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'Interpretationen der Kriegsziele'
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Beurteilungen des "Septemberprogramms"
a) Der deutsche Historiker Fritz Fischer
Der rückschauende Betrachter erkennt in dem Kriegszielprogramm des Kanzlers unschwer Objekte deutscher Wirtschaftsbestrebungen der Vorkriegszeit wie in Belgien, Luxemburg, Lothringen, die nunmehr in direktem Zugriff von der deutschen Politik erfaßt werden, die aber überhöht werden durch die Mitteleuropakonzeption und durch eine antienglische Spitze gekennzeichnet sind. Neben den wirtschaftlichen Momenten treten die strategischen und maritimen Ziele zurück, deren Verwirklichung endgültig den Ring um die "Festung Deutschland" sprengen sollte, womit gleichzeitig die zwei westlichen Großmächte als künftige Gegner Deutschlands militärisch ausgeschaltet werden sollten.
Die Durchsetzung dieses Programms hätte eine vollständige Umwälzung der staatlichen und wirtschaftlichen Machtverhältnisse in Europa herbeigeführt. Nach der Vernichtung der französischen Großmachtstellung, der Beseitigung des englischen Einflusses auf dem Kontinent und der Zurückdrängung Rußlands wäre Deutschland die Hegemonie in Europa zugefallen. [...]
Die besondere Bedeutung des Septemberprogramms für die politische Willensbildung innerhalb Deutschlands im Ersten Weltkrieg liegt in zwei Punkten. Einmal stellt es keine isolierte Konzeption des Kanzlers dar, sondern repräsentiert Ideen führender Köpfe in Wirtschaft und Politik - und auch der Militärs - des damaligen Deutschlands. Zum anderen waren, wie sich zeigen wird, die in dem Programm niedergelegten Richtlinien im Prinzip Grundlage der deutschen Kriegszielpolitik bis zum Ende des Krieges, wenn sich auch je nach der Gesamtlage einzelne Modifikationen ergaben.
Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht, a. a. 0., S. 94 f.
b) Der französische Historiker Georges-Henri Soutou
Als Fischer das "Septemberprogramm" ausgrub und veröffentlichte, hat er darin einen kohärenten und endgültigen Plan gesehen, der die Verwirklichung politischer, ökonomischer und territorialer Ziele vorsah, die vom Reich zumindest in den letzten Vorkriegsjahren verfolgt wurden. Andere hingegen haben beharrlich den improvisierten und situationsabhängigen Charakter dieses Textes unterstrichen, der nur eine Etappe im Auf und Ab von Bethmann Hollwegs Konzeptionen darstellte. Man hat sogar offensichtliche Widersprüche zwischen einzelnen Punkten des Programms aufdecken können. Z. B. sehen die ersten drei Paragraphen die Eingliederung Luxemburgs in das Reich, Annexionen in Belgien und dessen Umwandlung in ein Protektorat sowie mehr oder weniger umfangreiche Annexionen und sehr harte ökonomische und finanzielle Bedingungen für Frankreich vor, während Punkt 4 die deutlich gemäßigte Perspektive eines umfassenden mitteleuropäischen Wirtschaftsverbandes enthält. [...]
Alle Autoren haben bisher übereinstimmend dieses Programm als ein territoriales, politisches und ökonomisches Ganzes betrachtet. Nun scheint es uns, daß es sich vielmehr um einen sicher wesentlichen, aber begrenzten und speziellen Aspekt der Überlegungen des Kanzlers zu diesem Zeitpunkt handelt; denn man hat den genauen verfassungsmäßigen Funktionen des Empfängers [Clemens Delbrück, Reichs-Staatssekretär des Innern] und dem Brief, der das Programm begleitet, keine oder nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt. [...]
Im Begleitbrief, der in unserer Sicht wichtiger ist als das "Programm", kreisen alle Überlegungen des Kanzlers um die Probleme der Zollunion und der ökonomischen Fragen, mit Ausnahme einer, kurzen politischen Einleitung, die allein das Ziel hat, Delbrück zu verdeutlichen, daß die Friedensverhandlungen jederzeit beginnen können und man sich beeilen muß, Zollpläne zu entwickeln. [...]
Dieses Dokument ist in erster Linie eine präzise Anweisung an den Verantwortlichen, der sie ausführen muß; es berührt erst in zweiter Linie die territorialen Probleme des Friedens. Wir wissen - aber aus der Vorgeschichte des Dokuments, nicht aus ihm selbst -, daß das Thema der europäischen Wirtschaftsunion, das im Zentrum steht, für den Kanzler das wesentliche Kriegsziel darstellt, gleichermaßen angemessen und wirkungsvoll, die künftige Sicherheit Deutschlands zu gewährleisten. Denn diese Sicherheit ist das Wesentliche, und alles übrige, einschließlich der ökonomischen Interessen, muß sich nach ihr richten. Für uns ist das "Septemberprogramm" vor allem ein ökonomisches Programm, das aber zugleich den Primat der Politik proklamiert.
Georges-Henri Soutou, L'or et le sang: les buts de guerre 6conomique de la Premiere Guerre mondiale, Paris: Fayard 1989, S. 27-29 (übers..- R. B.)