öffentlicher Unterstützung für die Ärmsten gewähren. Der Neoliberalismus kann einen autoritären Staat sehr gut in Kauf nehmen, sofern diese Autorität dazu dient, die Proteste zu unterdrücken und nicht versucht, die Märkte zu regulieren (vgl. zum Beispiel Pinochets Chile).

Beim Kampf gegen die Arbeitslosigkeit werden auch die Standards für Unterstützung und Sozialhilfe immer wieder neu definiert.



(Quelle: 333200000069-28.bei.t-online.de/14wh-mit.htm, 20.07.2004)

Doch sogar in dieser Funktion der Ordnung und der Unterstützung erscheinen neue Modalitäten. Der Staat bemüht sich, diejenigen, die von der Sozialhilfe leben, zu einem Tiefstpreis zurück in den Arbeitsmarkt zu bringen (insbesondere die Vereinigten Staaten, Großbritannien, Frankreich). Er delegiert die Machtausübung zunehmend an eine Polizei ,,des Nahbereichs" (städtisch oder national), und lässt die Entwicklung einer Sicherheitsindustrie in einem schnellen Rhythmus zu. Sogar in diesem ureigensten Hoheitsbereich, den die öffentliche Ordnung darstellt, schreitet die Marktlogik fort.

Die Erziehung ist hier zumindest in zweierlei Hinsicht betroffen. Einerseits ist überall der Staat der Garant der öffentlichen Schule und eines Minimums an Gleichheit gegenüber Ausbildung und Unterricht. Der Rückzug des Staates wird von einem Rückzug der öffentlichen Schule begleitet, oder ihrer partiellen Denaturierung, indem die öffentlichen Einrichtungen selbst in einen Wettbewerb untereinander gebracht werden. Andererseits wird die Schule zu einem Ort, wo man versucht, die Auswirkungen der neo-liberalen Politik auf die Jugend unter Kontrolle zu bringen (Gewalt, Kriminalität, Drogenkonsum usw.). Ein Jahrhundert ist es her, dass die Schule auf einem politisch-kulturellen Projekt (Nation, Bürger) gründete, heute erwartet man zunehmend, dass sie (in Frankreich zum Beispiel) die Rolle der Friedensstifterin gegenüber den Opfern spielt, im Namen der citoyenneté [des Gemeinwesens im politischen Sinne] - wobei die gesellschaftliche Frage der "sozialen Bindung" mit der politischen Frage der citoyenneté verwechselt wird.

Die Erziehung zur Citoyenneté, zum Gemeinwesen im politischen Sinne, ist eine wesentliche Aufgabe des Schulwesens, dem besonders in Frankreich (aber auch in vielen anderen Ländern) hohe Bedeutung zugemessen wird.


(Quelle: www.csdm.qc.ca/csdm/index.asp)

 

 

Wenn es nötig ist, soziale Bindung wieder aufzubauen, dann auch deshalb, weil die Existenzen sich vereinzelt und die Werte sich individualisiert haben. Diese Entwicklung hängt nicht am Liberalismus allein, sie stammt aus der Zeit vor der neo-liberalen Welle, diese aber verstärkt und verhärtet das Problem, indem sie gleichzeitig sowohl die Bedürfnisse als auch den Wettbewerb und die Vernachlässigung verstärkt.

Wir erleben ein und leben in einem Zeitalter sowohl der Aufwertung des Subjekts als auch der Leiden des Subjekts. Die Gesellschaften der Selbstbeschränkung lehrten ihre Kinder die Beherrschung der Bedürfnisse (zentrales Thema der Moralphilosophie und der Religion) und den Wert des Sparens. Die Gesellschaften, die das Wachstum suchen, benötigen die Bedürfnisse als Verlockung zum Konsum, sie stellen sie als a priori legitim dar, helfen durch Kredite, sie zu befriedigen und lassen sie durch die Werbung entstehen. Aber dieses Zeitalter der Aufwertung des Subjekts und seiner Bedürfnisse ist auch ein Zeitalter der Vernachlässigung des Subjekts. Die Großen Symboliken und die Imaginären Gründer sind gestürzt, sei es in Moskau, Peking, Algier, Hanoi oder in Kuba. In Ermangelung eines kollektiv getragenen Sinns bleiben zwei Optionen. Erste Option: aus dem eigenen Leben ein Kunstwerk zu machen, sein eigener Star zu werden, und wenn möglich, wenigstens für einen kurzen Moment, auch für andere ein Star zu sein (und sei es, indem man dem Fernsehen seine intimsten Angelegenheiten preisgibt). Zweite Option: in Ermangelung einer erstrebenswerten Zukunft sich in Richtung der Vergangenheit zu wenden, so dass man Phänomene wieder auftauchen sieht, die man für immer vergangen glaubte: Bürgerkriege, religiösen (moslemischen, jüdischen, christlich-evangelistischen) Fundamentalismus. Diese zweite Option ist für den Liberalismus unerträglich, aber die erste kommt ihm sehr entgegen: Seit seinen Ursprüngen will der Kapitalismus nur das Individuum kennen und lehnt jeden Zusammenschluss ab (Körperschaften, Klerus, Gewerkschaften, wenn er kann).

Eine solche Welt ist unausweichlich gewalttätig und korrumpiert: Wie könnte es anders sein, wenn doch der Liberalismus gleichzeitig die Legitimität der Bedürfnisse postuliert, unzähligen Menschen die Mittel verweigert, diese Bedürfnisse legal zu befriedigen (daher die Gewalt), bestimmten Menschen dagegen mächtige, aber illegale Mittel anbietet, sie zu befriedigen (daher die Korruption)?

Eine solche Welt schätzt die Unmittelbarkeit: die der Bedürfnisse, aber auch die der Kommunikation (elektronische Botschaften) und sogar die der Kämpfe (Organisationen, die mehr oder weniger informell sind, von kurzer Dauer, stark auf eine Zielsetzung orientiert) eher als dauerhaftes politisches und gewerkschaftliches Engagement).

Erziehen bedeutet lehren, sich Zeit zu lassen, Umwege zu machen, Vermittlungen zu konstruieren, in die Universen von Zeichen und Wörtern einzutreten, die Bezugspunkte zu wählen, die der Welt Sinn verleihen. In der globalisierten Welt, der Welt der Unmittelbarkeit, wo jeder zum Bezugspunkt für sich selbst wird, wird es schwierig, zu erziehen.

In dieser Welt sind neue Formen des Politischen aufgetaucht, die unter dem Begriff Gouvernance [3] gerade grundlegend dabei sind, die Konzeption des Politischen zu verändern. Es handelt sich nicht mehr darum, ein Projekt für das Gemeinwesen im politischen Sinne zu realisieren, sondern darum, das kollektive Leben so gut wie möglich zu verwalten. Damit dies geschieht, müssen Effizienz und Nähe gezeigt werden. Die Effizienz, die es erlaubt, mit minimalen Rosten und maximalem Profit zu verwalten. Die Nahe, die zugleich das aufsammelt, was durch den Staat delegiert wird, eine wirksame Instanz sozialer Rontrolle bildet und einen Ansprechpartner für das orientierungslose Subjekt anbietet. Gouvernance impliziert, dass sich drei Ebenen artikulieren, die in ihrer Wechselwirkung heute den Raum des Politischen bilden: die globale Ebene (zu der immer starker eine global-regionale Ebene hinzukommt, wie zum Beispiel die Europas), die staatliche Ebene, die lokale Ebene. Der Ort, wo die Entscheidungen getroffen werden, ist zugleich näher als früher (es ist die Gemeinde, ganz in meiner Nähe) als auch so weit entfernt, dass es fast unmöglich wird zu identifizieren, wer was beabsichtigt hat und weswegen.

WTO - What's The Objection?
Zynische Karikatur gegen die weltweiten Aktivitäten und Einflussnahmen der Welthandelsorganisation.





(Quelle: lrna.org/8-topic/global.html, 05.01.2006)

Das Bild kann düster erscheinen. Es ist in der Tat düster, und es würde noch düsterer werden, wenn die Projekte der Liberalisierung der Dienstleistungen, die momentan unter der Schirmherrschaft der WTO [4] (Welthandelsorganisation) diskutiert werden, zum Abschluss gebracht werden. Allerdings hat die Globalisierung wenigstens eine positive Wirkung gehabt: Sie hat lokale Privilegien, engstirnigen Rückzug auf sich selbst, verkalkte Korporatismen, begrenzte, aber schwerwiegende Herrschaftsausübungen aufgewühlt und zu Fall gebracht. Man darf nicht vergessen, dass auch die extreme Rechte die Globalisierung bekämpft: Sie will nicht, dass sich Türen öffnen, die es Ausländern erlauben würden, sich "bei uns" niederzulassen, sie will keine durchmischte Welt, die "uns" und die "sies" vermischen würde. Die Globalisierung hat Grenzen umgeworfen, Räume eröffnet, sie hat dieses Netz konstruiert, das Internet genannt wird, das als Netz der Spekulanten, aber auch als Netz der Militanten fungiert. Im Gefolge der Globalisierung und oft im Widerstand gegen diese Globalisierung entwickeln sich Prozesse, die eine Mondialisation im Sinne der Solidarität andeuten. Die Globalisierung konnte die Erziehung noch ungleicher als je zuvor machen. Aber die Mondialisation ermöglicht es, dass ich durch das Internet eine Botschaft von Schülern der vierten Jahrgangsstufe in São Paulo erhalte, die wissen wollen, bis zu welchem Punkt der Welt genau eine solche Mitteilung vordringen kann.

Um Erziehung aus der Perspektive einer Mondialisation der Solidarität denken zu können, ist es notwendig, genauer zu erläutern, welcher Art die Beziehungen zwischen einer universalistischen Perspektive, einer sozialen oder gemeinschaftlichen Zugehörigkeit und der Freiheit des Subjekts sein können.