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Hinweise zur Interpretation - Periode 1871 - 1918

A. Deutsche Schulbücher

In der Periode der Reichszugehörigkeit des Elsass und Lothringens unterliegt die Berechtigung zur Annexion generell keinem Zweifel: Ergebnis eines Krieges der Superlative, wird sie als Rückgewinnung deutschen Gebietes und als Wiederherstellung der "natürlichen Westgrenze" betrachtet (Qu. 1). Gelegentlich wird der Widerwille der Annektierten erwähnt, nicht aber problematisiert; auch der Hinweis auf die Revanche-Agitation in Frankreich hat eher die Funktion, vor dem Nachbarn auf der Hut zu sein, als nach der Berechtigung der Annexion zu fragen (Qu. 2). Selten findet sich die Erörterung der verfassungsrechtlichen Probleme des "Reichslandes" im Staatsverband des Reiches wie auch die Hervorhebung der engen Bindungen der Bevölkerung an Frankreich. Jedoch werden auch vereinzelt kritische Stimmen laut über die politische Tragfähigkeit des "objekiven" Nationsbegriffes und über die Zweckmäßigkeit der politischen Maßnahmen im Reichsland (Qu. 3).

B. Französische Schulbücher

Die französischen Schulbücher dieser Periode stehen zumindest in den ersten Jahrzehnten nach dem Kriege stark unter dem Eindruck der historischen Argumentation Deutschlands, wobei sie freilich den französischen Erwerb der Gebiete als von der Zustimmung der Bevölkerung getragen interpretieren. Hier wird der zeitgenössische Selbstbestimmungsbegriff in die Vergangenheit hineinprojiziert, wodurch die Annexion als doppeltes Unrecht erscheint. Die daraus sich ergebende Forderung nach Revanche wird durch die breite Schilderung von Raub und Mord noch zusätzlich emotional aufgeladen; ein beliebtes Mittel, um der militärischen Aufrüstung die moralische Fundamentierung zu geben (Qu. 4). Durch Einrücken breiter landeskundlicher Informationen wird die Erinnerung an die verlorenen Gebiete mit Faktenwissen angereichert und der mitunter verkrampfte Versuch gemacht, den "französischen" Charakter der Kultur nachzuweisen (Qu. 5). Während der ganzen Periode pflegen die Schulbücher die ungebrochene Tradition des Appells an die Revanche, und zwar meist in Formulierungen, die das Gemüt ansprechen - sowohl in Oberschulbüchern (Qu. 6) wie in Volksschulbüchern (Qu. 7).
Nicht weniger wirkungsvoll ist der nüchterne Stil des damals neuen Lehrwerks von Albert Malet, der die Annexion unter das Zeichen der Verletzung des Selbstbestimmungsrechts der Völker stellt und darin einen Charakterzug des Deutschen Reiches sieht. Auch hier erscheint der Frankfurter Friede als ein Provisorium - ein Waffenstillstand, dem ein neuer Krieg folgen müsse (Qu. 8). Die französischen Schulbücher haben ihren Teil zu der "literarischen Mobilmachung" [9] von 1914 beigetragen.

 

Hinweise zur Interpretation - Periode 1918 - 1945

A. Deutsche Schulbücher

Nach der Rückgabe des Elsass und Lothringens an Frankreich war zwar die französische Forderung nach Revanche erfüllt, aber das Problem blieb bestehen. Nun war es die deutsche Seite, die sich des Revanchegedankens bemächtigte. Ihm wurde dadurch vorgearbeitet, daß die Schulbücher die deutsche Volkszugehörigkeit der Bewohner plakativ in den Vordergrund rückten und das tatsächliche Scheitern der Assimilierungspolitik in der Zeit von 1871 bis 1918 auf Fehler in der Reichspolitik zurückführten (Qu. 9). Auch die zwanghafte Vorstellung von der "Eindeutschung" taucht in der Weimarer Republik auf, und die deutschen Schulbücher mobilisieren gegen den Verlust des Elsass und Lothringens ähnlich wie vorher die französischen (Qu. 10). Es werden dieselben Stereotypen benutzt: Der "blessure qui saignera toujours" (vgl. Qu. 3) oder der "France mutilée" (s.u., Qu. 18 a) entspricht nun ein "verstümmeltes Staatsgebiet", das nach Grenzkorrekturen verlangt. Diesen Gedanken propagieren die Schriften zum Grenz- und Auslandsdeutschtum [10], die in der Weimarer Republik wie Pilze aus dem Boden schossen: "Auf unserem verstümmelten Staatsgebiet lebt heute ein Volk, dem es von Tag zu Tag mehr zur Gewißheit wird, daß die Grenzen unseres Staates sich nicht decken mit den Grenzen unseres Volkstums" (Qu. 11).

Werke dieser Art werden zur ergänzenden Lektüre im Unterricht empfohlen, wie auch Gedichte, die in mystischer Verklärung den Waffengang von 1870 und die Vereinigung "Deutschlands" mit ihrem Kaiser verherrlichen, wobei die annektierten Provinzen wie Juwelen am Brautkleid blitzen (Qu. 12). So wie sich in Frankreich nach 1871 die Erbfeindvorstellungen festgesetzt hatten, bekamen diese in Deutschland nach 1918 neue Nahrung. Unter dem Eindruck des Friedensvertrages von Versailles 1919 kommt auch ein Franz Schnabel zu einer vorbehaltlosen Rechtfertigung der Bismarckschen Entscheidung von 1871, und auch für ihn ist der Fehlschlag der Reichspolitik gegenüber dem Elsass und Lothringen nur den Mißgriffen der Regierung zuzuschreiben (Qu. 13 a).

Die Identifizierung mit der Tradition der deutschen Politik wird so weit getrieben, daß dieselbe Machtpolitik, die 1871 eine Volksabstimmung im Elsass und in Lothringen verbot, der französischen Regierung nach 1918 nicht zugebilligt wird (Qu. 13 b). Von dieser Position aus müssen die 1918 vollzogenen Tatsachen nun aus deutscher Sicht als Provisorium erscheinen. Die nationalsozialistischen Schulbücher, die nach den Lehrplanreformen von 1937/38 erschienen [11], ziehen ausdrücklich die Parallele zwischen den Friedensverträgen von 1871 und 1919 (Qu. 14 a). Die Annexion von 1871 rückt in den Zusammenhang des "Kampfes um den Volksboden an den Grenzpfählen des Reiches" (Qu. 14 b); folglich bedeutet das Versailler "Diktat" den "Raub an deutschem Blut und Boden" (ebd., S. 180). Es ist ein Leitmotiv dieser Schulbücher, daß sie die internationalen Beziehungen in grober Vereinfachung, aber mit um so größerer propagandistischer Wirkung auf den Aspekt einer vorgeblich traditionellen Einkreisungspolitik Deutschlands durch die Westmächte reduzieren: die Erweiterung des "Lebensraumes" im Westen erscheint daher als Befreiung vom "Druck Frankreichs" (Qu. 15 a).

Die politische Entwicklung im früheren Reichsland wird ausführlich erörtert, und die nicht geglückte Assimilation der Bevölkerung erfährt eine Begründung, die nicht mehr rational nachvollziehbar ist (Qu. 15 b). Gymnasial- und Volksschullehrbücher verurteilen Bebels und Liebknechts Votum gegen die Annexion als "Landesverrat" (Qu. 16 und 17).

B. Französische Lehrbücher

Nach dem 1. Weltkrieg wird der schon erwähnte "Malet" wieder aufgelegt. Der zitierte Text (Qu. 8) wird beibehalten, rückt lediglich in die Zeit der Vergangenheit - mit der einzigen Erweiterung des letzten Satzes: "jusqu'à ce qu'enfin, en 1918, la victoire de la France et de ses alliés ait assuré la revanche du Droit". An die Stelle dieses Lehrbuchs trat bald die Neubearbeitung von Jules Isaac, die aber im Grunde eine Neukonzeption war. Isaac dokumentiert ausführlich die deutschen Motive und Begründungen der Annexion und stellt sie neben den Protest der Abgeordneten aus dem Elsass und aus Lothringen (Qu. 18 a), desgleichen druckt er eine lange Passage über die deutsch-französischen Beziehungen im 19. Jahrhundert aus einem deutschen Geschichtsbuch ab (S. 272-274). Das traditionelle Lehrbuch wird angereichert zu einem kombinierten Lern- und Arbeitsbuch. Der Geschichte der Reichslandzeit wird außerordentlich viel Platz eingeräumt (Qu. 18 b). Diese eingehende Darstellung des Elsass und Lothringen-Problems verfolgt wahrscheinlich einen doppelten Zweck: Sie soll einmal in einer Zeit schwerster Belastungen der deutsch-französischen Beziehungen durch den Versailler Vertrag den Nachweis erbringen, daß die Rückgliederung des Elsasses und von Lothringen an Frankreich gerechtfertigt war, und zum andern sollen die Schüler und Schülerinnen umfassend über den deutschen Standpunkt sowie über die zwischenzeitliche Entwicklung des Lebens während der Reichslandzeit informiert werden.

 

Hinweise zur Interpretation - Periode 1945 bis zur Gegenwart

A. Deutsche Schulbücher

Die Darstellung der Annexion variiert stark in Umfang und Kontext. Mit zunehmender zeitlicher Entfernung des Ereignisses schmilzt das Informationsvolumen merklich. Manche Bücher nennen nur noch das Faktum, ohne weitere Erläuterungen folgen zu lassen. Diese Tendenz mag damit zusammenhängen, daß mit der Abschwächung des politischen Konfliktpotentials eine Verringerung der Wahrnehmung des Themas in den Schulbüchern einhergeht. Doch greift diese Erklärung nur zum Teil, denn einige wenige Bücher, gerade aus jüngster Zeit, widmen dem Thema mehrere Seiten. Es wird im Kontext des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 bzw. der damit verbundenen Einigung Deutschlands oder im Kontext der französischen Geschichte - der Politik Napoleons III. und der neu entstehenden Republik - behandelt.

Daneben wird es in Karten und schriftlichen Quellen, selten in bildlichen Darstellungen dokumentiert. Im Zeichen der deutsch-französischen Entspannungsbemühungen nach dem Zweiten Weltkrieg gehen die Lehrbücher zunächst vorsichtig auf eine Distanzierung von der bis 1945 anzutreffenden Rechtfertigung der Annexion (Qu. 19 a), die Erbfeindvorstellungen werden revidiert und relativiert (Qu. 19 b).Man hält zwar noch am Begriff des "Deutschtums" im Reichsland fest, unterstreicht aber die politisch motivierten Bindungen der Annektierten an Frankreich (Qu. 20). Gelegentlich wird aus der Protestnote der elsass-lothringischen Abgeordneten zitiert (Qu. 21); die Annexion soll in ihrer außenpolitischen Problematik begriffen werden (Qu. 22 a). Bisweilen kommt es zu Entstellungen: Dass Bismarck die Annexion nicht gewollt (Qu. 22 b) oder ihr nur unter Druck zugestimmt habe (Qu. 23), kann im Lichte der Forschung kaum aufrechterhalten werden [12]. Neuere und vor allem die aktuellen Schulbücher legen deutlich dar, dass die Annexion eine schwere Hypothek war, die das deutsch-französische Verhältnis dauerhaft belastete und eine Versöhnung unmöglich machte, weil sie gegen den Willen der Annektierten vollzogen wurde und weil in Frankreich der Wunsch nach Revanche nicht verstummte (Qu. 24). Entsprechend wurde Frankreich als "Inbegriff des äußeren Feindes" wahrgenommen (Qu.25): Das Bild der französischen Schulklasse zeigt die verlorenen Provinzen Elsass und Lothringen neben dem Satz "Tu seras soldat", eine Ermahnung des Lehrers an die Schüler, diese Provinzen demnächst heimzuholen.

Die unterschiedliche Einstellung der Deutschen zur Annexion wird thematisiert. Die überwiegende Mehrheit der Zeitgenossen hat sie akzeptiert bis stürmisch begrüßt, gar gefordert (Brief des preußischen Königs); eine Minderheit, bestehend vorwiegend aus Sozialdemokraten und Linksliberalen, hat vor ihr gewarnt (Rede Wilhelm Liebknechts), siehe Qu.26. Bismarcks Sicherheitspolitik wurde von der problematischen Existenz des Reichslands entscheidend bestimmt (Qu. 27); Bismarck selber hat öffentlich für eine sensible und behutsame Politik gegenüber der Reichslandbevölkerung geworben (Qu. 28).
Erst in jüngster Zeit bringen Schulbücher wieder ausführlichere Darstellungen über die Entwicklung im Reichsland von 1871 bis 1918. Hier ist das "Geschichtsbuch" zu nennen, das in einem längeren Abschnitt die Integrationschancen der Reichslandbevölkerung in das Deutsche Reich erörtert (Qu. 29), und besonders erwähnt zu werden verdient das richtungweisende Kapitel "Das Elsaß - eine Region zwischen zwei Nationen" in "Geschichte und Geschehen" (Qu. 30).

 

B. Französische Schulbücher

Wie der "Malet" den Ersten, so überdauerte der "Malet-Isaac" den Zweiten Weltkrieg. Im Unterschied zu den Ausgaben der Zwischenkriegszeit (vgl. Qu. 18) sind in der Ausgabe von 1953 jedoch erhebliche Kürzungen vorgenommen worden: die Auszüge aus dem deutschen Schulbuch und die Beschreibung der Germanisierungspolitik im Reichsland sind weggefallen bzw. stark gekürzt. An die Stelle der Abbildung der Bombardierung Straßburgs ist die bekannte Kaiserproklamation im Spiegelsaal von Versailles getreten (S. 169). Die Multiperspektivität ist jedoch beibehalten worden. Die neueren Bücher lassen wie die deutschen die Tendenz zur Schrumpfung des Stoffes erkennen, wenngleich ihr Informationsgehalt vergleichsweise größer bleibt (Qu. 31); dies erklärt sich wohl auch daraus, dass das Elsass am Ende des II. Weltkrieges in den französischen Staatsverband zurückgekehrt ist und die Schülerinnen und Schüler für die besonders leidvolle Geschichte der Bewohner sensibilisiert werden sollen. Viele Schulbuchtexte weisen denn auch eine stark emotional betonte Sprache, auch noch in den aktuellen Ausgaben, auf: Da ist von "la France mutilée": (Hachette 1976, 3e, S.125) die Rede, von "territoires de dialectes germaniques mais français de coeur" (Belin 1e, 1979, 104); eine Abbildung zeigt eine junge Elsässerin in Schwarz mit der Legende "1871, l'Alsace en deuil" (Hist/Geogr/Ed.Civ 4e, Hachette 1998, S.78); das neu gegründete Deutsche Reich "incorpore les Alsaciens et les Lorrains arrachés à la France (Histoire 2e, Belin 1993, 186); Frankreich ist ein "pays meurtri par la perte de l'Alsace-Lorraine..." (ebd, 190).

Der Urheber dieses nationalen Unglücks war, folgt man den Schulbüchern, einzig und allein Bismarck. Er ist die alles und alle überragende Gestalt in Text und Bild. "Par le fer et le sang" wird das Deutsche Reich geschmiedet, und der Schmied ist Bismarck. Eine Anapherkette leitet jeden Absatz einer Schulbuchseite mit seinem Namen ein: "Pour Bismarck, il n'y a pas de place pour deux en Allemagne"; "Bismarck entraîne l'Autriche dans une guerre contre le Danemark"; "Bismarck entraîne la France dans la guerre." (Hist/Geo 4e, Belin 1988, 140). Unter der Überschrift "Abattre la France" wird aus einer nicht näher bezeichneten Rede Bismarcks zitiert, die ein geradezu verächtliches Urteil des Reichskanzlers über die Franzosen zum Ausdruck bringt (Qu. 32 , in: ebd.). In der Ausgabe von 1994 desselben Verlags wird das Zitat, dessen Authentizität nicht gesichert ist [13], wiederholt (S.139), und eine bissige Charakterisierung Bismarcks tritt neu hinzu: als trunk- und streitsüchtig, gewalttätiger Reaktionär, fanatischer Preuße schildert ihn der Schulbuchautor (Qu. 33). Einen gewalttätigen Grundzug der Politik Bismarcks heben mehr oder weniger alle Bücher hervor (etwa: Histoire 1e, Hachette 1997, 125: "[Bismarck] oeuvre avec énergie, et même avec une certaine brutalité, au renforcement de la puissance de la Prusse, utilisant le nationalisme allemand et les aspirations à l'unité allemande pour accroître l'influence de son pays."). Welcher Kontrast zwischen diesem eindeutig-einseitig negativen Bismarckbild der französischen Bücher und dem differenzierten Bismarckbild der deutschen Bücher, man vergleiche etwa die Qu. 28 mit der Reichstagsrede vom 27. Mai 1871, in der sich ein besonnen argumentierender Bismarck zeigt, der ein hohes Problembewusstsein hinsichtlich der Empfindlichkeit der Elsässer und Lothringer zum Ausdruck bringt. Handelt es sich um dieselbe Person? Und ist eine derartig radikale personalisierende Reduktion eines komplexen historischen Prozesses, wie es die französischen Bücher tun, wissenschaftlich und pädagogisch zu rechtfertigen?

Alle französischen Bücher betonen den französischen Charakter der annektierten Provinzen. Häufig zitiert wird der Protest der elsässischen Abgeordneten im Reichstag aus dem Jahre 1874 (etwa: Histoire 2e, Bordas 1987, 200-201). Der Integrations- und Assimilationspolitik der Reichsregierung wird kaum eine Chance gegeben: Der anfängliche massive Widerstand der Elsass-Lothringer sei allmählich einer eher resignativen Anpassung gewichen, um dann aber aus der Enttäuschung über die als zu zaghaft empfundenen Autonomiezugeständnisse von 1911 erneut aufzuflammen (Belin 2e, 1981,239). Etwas weniger kategorisch äußert sich das Dossier über die "Vie politique et germanisation en Alsace-Lorraine" von 1997 (Qu. 34): Histoire 1e; Hachette 1997, 150-51). Hier wird der jüngeren Forschung, die ein wachsendes Zugehörigkeitsgefühl der Reichslandbewohner zum Kaiserreich herausgearbeitet hat, offenbar Rechnung getragen [14].

 

Ähnlich wie der Widerstand der Elsass-Lothringer gegen die Germanisierung des Reichslandes wird der Revanchegedanke bei den Franzosen gewertet. Auch er büßt, folgen wir den Lehrbüchern, im Laufe der Zeit kaum etwas von seiner anfänglichen Virulenz ein, und er ist das tragende Motiv für den deutsch-französischen Gegensatz. Die Annexion schuf "un antagonisme de quarante-huit ans" (Bordas 3e, 1978, 125; ähnlich: Belin 1e, 1979, 124), Frankreich war "assoiffée de revanche" (Hist/Geo Belin 4e, 1994 168). Armee und Schule wirkten als Instrumente der Revanche, in diesen Institutionen wurde sie wirksam gepflegt: "L'armée, instrument de la revanche possible" (Bordas 4e, 1983, 152, ebd., 160). "L'opinion publique française n'a en effet jamais accepté la perte de l'Alsace-Lorraine: les instituteurs en rappellent constamment le souvenir à leurs élèves", und es folgt der Hinweis auf das schon erwähnte Bild (in Qu. 25) einer "classe dans une école primaire en France avant 1914" mit der Landkarte und den verlorenen Provinzen sowie dem Wahlspruch "Tu seras soldat" auf der Tafel. Die Benutzer des Lehrbuchs sollen folgende Fragen beantworten: "1. Quelle région est en noir sur la carte de France? 2. Pourquoi ces élèves feront-ils un jour leur service militaire?" (Hachette 4e, 1992, 186, 187). Für die Wirksamkeit dieser Art Indoktrination von Kindesbeinen an soll die Abbildung eines schlafenden Kindes in der Wiege mit einer Soldatenpuppe auf dem Kopfkissen stehen (Hist/Geo 4e, Bordas 1993, 141) [15]. Pierre Guibbert hat in einer noch unveröffentlichten Studie über "Les écoles de la Revanche" eindrucksvoll nachgewiesen, dass der Revanchegedanke in den Unterrichtsmaterialien aller Fächer ein ständiges Thema war, also geradezu die Dimension eines Unterrichtsprinzips in der französischen Volksschule zwischen 1871 und 1914 hatte. Dieser Befund stimmt mit dem Urteil einer verbreiteten Monographie über das Elsass überein: ""Pour la France, ‚La question d'Alsace-Lorraine' restera posée tout au long de la période jusqu'au déclenchement de la Première Guerre mondiale." [15]. Eine Ausnahme von dieser Sicht wird in folgender Formulierung angedeutet, jedoch nicht ausgeführt: "Au début du siècle, le contentieux entre la France et l'Allemagne porte moins sur l'Alsace-Lorraine - les Français paraissent se résigner à cette perte - que sur le Maroc, disputé par les deux pays." (Histoire 1e, Belin 1997, 124).

So wie die Einstellung der Reichslandbewohner zum Reich und die Haltung der Franzosen zur Revanche in den neuesten Schulbüchern eine vorsichtige Umdeutung im Sinne der neueren Forschung erfährt, so unterliegt auch die Darstellung des Nationenbegriffs einem Wandel. Wurde in früheren Büchern einseitig der französische Nationsbegriff anhand von Textauszügen von Fustel de Coulanges und Renan (etwa: Histoire 2e, Belin 1987, 196) zur Sprache gebracht, so tritt in den neuesten Büchern auch die deutsche Version hinzu - ein Schritt in die Richtung einer multiperspektivischen Dokumentierung eines kontroversen Themas. "Sur quels points s'opposent les conceptions françaises et allemandes de la nation?" (Qu. 35: Histoire 1e, Bordas 1997, 132-133). Dort findet sich auch: die konstruktivistische Konzeption der Nation als einer "communauté imaginée",132. - Ähnlich: "Conception allemande, conception française" (de la nation): Histoire 1e, Belin 1997, 102.

Die Darstellungen der französischen. Bücher sind beziehungsgeschichtlich organisiert. Zur Illustration mag eine letzte Quelle dienen, eine Karikatur von Hansi, "Touristes allemands dans un village d'Alsace" (Qu.36). Sie zeigt die Deutschen in grotesker Aufmachung, als die ewig Fremden, von den Elsässern belächelt und im Grunde verachtet [16]. Dies ist die Quintessenz der beziehungsgeschichtlichen Aussage einer bestimmten Ansicht, die unbefragt in unsere Zeit tradiert worden ist und kritisch analysiert werden müsste. Darstellungen zur inneren Entwicklung der annektierten Gebiete sind selten, vor allem vermisst man die Binnenperspektive der Elsässer und Lothringer. Hierfür muss man zu der schon erwähnten Monographie "L'Alsace une histoire", einer Gesamtdarstellung der Geschichte des Elsasses von der Ur- und Frühgeschichte bis zur Gegenwart, greifen, die jedoch kein Schulbuch für die Hand der Schülerinnen und Schüler ist. Die wichtige Frage nach den Ursachen der gescheiterten Aussöhnung mit der Zugehörigkeit zum Reich wird nie ernsthaft gestellt, geschweige denn erörtert. Tenor der Schulbücher ist vielmehr, dass die Aussöhnung von vornherein und bis zuletzt zum Scheitern verurteilt war (s.o.). Diese Ansicht teilt auch "L'Alsace une histoire". Entspricht dieses Tabu einer Notwendigkeit der political correctness?

Quellen

  1. Vgl. etwa Jean-Baptiste Duroselle, Die europäischen Staaten und die Gründung des Deutschen Reiches, in: Th. Schieder/E. Deuerlein (Hrsg.), Reichsgründung 1870/71. Tatsachen, Kontroversen, Interpretationen, Stuttgart 1970, S. 386-421. Duroselle äußert darin die Hypothese, dass Napoleon III. im Falle eines Sieges ähnlich wie Bismarck gehandelt und Gebietserweiterungen an der Ostgrenze Frankreichs gefordert hätte.
  2. Hans-Ulrich Wehler, Krisenherde des Kaiserreichs 1871-1918. Studien zur deutschen Sozial- und Verfassungsgeschichte, Göttingen 1970; darin die Aufsätze: "Unfähig zur Verfassungsreform: Das ,Reichsland' Elsaß-Lothringen von 1870 bis 1918" und "Symbol des halbabsolutistischen Herrschaftssystems: Der Fall Zabern 1913/14 als Verfassungskrise des Wilhelminischen Kaiserreichs". - Über Bismarcks Einstellung zur Annexionsfrage und eine längere Kontroverse in der HZ resümierend: Lothar Gall, Das Problem Elsaß-Lothringen, in: Th. Schieder/E. Deuerlein (Hrsg.), Reichsgründung 1870-71 (s. Anm. 1), S. 366-385.
  3. Für die Forschung der letzten fünfundzwanzig Jahre vgl. den Beitrag von Kai Drewes, Die Darstellung der Annexion des Elsasses und von Lothringen in der deutschen und französischen Forschung von 1876 bis 2001, in diesem Projekt.
  4. Deutsch -französische Vereinbarung über strittige Fragen europäischer Geschichte, in: Internationales Jahrbuch für Geschichtsunterricht, Braunschweig, Bd. 11/1953, S. 78-93.
  5. Verpflichtender Wortlaut der Einigung der deutschen und französischen Geschichtslehrer über die Entgiftung der Lehrbücher [1935], Nachdruck in: Internationales Jahrbuch für Geschichtsunterricht Bd. 1/1951-52, S. 46-64. Zur Geschichte der deutsch-französischen Schubuchgespräche: Rainer Riemenschneider: Verständigung und Verstehen. Ein halbes Jahrhundert deutsch-französischer Schulbuchgespräche, in: Hans-Jürgen Pandel (Hrsg.): Verstehen und Verständigung. Jahrbuch für Geschichtsdidaktik 1990, Pfaffenweiler 1991, S. 137 - 148.
  6. S. Quelle 18. - Vgl. auch Otto-Ernst Schüddekopf, 20 Jahre Schulbuchrevision in Westeuropa 1945-1965 (Schriftenreihe des Internationalen Schulbuchinstituts, Bd. 12) Braunschweig 1966, S. 53 und 77. Isaac selbst hat seine Überlegungen dazu dargelegt auf der deutsch-französischen Historikerkonferenz in Aix-en-Provence 1961: Retour sur le passé, in: Bulletin de la Société des Professeurs d'histoire et de géographie de l'Enseignement public 52/1961, S. 155-162.
  7. in: Internationale Schulbuchforschung. Zeitschrift des Georg-Eckert-Instituts, Bd. 1/1979, Heft 1, S. 64-79.
  8. Dieser Befund bestätigt die Ergebnisse der vergleichenden Untersuchung von Dieter Tiemann, Die Vorgeschichte des Krieges von 1870/71 in deutschen und französischen Schulgeschichtsbüchern, Diss. phil (Masch) Wuppertal 1976, bes. S. 302 ff; Teilabdruck: Die Vorgeschichte des Krieges von 1870/71 im französischen Schulgeschichtsbuch, in: Internationales Jahrbuch für Geschichts- und Geographie-Unterricht XVIII/1977-78, S. 50-102.
  9. Marieluise Christadler, Kriegserziehung im Jugendbuch. Literarische Mobilmachung in Deutschland und Frankreich vor 1914, Frankfurt/M. 1978.
  10. Hierzu: Rainer Ohliger, Representing the National Other: Textbooks and the formation of ethno-national identity in Germany 1871-1945, in: ISBF 21 (1999), S.103-124.
  11. Vgl. hierzu meinen Aufsatz Le discours historique nazi et les manuels d'Histoire du IIIe Reich, in:Tréma, Revue de l'IUFM de Montpellier N° 14 (1998), S.68-89.
  12. Eingehend dazu: Lothar Gall, s.o. Anm. 2.
  13. Die Herkunft der Quelle wird vage mit "Bismarck, Discours" bezeichnet. Dank der Nachforschungen von Rainer Bendick (Bismarck-Stiftung Friedrichsruh) konnte ihr Fundort ermittelt werden. Sie ist abgedruckt in Tagebuchblätter von Moritz Busch, Erster Band: Graf Bismarck und seine Leute während des Krieges mit Frankreich 1870-71 bis zur Beschießung von Paris, Leipzig 1899, S.200, unter dem Datum des 16. September 1870. Die Herkunft ist zweifelhaft: es ist fraglich, ob Bismarck sich in dieser Weise geäußert hat. Wenn er "zum Fenster hinaus" redete, sprach er jedenfalls eine ganz andere Sprache.
  14. Hierzu den Beitrag Drewes in diesem Projekt.
  15. L'Alsace une histoire, sous la dir. de Bernard Vogler, Strasbourg (Oberlin) 1994, 5e édition, S.148.
  16. "L'histoire, pour Hansi, n'a pas pour but d'expliquer ou de retracer le passé, mais de dire du passé ce qui le réconforte. Et, ce qui le réjouit et le et en verve, c'est le désir obsessionnel de ridiculiser l'Allemand, de le pourfendre, de le bouter - et de chanter la France." (Marc Ferro, Histoire de France, Paris 2001, S.518.

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