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'Die Entdeckung des Nachbarn'
 
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Die Entdeckung des Nachbarn

Während man in Deutschland lange in dem Schema der Befreiung von "fremdem" Kultureinfluß befangen geblieben war, hat man auf der französischen Seite nach und nach die Vorstellung aufgegeben, die "civilisation française" sei ein rein autarkes Gebilde und zudem vor allem lediglich ein Exportprodukt. So wie Frankreich in demographischer Hinsicht vor allem ein Einwanderungsland war, so wurde es auf kulturellem Gebiet von einer Vielzahl von "Außenbeziehungen" geformt. Als eine der wichtigsten ist zweifellos diejenige anzusehen, die Frankreich mit dem deutschen Nachbarn unterhielt.

Als eigenständige kulturelle Formation geriet Deutschland erstmals um 1760 ins französische Blickfeld. Damals entdeckte man die Schweizer Bodmer [1] und Breitinger [2] , die zu den ersten Propagandisten eines deutschen Kulturpatriotismus gehörten, übersetzte Salomon Geßners [3] Idyllen [4] (1756), wurde auf Winckelmann [5] aufmerksam. Der in Paris niedergelassene deutsche Kupferstecher und Zeichner Jean-Georges Wille warb für deutsche Malerei in der Tradition Dürers und erreichte, dass sie ab 1760 in den Kunstauktionen als eigene Rubrik "peinture allemande" geführt wurde. Gleichzeitig verbreitete der Baron von Holbach [6] kristallographische und mineralogische Kenntnisse aus Deutschland und führte sie unter anderem in die Encyclopédie [7] ein.

Abbildung 4:

Die Übersetzung Salomon Gessners Idyllen ins Französische stehen am Beginn einer neuen Kulturbeziehung zwischen Deutschland und Frankreich, die sich im Verlauf des 18. Jahrhundert entwickelt.

 

 

 

 

 

Internet-Quelle [8]

Die Revolution intensivierte die Kulturkontakte erheblich. Sie zog Deutsche wie etwa Forster [9] , später die Brüder Humboldt [10] , Grimm [11] , die Schlegels [12] nach Paris. Umgekehrt befanden sich unter den französischen Emigranten in Deutschland auch einige bedeutende Vermittlerpersönlichkeiten wie etwa Charles de Villers, der Kants Transzendentalphilosophie in Frankreich bekannt zu machen suchte. Auf diesem ersten Sockel von Deutschlandkenntnissen baute dann Madame de Staël [13] auf, die mit ihrem De l'Allemagne (1814) bewusst ein Gegenbild zu dem napoleonischen Frankreich produzieren wollte. Gerade die politische Konjunktur der postnapoleonischen Zeit, die durch das Revolutionstrauma ausgelöste Krise des französischen Selbstverständnisses, schuf die Voraussetzungen für eine Rezeption, in der Deutschland als das "andere" profiliert wurde: ein Land der Philosophie und der Dichtung, weltfern, spekulativ, musikalisch, manchmal mystisch, unfähig zu politisch-staatlicher Organisation.

Abbildung 5:

Alexander von Humboldt und der französische Botaniker Aimé Bonpland auf Ihrer Südamerikareise (1799-1804). Alexander von Humboldt verkörpert wie kein anderer die engen wissenschaftlichen Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Internet-Quelle

Das von Madame de Staël vermittelte Deutschlandbild dominierte die Vorstellungen über den Nachbarn jenseits des Rheins bis zum deutsch-französischen Krieg von 1870/71. Doch es wurde angereichert, in vielem auch modifiziert, und zwar auf drei Ebenen: eine relativ intensive Rezeption der deutschen idealistischen Philosophie, vor allem Kants [14] , aber auch Hegels [15] und Schellings [16] ; eine Rezeption deutscher Philologie und Geschichte, sowohl der klassischen Altertumswissenschaft wie der beginnenden Romanischen Philologie; schließlich eine Rezeption deutscher Naturwissenschaft, insbesondere Chemie, aber auch Mathematik, Geologie, physische Geographie.

Abbildung 6:

Das Grab Heinrich Heines auf dem Cimetière Montmartre in Paris.
Von 1831 bis zu seinem Tode 1856 lebte Heinrich Heine in Paris und fand dort Zugang zu den liberalistischen Ideen der französischen Geisteswelt.

 

 

 

 

Internet-Quelle (http://androom.home.xs4all.nl)

Die Fortschritte aller dieser Fächer lenkten die Aufmerksamkeit auf das deutsche Universitätssystem, das man ab Beginn der 1860er Jahre systematisch zu studieren begann. Daneben ist auf die regen Beziehungen auf dem Gebiet der Musik zu verweisen, die Einführung Beethovens in Frankreich, die Verbreitung von Kammer- und Vokalmusik, die Anwesenheit zahlreicher deutscher Musiker, Komponisten und Virtuosen in Paris, von denen nur Kalkbrenner, Hiller, Meyerbeer, Herz und Offenbach genannt seien. Schließlich ist die Rolle der politischen Emigranten für die kulturellen Kontakte nicht zu unterschätzen: Heine [17] , Börne, Marx, Herwegh, Moses Heß trugen ebenso wie zahlreiche Journalisten und Philologen zum Transfer von politischen Vorstellungen und Theorien bei, die ihrerseits vielfach in Auseinandersetzung mit der französischen Realität entstanden sind - man denke nur an den Beginn der internationalen Arbeiterbewegung. Louis Blanc und Arnold Ruge fassten 1843 den Plan einer "alliance intellectuelle franco-allemande", mit deren Hilfe man, unter Rückgriff auf die geistigen Errungenschaften der beiden Nationen, die politische und soziale Entwicklung in fortschrittlichere Bahnen lenken wollte. Das breite Interesse an Kenntnissen über deutsche Realitäten zeigt sich auch daran, dass in den 30er Jahren des 19. Jh. Deutschunterricht an den französischen Gymnasien (collèges) eingeführt wurde. Deutsch war damals die wichtigste moderne Fremdsprache und rangierte mit Abstand vor dem Englischen.