- Politische Struktur, Zentralismus, Dezentralisierung
- Grenzüberschreitende Probleme und Kooperation
- Regionale Beispiele
- Paris und die Ile-de-France - Räumlicher Wandel im Bevölkerungs- und Wirtschaftsgefüge
- Paris - Globale Stadt im europäischen Kontext
- Vom Quartier Goutte d'Or in die Villes Nouvelles - Pariser Stadtentwicklung als Motor sozialräumlicher Differenzierungsprozesse
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- Städtebau in Berlin und seine Ausstrahlung auf Paris 1900-1940
- Stadtsanierung und Revitalisierung am Beispiel von Paris-Bercy
'Berlin und Paris als unterschiedliche Metropolentypen'
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Berlin und Paris als unterschiedliche Metropolentypen
"Es ist eine herbe Erkenntnis: keine Stadt gibt uns mehr als wir an Stimmung und Einbildungskraft mitbringen."
Carl von Ossietzky (33)
Welche Aussagen lassen sich nun, nachdem wir die Entwicklung zweier Großstädte um die Wende zum 20. Jahrhunderts miteinander verglichen haben, über den Metropolenbegriff treffen? Machen die vielen genannten Unterschiede die Einordnung zweier solch offensichtlich verschiedener Städte unter eine gemeinsame Kategorie "Metropole" unsinnig? Was außer ihrer Größe haben sie denn tatsächlich gemeinsam?
Eine mögliche Antwort auf diese Frage bietet eine neue Definition der Metropole, die nicht mehr nur geographisch begründet ist, sondern vor allem kulturell und mentalitätsgeschichtlich. Dabei wird angenommen, dass sich das Wesen einer Großstadt, die über die Funktion einer "nur großen Stadt" hinausgeht, darin besteht, dass sie auch andere, symbolische Funktionen erfüllt. Städte wie London, Paris, New York, Berlin verdanken ihren Ruf als Metropolen ihrer Rolle als Projektionsflächen vieler unterschiedlicher kultureller, politischer und ideologischer Sinnzuweisungen. Oder etwas banaler ausgedrückt: Sie waren und sind Metropolen, weil sie als "besondere Städte" empfunden werden, als Orte, mit denen jeder Mensch eine andere Assoziation verbinden kann.
Unter dieser Prämisse nun ist es möglich, auch so verschiedene Städte wie Berlin und Paris als Metropolen zu kennzeichnen, indem man die jeweiligen Sinnzuweisungen untersucht und versucht, zu beschreiben. Bezieht man andere Städte in diesen Versuch mit ein, ergibt sich zumindest eine Zweiteilung, die hier kurz charakterisiert werden soll.
Paris, London und, bis zum Ersten Weltkrieg auch Wien waren alte, mehr oder weniger organisch gewachsene Städte, die die wichtigsten Funktionen des jeweiligen Landes, von der Verwaltung bis zur Kultur, in sich vereinten. Die zentralistische Struktur Frankreichs, Englands und Österreichs verhinderte nicht nur eine echte Konkurrenz anderer Städte, sondern brachte es mit sich, dass ihnen im Laufe der Zeit immer neue Funktionen zuwuchsen. Ihre herausgehobene Stellung führte zugleich dazu, dass ihnen eine gewisse Vorbildfunktion im Bezug auf jüngere Städte zufiel; sie wurden zu role models, an denen sich jede andere Stadt, die im Wachsen begriffen war, zu messen hatte. Zu dieser Rolle aber trat, insbesondere im Fall von Paris, ihr Selbstverständnis und Image als "schöne Stadt", also die Zuweisung einer auch ästhetischen Sonderstellung.
Spätestens gegen Ende des 19. Jahrhunderts aber wurde klar, dass sich diese Definition auf die Millionenstädte der Neuen Welt, also vor allem New York und Chicago nicht anwenden ließ. Die USA waren weder zentralistisch organisiert, noch verfügten sie über eine weit zurückreichende Geschichte, die als Legitimation ihrer Sonderstellung dienen konnte, wie dies bei Paris geschah, das sich immer als Nachfolgerin Roms verstanden hatte. Statt dessen entwickelte sich eine andere, aber ebenso mächtige Rollenzuweisung: die der Metropole als Ort, an dem sich die Moderne erstmals zeigt und herausbildet. Diese Städte wurden zu Experimentierstuben, zu Laboratorien der Moderne, in denen sich die Massenkultur mit ihren Filmtheatern, Sportveranstaltungen und Werbezetteln, die Technik mit ihren Automobilen, U-Bahnen und Wolkenkratzern, erproben und präsentieren konnte. So groß die Abwehrreaktion in den traditionsreichen Metropolen der Alten Welt gegen diese Art von Kulturrevolution war, so groß musste, nach und nach, die Begeisterung und Euphorie in einer Stadt wie Berlin sein. Stetig im Werden begriffen, immer auf der Suche nach einer Rolle und einem Platz in der Reihe der Weltstädte, erschienen New York und Chicago als natürliche Weggenossen. Im Gegensatz zu Paris waren sie unbelastet von "Traditionsballast" und erinnerten damit an Goethes Zeilen: "Amerika, du hast es besser/ Als unser Kontinent, das alte/ Hast keine verfallenen Schlösser/ Und keine Basalte." (34)
Unterstrichen wird dieser Unterschied, wenn wir uns den Umgang von Paris und Berlin mit dem Phänomen der Moderne ansehen. Während in Paris das konservative Beharren und die Abwehrreaktion gegen alle Neuerungen und jeden Wandel an erster Stelle stand, so sprang Berlin, nach kurzem Zögern, begeistert auf den Zug auf und beteiligte sich enthusiastisch am urbanistischen Diskurs der zwanziger Jahre.
Wenn wir also auch von zwei Typen der Metropole sprechen, einer "klassischen", traditionellen einerseits, und einer modernen andererseits, können wir sie trotzdem als einer gemeinsamen Klasse von Städten empfinden, wenn wir an ihre Magnetwirkung, Ausstrahlungskraft und Vorreiterrolle in allen Bereichen der modernen Kultur erinnern. Und so verschieden der jeweilige Weg von Paris und Berlin hier gewesen sein mag, so verbunden sind sie heute doch durch das Wissen darum, dass sie den für sie jeweils richtigen und einzig gangbaren Pfad eingeschlagen haben.