- Geteiltes und geeintes Europa: historische Blicke auf die europäische Politik in der Frühen Neuzeit
- Europa der Regionen aus geographischer Sicht
- Vorbemerkung
- Mitteleuropa: Ein diffuser Begriff
- Fortbestand großdeutscher Denkweisen
- Die Intensivierung wirtschaftlicher Verflechtungen
- Der Erste Weltkrieg und die Mitteleuropaidee
- Friedrich Naumann und die Mitteleuropaidee
- Die orientalische Bedrohung Mitteleuropas
- Schlussbemerkung
- Von Grenzen und Abgrenzungen
- Europäische Dimensionen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit
- Internationale Verflechtungen: Frankreich und Deutschland im internationalen System
- Osterweiterung der Europäischen Union
'Die Germanisierungsidee als Maxime des politischen Handelns'
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Die Germanisierungsidee als Maxime des politischen Handelns
Allerdings ist es nicht überraschend, dass sich die österreichische Diplomatie der 1850er Jahre der immer noch populären Mitteleuropaidee bedienen konnte, um die eigene angeschlagene Stellung in Deutschland gegenüber Preußen wieder zu befestigen. Diesem Ziel vor allem dienten die ehrgeizigen Pläne des österreichischen Handelsministers Carl Ludwig von Brück, der seinerseits von den Ideen Friedrich Lists beeinflusst worden war. "Durch das handelspolitische Zusammenfassen Mitteleuropas wird Österreich vermöge seiner zentralen Lage zum Westen und Osten, zum Süden und Norden und der freien Entwicklung seiner Natur- und Geisteskräfte notwendig der Mittel- und Schwerpunkt des großen Weltverkehrs, und die weiteren Folgen davon für die politische Gestaltung sind unschwer zu übersehen." (10) Aber auch für diesen auf die Unterstützung der Nationalbewegung setzenden Kurs war in der sich anbahnenden Restaurationsperiode kein Raum vorhanden.
Abbildung 6:
Die Gründung des Deutschen Reiches 1871 setzte den Mitteleuropabestrebungen ein vorläufiges Ende. Im Gegensatz zur Entscheidung von 1848 verfolgte von Bismarck 1871 die sog. "kleindeutsche Lösung", um bei der Gründung des deutschen Reiches die preußische Vorherrschaft in Deutschland zu sichern.
Internet-Quelle [1]
Die Gründung des Deutschen Reiches, welche Bismarck [2] durch eine "konservative Revolution von oben" mit den Kräften des preußischen Staates, aber zugleich im Bündnis mit der kleindeutschen Nationalbewegung zuwege brachte, setzte der Sache nach den Mitteleuropabestrebungen sowohl des universalistischen wie des großdeutsch-imperialen Typs ein vorläufiges Ende. Das Deutsche Reich war zwar bei seiner Gründung, wie dies Theodor Schieder treffend gesagt hat, ein "unvollendeter Nationalstaat"; die innere Einigung der Nation stand in wesentlichen Hinsichten noch aus. Aber im Laufe der Jahre wurde das Deutsche Reich zum zentralen Bezugspunkt der deutschen Nationalidee: Das internationale Ansehen des neuen Reiches, das militärische Gepränge, mit dem sich das Herrschaftssystem präsentierte, die Idee des Kaisertums mit ihren imperialen Assoziationen, schließlich der große wirtschaftliche Erfolg des neuen Reiches prägten das nationale Bewusstsein der Deutschen in immer stärkerem Maße, während die älteren kulturnationalen Elemente des Nationalbewusstseins, wie sie insbesondere in der Epoche des Vormärz vorherrschend gewesen waren, ebenso zurückgedrängt wurden wie die emanzipatorische Dimension der Nationalidee, die ursprünglich mit dem Gedanken der nationalen Selbstbestimmung und demgemäß der Beteiligung der bürgerlichen Schichten der Nation an den politischen Entscheidungen im Rahmen eines konstitutionellen Regierungssystems eng verknüpft gewesen war.
Abbildung 7:
Die "Völker Europas" (links) sowie "Stämme und Dialekte Mitteleuropas" (rechts) in zwei Kartendarstellungen um 1914
Internet-Quelle [3]
Dies wurde noch ausgeprägter mit dem Eintritt in die imperialistische Epoche; die Erweiterung des nationalen Machtstaats zu einer Weltmacht gleich den anderen Weltmächten wurde zu einem wesentlichen Inhalt der neudeutschen Reichsidee, unter noch stärkerer Verdrängung der ehemals emanzipatorischen Elemente der Nationalidee. Der schrittweise Übergang zur Idee des homogenen Nationalstaats, der ein Sonderbewusstsein und eine Sonderkultur von ethnischen oder religiösen Minderheiten immer weniger zu tolerieren bereit war, führte um ein Weiteres weg von der älteren universalistischen Idee, die den Deutschen ihre überkommene Führungsrolle in einem übernational geordneten Europa zu erhalten bestrebt gewesen war. Diese ältere Tradition, die heute auf neuer Ebene eine teilweise Wiedergeburt erfahren hat, war mit der Idee und dem Prinzip des homogenen Nationalstaats machtpolitischer Gebärde vollständig unvereinbar: nicht Verständigung mit den benachbarten Völkern und Gruppen, sondern deren Eindämmung, Zurückdrängung und schließlich, wo immer möglich, deren Germanisierung wurde nun zur Maxime der Politik des Nationalstaats nicht allein in Deutschland, sondern in ganz Europa.
Abbildung 8:
Sosehr Bismarck sich in der Außenpolitik zu einem Staatsmann von Weltbedeutung entwickelte, unabhängig von den wechselnden Strömungen der Zeit, sowenig konnte er sich in der Innenpolitik von seiner konservativen Herkunft lösen. Bismarck suchte den preußischen Staatsgedanken mit der Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts zu verbinden. Der Kulturkampf (1872 - 1878) führte zu einer Schwächung des Staates wie auch des Liberalismus. Bismarcks Kampf gegen die Sozialdemokratie (Sozialistengesetz 1878) hat diese eher gefestigt.
Internet-Quelle [4]
Gleichzeitig versöhnte sich die deutsche Öffentlichkeit mit dem Gedanken eines selbständigen Österreich-Ungarn, das man freilich weiterhin als eine deutsche Macht betrachtete, kraft der Vorrangstellung, die die Deutschen in der Staatsbürokratie, der Armee und ebenso in der cisleithanischen Reichshälfte genossen. Dies galt auch für den katholischen Volksteil, der große Sympathien für die katholische Macht Österreich-Ungarn hegte und unter den gegebenen Umständen die Erhaltung der Selbständigkeit der Donaumonarchie einer unerreichbaren großdeutschen Lösung vorzog (11). Allerdings avancierte der Zweibund im deutschen politischen Bewusstsein seit den achtziger Jahren zu einer Art von Unterpfand einer besonderen deutsch-österreichischen Verbundenheit, eine Entwicklung, die Bismarck bewusst gefördert hat, obschon dies mit seinem außenpolitischen System eigentlich nicht in Einklang stand. Caprivi hingegen betrachtete den Zweibund als Eckpfeiler des deutschen Bündnissystems (12). In den gleichen Zusammenhang gehört, dass die deutsche amtliche Politik seit der Jahrhundertwende zunehmend darauf drängte, dass die Vorherrschaft des deutschen Elements in der Monarchie erhalten und wieder gestärkt werden müsse, wenn man sich auch von direkten diplomatischen Interventionen in die inneren Verhältnisse der verbündeten Monarchie zurückhielt (13).
Andererseits übten die älteren kulturnationalen Denkweisen, die sich an der wesentlichen Einheit aller Menschen deutscher Zunge oder doch einer den Deutschen innerhalb und außerhalb der Reichsgrenzen gemeinsamen deutschen Nationalkultur orientierten, insbesondere auf die Bildungsschicht auch weiterhin erhebliche Anziehungskraft aus; dies fand Ausdruck auch darin, dass auf künstlerischem, literarischem und insbesondere auch auf wissenschaftlichem Gebiet die herkömmliche enge Verbundenheit zwischen Deutschland und Österreich im Wesentlichen unvermindert fortbestand (14). Die leidenschaftliche Beteiligung der deutschen Akademikerschaft an der Protestbewegung der österreichischen Deutschen gegen die Badenischen Sprachengesetze vom Jahre 1897 bildet dafür einen herausragenden Beleg.
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Anmerkungen
10. Zit. bei Wandruszka, Großdeutsche und Kleindeutsche Ideologie, S. 129.
11. Vgl. Wolfgang J. Mommsen, Österreich-Ungarn aus der Sicht des deutschen Kaiserreiches, in: Helmut Rumpier (Hrsg.), Innere Staatsbildung und gesellschaftliche Modernisierung in Österreich und Deutschland 1867/71-1914, Wien/München 1991,8.205-220.
12. Vgl. ebenda.
13. Nachweis ebenda, S. 213 f.
14. Vgl. Roger Bauer, Österreichische Literatur oder Literatur aus Österreich?, in: Robert A. Kann - Friedrich Prinz (Hgg.), Deutschland und Österreich. Ein bilaterales Geschichtsbuch, München 1980, S. 264-287 sowie Renate Wagner-Rieger, Deutschland und Österreich. Bildende Kunst, ebenda S. 288-321; ferner Rüdiger vom Bruch, Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung. Gelehrtenpolitik im Wilhelminischen Deutschland 1890-1914, Husum 1980.