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Die revolutionäre Öffentlichkeit
Eine völlig neue Erfahrung bedeutete für die Revolutionstouristen die Ausbildung einer revolutionären Öffentlichkeit, die durch eine Vielzahl von Medien gespeist und bestärkt wurde und auch die unteren Volksschichten in den Handwerkervierteln der Hauptstadt erreichte.
Campe beschrieb schon im Herbst 1789 diesen Vorgang einer halbmündlichen Informationsvermittlung und der Entstehung einer spontanen Öffentlichkeit: "Das Erste, was uns außer der hin und her wallenden Volksmenge auffällt, sind die vielen, dicht ineinander geschobenen Menschengruppen, welche wir teils vor vielen Haustüren, wo entweder Bürgerwachstuben sind, oder Bäcker wohnen, teils vor allen denjenigen Häusern erblicken, deren Mauern mit Affichen beklebt sind. Diese Affichen oder Bekanntmachungszettel sieht man in allen Straßen, besonders an den beiden Seitenwänden aller Eckhäuser und an dem ganzen Gemäuer aller öffentlichen Gebäude auf den Quais und sonstigen freien Plätzen, eine so unzählbare Menge, dass ein rüstiger Fußgänger und geübter Schnelleser den ganzen Tag, vom Morgen bis an den Abend herumlaufen und lesen könnte, ohne nur mit denjenigen fertig zu werden, welche man an jedem Tag von neuem ankleben sieht ... Denken Sie sich, wie diese Publizität, diese Teilnahme aller an allem, auf die Entwicklung der menschlichen Seelenkräfte, besonders auf die Verstandes- und Vernunftausbildung der Leute wirken muss! - Vor jedem, mit dergleichen Zetteln, die in großen Bogen mit großer Schrift gedruckt bestehen, beklebten Hause, sieht man ein unendlich buntes und vermischtes Publikum von Lastträgern und feinen Herren, von Fischweibern und artigen Damen, von Soldaten und Priestern, in dichten, aber immer friedlichen und fast vertraulichen Haufen versammelt, alle mit emporgerichteten Häuptern, alle mit gierigen Blicken den Inhalt der Zettel verschlingend, bald leise, bald mit lauter Stimme lesend, darüber urteilend und debattierend."
Zu den Kennzeichen der Pressefreiheit zählten auch die Affiches, die Mauerzeitungen, die man, nach einem Bericht Campes, "in allen Straßen, besonders an den beiden Seitenwänden aller Eckhäuser und an dem ganzen Gemäuer aller öffentlichen Gebäude auf den Quais und sonstigen freien Plätzen" fand. (vgl. Text)
Quelle: www.histoire-image.org/site/rech/chrono.php
Sicherlich eine aufgeklärte Utopie, die Campe hier entwickelt und deren schöner Schein von der Radikalisierung und Polarisierung der Revolution bald zerstört werden sollte. Aber die Ahnung um die neue Macht der öffentlichen Meinung war wichtig und richtig, und es gibt kaum einen Reisebericht, der nicht dieses neuartige Phänomen einer revolutionären, bürgerlichen Öffentlichkeit beschrieb. Das begann mit Campe und erfuhr seine reifste Ausprägung bei Forster, der den Zusammenhang von öffentlicher Meinung und der politisch-gesellschaftlichen Gestaltungsmacht durch das revolutionäre Subjekt Volk hervorhob. "Diese öffentliche Meinung aber und ihre Einflüsse sind Dinge, wovon man vor der jetzigen Revolution keinen richtigen, wenigstens keinen vollständigen Begriff gehabt haben mag." Öffentlichkeit, das wurde Forster bewusst, war nicht mehr bloßes Forum der Diskussion, sondern kritische Instanz mit dem Anspruch, an der Ordnung des Gemeinwesens mitzuwirken.
Was Campe sich freilich im Herbst 1789 noch nicht vorstellen mochte, dass öffentliche Meinung auch manipulierbar sein könnte, das war Oelsner in seinem oben zitierten Aufsatz aus dem Jahre 1795 inzwischen bewusst geworden. Auch Oelsner hatte immer wieder fasziniert die Herausbildung neuer Formen der Öffentlichkeit in den Jahren 1789 bis 1793 beobachtet und der öffentlichen Meinung nicht nur politische Gestaltungs- bzw. Kontrollfunktion, sondern auch die Fähigkeit zur Reifung zugebilligt.
"Öffentliche Meinung aufzuklären und zu fixieren", darin sah er die vernehmliche Aufgabe der politischen Clubs. Öffentliche Meinung, das war für ihn wie für Halem zunächst praktizierte und vermittelte Vernunft, und zwar nicht nur die Vernunft der "Weisen", sondern auch die der rezipierenden "Mittelklasse". In ihren Händen wird sie zur politischen Macht: "Die öffentliche Meinung der Mittelklasse spricht den Großen und Mächtigen alle persönlichen Verdienste ab. Es wird schwer halten, ihr neues Zutrauen in königliche Fähigkeiten einzuflößen."
Das Wissen um diese politische Macht war für Oelsner auf dem Höhepunkt der politischen Krise nach der Flucht des Königs im Sommer 1791 Anlass, von der Hoffnung auf den historischen Kompromiss zwischen Ancien Régime und Revolution in Gestalt der konstitutionellen Monarchie Abschied zu nehmen und sich auf die Republik einzustellen.
"La Mort des Girondins" in einer zeitgenössischen Gravur. Der Machtkampf der Girondisten eskalierte im Oktober 1793 und endete für deren Anführer unter der Guillotine.
Quelle: www.megapsy.com/Revolution/Rev_060.htm
Auf dem Höhepunkt des Machtkampfes zwischen Girondisten - zu denen er sich zählte - und Bergpartei im Frühjahr 1793 spiegelt sich in Oelsners Bericht die Ideologisierung und politische Instrumentalisierung der neuen politischen Begriffe. Parteikämpfe und die erste Welle der Terreur ließen ihn zwischen einer Vertreterin des "allgemeinen Besten" und einer "falschen öffentlichen Meinung" unterscheiden. Mit den politischen Richtungskämpfen der Konventsparteien war die "öffentliche Meinung" mit sich selbst in Widerspruch geraten. Jede der rivalisierenden Parteien trat mit dem Anspruch auf, die Gesamtheit der Wähler und des Allgemeinwillens zu vertreten; eine Tatsache, die mit einer der Grundannahmen revolutionären Selbstverständnisses unvereinbar war, dass nämlich das Repräsentativorgan den Nationalwillen schlechthin verkörpere und darum mit sich selbst identisch sein müsse.
Während Oelsner enttäuscht über die Wirklichkeit mit dem Gedanken einer Diktatur liebäugelte, zeigte sich Forster in seinen "Parisischen Umrissen" von 1793 überzeugt, dass mit dem Fortschreiten der Revolution die öffentliche Meinung gereift sei. "Die öffentliche Meinung ist all diese Stufen hinaufgestiegen, und auf jeder höheren hat sie den Irrthum erkannt, den die Täuschung des falschen Horizonts verursachte. Jetzt bleibt sie bei der allgemeinsten aller Bestimmungen stehen." Diese Bestimmung sah Forster in der Vollendung der Revolution, "bis ihre bewegende Kraft ganz aufgewendet seyn wird."
Das konnte aber unter den bestehenden Umständen nur die Rechtfertigung der revolutionären Diktatur der Jakobiner sein, was um so bemerkenswerter war, als Forster wie die anderen Beobachter auch voller Abscheu und Entsetzen die Schreckensherrschaft, das Blutgerüst der Guillotine und das Regiment des Wohlfahrtsausschusses aus nächster Nähe registrierte und kritisierte. Während Oelsner die Eskalation der Terreur von den Septembermorden 1792 über die Hinrichtung des Königs im Januar 1793 nicht nur ablehnte, sondern als Schreckbild sich ständig vor Augen führte, hat Forster den Verlauf der Revolution neu gedeutet und sich auch von Oelsner distanziert, für den die Hinrichtung der Führungsgruppe der Girondisten einen weiteren Schritt zu seiner immer skeptischeren Geschichtsdeutung bedeutete. "Oelsner", so Forster am 20. November 1793, "mag gut schreiben; aber er meint, die Republik wäre nun mit Brissot und Vergniaud zu Grabe gegangen. Das ist sie nicht. Liebster Himmel! Wenn sie nicht zehn Generationen solcher Kerle wie die jetzigen aushielte, ehe sie zugrunde ging, so möchte der Teufel Republikaner sein (...). Oelsners Gesichtspunkt ist gerade deswegen so eng, weil ihm die Menschen so viel sind. Das gestattet nun einmal der jetzige Gang nicht, so traurig es für den Menschenfreund ist."
Forsters Beobachtung, dass "die rohe Kraft der Menge" nun die Revolution weitertrieb, ließ die ursprüngliche aufklärerische Gleichstellung von Vernunft und Revolution, von der auch Oelsner ausgegangen war, hinfällig werden. An die Stelle der Vernunft tritt bei Forster nun die geschichtsteleologische Vorstellung, dass die Revolution gleichsam naturmäßig ihr Werk weitertreiben werde und müsse, auch wenn es dabei zu Verbrechen und Leiden führte. Unabhängig von der individuellen Betroffenheit und Resignation strebe die Revolution ihrem eigentlichen Ziel, der "Erziehung des Menschengeschlechts" zu. Forster sieht die Revolution nun als einen historischen Prozess mit eigenen Gesetzen. Das trennt ihn von der eigenen Ausgangssituation der aufgeklärten Utopie. "Seitdem man bei uns die Revolution als eine neue unaufhaltsame Schwungkraft anzusehen gelernt hat", schrieb er in den "Umrissen", "haben sich auch viel von ihren Gegnern wieder mit ihr ausgesöhnt; und meinen Sie nicht, dass es immer noch besser ist, ihr nachzulaufen und sie einzuholen als mit gewissen Halbweisen, die ihr voranliefen und sie zuerst in Bewegung brachten, plötzlich alle stille zu stehen und sich zu ärgern, dass sie, wie eine Schneelawine mit beschleunigter Geschwindigkeit dahinstürzt, stürzend an Masse gewinnt, und jeden Widerstand auf ihrem Weg vernichtet? Das neulich erlassene Dekret des Nationalkonvents, dass die Regierung in Frankreich bis zum Frieden revolutionär bleiben soll, ist der eigentliche Ausdruck der öffentlichen Meinung, dass die Revolution sich so lange fortwälzen müsse, bis ihre bewegende Kraft ganz aufgewendet seyn wird." Diese bewegende Kraft sah Forster nicht länger in der Vernunft, sondern in der "rohen Kraft der Menge".
Darüber wie man sich ihr gegenüber politisch zu verhalten hätte, ging der eigentliche Streit zwischen Girondisten und Bergpartei und unter den verbliebenen deutschen Beobachtern, zwischen Oelsner und Forster. Der eine, deutscher Girondist, sah sich durch die Ereignisse von 1792 und 1793 in seinem Glauben an die geistige und politische Emanzipation der Massen enttäuscht. Der andere, deutscher Jakobiner, meinte um der Ziele der Revolution willen auch das politische Bündnis mit der "rohen Kraft der Menge" gutheißen zu müssen. Der Konflikt zwischen beiden Positionen ist noch immer der Konflikt der Revolutionsforschung, nur dass die Kritiker der neojakobinischen Schule im Unterschied zu Oelsner aus der historischen Erfahrung der Moderne die Rolle von Massenbewegungen realistischer einschätzen und sie nicht als bloße Marionetten von geheimen Drahtziehern sehen.
Oelsner und Forster, aber auch andere deutsche Revolutionspilger, haben mit der geschichtlichen Erfahrung der Französischen Revolution die Antinomien moderner Politik erlebt. Sie mussten erfahren, was Forster schon 1790 so formulierte, dass nämlich in der Welt sich "nichts so zuträgt, wie es sich nach der a priori entworfenen Vernunftsregel zutragen sollte." Die gesellschafts- und politiktheoretischen Schlüsse, die sie daraus zogen, wichen im Moment der größten Krise der Revolution voneinander ab. Gleichwohl spiegeln ihre Berichte und Reflexionen, eindringlicher als die der anderen Revolutionsreisenden, jene tiefgreifenden Veränderungen, die die Französische Revolution für das politische Denken und Handeln der Moderne bedeutete. Die Entstehung einer Nationalrepräsentation und einer politischen Öffentlichkeit; die Notwendigkeit, Politik hinfort demokratisch zu begründen; aber auch die Gefährdung der Freiheit durch neue Formen der Despotie. Insofern sind die historischen Erfahrungen der deutschen Revolutionspilger auch ein Zeugnis für jenes Experiment einer politischen Demokratie, das den Kern und auch die Aktualität der Französischen Revolution ausmacht.