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Während die vielen gesellschaftlichen Initiativen den Europäismus der Zwischenkriegszeit sehr gut repräsentieren, bedeutete ein föderatives Europa für die meisten europäischen Regierungen keine Priorität. Die wenigsten waren willens, Souveränitätsrechte abzutreten. Dem trug der Briand-Plan Rechnung, und dennoch schienen er vielen Regierungen zu weit zu gehen.

Was schlug Briand vor dem Völkerbund vor? Er forderte föderative Strukturen und gemeinsame wirtschaftliche, politische und soziale Beschlüsse. Die Souveränität der Nationen wurde nicht zur Diskussion gestellt, nachdem sie gerade erst als "Selbstbestimmungsrecht der Völker" allgemein anerkannt worden war. So konnte der tschechoslowakische Außenminister Eduard Beneš als Repräsentant eines Landes, das dem Prinzip "Selbstbestimmungsrecht der Völker" seine Existenz verdankte, positiv auf Briands Initiative reagieren. Stresemann antwortete unter Bezug auf Europa als Wirtschaftssystem: "Die neuen Staaten, die der Versailler Vertrag geschaffen hat, sind nicht in das Wirtschaftssystem Europas einbezogen worden. Man hat nicht nur die Zahl der Grenzen erhöht, sondern gleichzeitig auch die wirtschaftlichen Schranken vermehrt und die Verkehrsschwierigkeiten gesteigert. Europa gleicht einem riesigen Detailmarkt. Mit diesem Zustande muß aufgeräumt werden. Man muß dahin gelangen, neue Bande zu schaffen, eine einheitliche Währung, einheitliche Briefmarken (…) Die Verschiedenheit, die gegenwärtig existiert, ist nicht allein dem europäischen Handel hinderlich, sondern sie ist den Kontinenten jenseits der Meere ebenso unverständlich wie manchmal uns selber." (Auszug in Foerster 1967: 301 (Foerster, Rolf H.: Europa. Geschichte einer politischen Idee. Mit einer Bibliographie von 182 Einigungsplänen aus den Jahren 1306 bis 1945, München 1967) ).

Die Völkerbundsmitglieder reagierten verhalten, erbaten von Briand jedoch ein Memorandum zur weiteren Beratung. Dies wurde am 17. Mai 1930 vorgelegt. Briand bezeichnete den Völkerbund als Rahmen der angestrebten europäischen Kooperation, mit dem Völkerbund geschaffene Einrichtungen wie das Schiedsgericht sollten nicht noch einmal auf europäischer Ebene eingesetzt werden, obwohl dies der langen Tradition von Europaplänen entsprochen hätte. Briand blieb teils sehr vage, wenn er einen Vertrag zur "moralischen Union Europas und zur feierlichen Bekräftigung der zwischen europäischen Staaten geschaffenen Solidarität" anregte. Aber ganz so vage waren diese Ideen dennoch nicht, es genügt, auf die nach dem Zweiten Weltkrieg tatsächlich abgeschlossenen Verträge zu schauen. Die politische Zusammenarbeit genoß bei Briand Vorrang vor der Wirtschafts- und Zollpolitik. Er beschrieb sie als einen "Bund auf der Grundlage des Gedankens der Einigung, nicht der Einheit; d.h. er muß elastisch genug sein, um die Unabhängigkeit und die nationale Souveränität jeden Staates zu wahren, aber allen den Vorteil kollektiver Solidarität bei der Regelung der politischen Fragen gewährleisten, die das Schicksal der europäischen Gemeinschaft oder das eines ihrer Mitglieder betreffen." (Auszug in Foerster, S. 237-246 1 [1] ) Wirtschaftlich sei die Schaffung eines gemeinsamen Marktes anzustreben im Sinn der Vereinfachung des Güter-, Kapital- und Personenverkehrs.

So zurückhaltend Briand und sein Mitarbeiter formuliert hatten, so wenig verschaffte dies dem Memorandum Erfolg. Die Weltwirtschaftskrise beantworteten die meisten Länder mit einer Besinnung auf Rezepte nationaler Autarkie, daneben gab es zahlreiche andere Bedenken. Die deutsche Seite war an einer Revision der Versailler Verträge interessiert, aber das Memorandum schien diesen Verträgen treulich verpflichtet zu sein. Zum Zeitpunkt des Memorandums war Stresemann schon gestorben (3. Oktober 1929) und die deutsche Außenpolitik setzte danach überaus deutliche deutschnationale Akzente. Das Auswärtige Amt hatte ein Sonderreferat Völkerbund eingerichtet, in dem ab 1925 Akten über Paneuropa geführt wurden. Diese Konstruktion entsprach genau dem (später vorgetragenen) Ansatz Briands: Europa nicht gegen, sondern mit dem Völkerbund. Der Leiter des Sonderreferats, Bernhard W. Bülow, sah im Völkerbund die größeren Entwicklungschancen. Als 1929 Briands Initiative anhub, fand sie durchaus Bülows Wohlwollen, dieser zielte dabei jedoch bereits überwiegend auf ein Mitteleuropa-Konzept, nicht zuletzt wegen anhaltender Skepsis über die wirklichen oder vermeintlichen Intentionen der französischen Außenpolitik. So verfolgte Stresemann selbst, parallel zu Locarno, einen wirtschaftlichen Verflechtungsprozeß mit Österreich, um eine allzu enge Verflechtung Österreich-Tschechoslowakei zu verhindern, die Deutschland aus Mitteleuropa womöglich herausgedrängt hätte. Im Wirtschaftsministerium erkannte man hingegen in der Zollunion Vorteile, die dem Motiv, gegen die USA wirtschaftlich aufzuholen, entgegenkamen. Dies schien auch Stresemann bei seinem Auftritt am 9. September 1929 vor dem Völkerbund zu bewegen, wo er insbesondere die Frage des erleichterten Wirtschaftsverkehrs behandelte. Der deutsche Botschafter in Paris, Hoesch, verstand das Memorandum wiederum als Beitrag zur deutsch-französischen Verständigung, während andere Kreise in Deutschland und etwa in Rußland, das dem Völkerbund nicht angehörte und infolgedessen vom Briand-Plan ausgeschlossen war, argwöhnten, daß das Memorandum zu einem Pan-Versailles führen müsse. Der Begriff wurde in Moskau geprägt. Wieder andere wie Rudolf Breitscheid (1874-1944), einer der drei SPD-Vorsitzenden, forderten eine über das Memorandum hinausgehende Revision des nationalstaatlichen Souveränitätsbegriffs. Mit Reichskanzler Heinrich Brüning (1885-1970), einem der Organisatoren des passiven Widerstands im Ruhrkampf mit Frankreich, setzten sich in der Weimarer Regierung jedoch deutschnationale Motive durch. In der Kabinettssitzung vom 8. Juli 1930 setzte Brüning deutsche Lebensraumplanung gegen das Memorandum Briands, und dieser Weg wurde dann bekanntermaßen beschritten. Zur gleichen Zeit driftete die deutsche Paneuropa-Bewegung immer mehr nach rechts, verstand sich zunehmend als eine antisozialistische Bewegung.

Text: Wolfgang Schmale, Geschichte Europas (UTB), Wien 2001, S. 112-114 (mit freundlicher Genehmigung des Böhlau-Verlages Wien)