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Zur didaktischen Relevanz der Dokumentation

"Wer auch sonst nicht eine natürliche Neigung zur Unparteilichkeit hätte, müßte sich doch durch diese nahe Zusammenstellung des Entgegengesetzten aufgefordert fühlen, einem jeden sein Recht angedeihen zu lassen."

(Leopold Ranke, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, Vorrede zum V. Buch)

Eine Dokumentation über die Darstellung des Elsass- und Lothringen-Problems seit der Annexion dieser Gebiete in der Folge des Krieges von 1870/71 in deutschen und französischen Geschichtsbüchern dürfte sich aus mehreren Gründen für den Einsatz im Unterricht eignen. Zum einen erlaubt sie den Zugang zur Behandlung der deutsch-französischen Beziehungsgeschichte, die durch die Entscheidung der deutschen Politiker und des Militärs zur Einverleibung der beiden französischen Provinzen in den Verband des neu gegründeten Deutschen Reiches mit einem erheblichen, dauerhaften Konfliktstoff belastet war. Der Verlust dieser Gebiete mit einer Bevölkerung von etwa 1,6 Millionen Menschen war die Ursache dafür, dass in Frankreich die Niederlage nicht verwunden werden konnte und als permanentes Argument für die Forderung nach "Revanche" benutzt wurde. Die Annexion wurde zu einer Quelle antideutscher Ressentiments, die sich auch insofern politisch auswirkten, als sie ein schwer kalkulierbarer Faktor der französischen Außenpolitik waren.

Auch nach der Rückgabe der annektierten Gebiete an Frankreich nach dem I. Weltkrieg war das Elsass- und Lothringen-Problem keineswegs beseitigt, weil nun auf deutscher Seite Ansprüche auf die Gebiete mit um so größerer Virulenz vorgebracht wurden, als ihre Rückgabe an Frankreich in einem als ungerecht empfundenen Frieden sanktioniert worden war. Es erwies sich, dass die Annexion von 1870/71 ein Karussell in Gang gesetzt hatte, das die "Revanche" zunächst auf französischer Seite, nach 1918 auf der deutschen Seite auslöste.
Zum andern kann die Dokumentation eine Grundlage für die kritische Aufarbeitung der deutschen bzw. französischen Historiographie bieten. Aus Anlassder 100. Wiederkehr des deutsch-französischen Krieges und der Reichsgründung hatte die Forschung in beiden Ländern hierzu beachtliche Beiträge geleistet. Während in der französischen Historiographie hauptsächlich die Politik des Second Empire einer kritischen Prüfung unterzogen wurde [1], untersuchte die deutsche Geschichtswissenschaft stärker die Konsequenzen des Krieges im Hinblick auf die Probleme, die die Reichsgründung mit sich gebracht hatte; in diesem Zusammenhang wurde die Annexion des Elsass und Lothringens und die "unvollendete" Verfassungsentwicklung des Reichslandes als einer der "Krisenherde des Kaiserreichs", [2] einer umfassenden Bestandsaufnahme deutscher Geschichte und zugleich deren Spiegelung in der Historiographie unterzogen. Seitdem hat sich die Forschung neue Fragestellungen erschlossen [3].

Das unmittelbare Anliegen dieser Dokumentation ist schließlich zu zeigen, wie ein historischer Vorgang in den nationalen Schulbuchhistoriographien unterschiedliche, kontroverse Darstellung und Deutung erfährt. Elsass und Lothringen sind dafür in exemplarischer Weise geeignet. Aus der Gegenüberstellung der deutschen und der französischen Sicht der Annexion können die Schüler lernen, die Voraussetzungen und Motive der Beurteilung durch die jeweils andere Seite zu verstehen. Aus dem Wandel der Beurteilung können sie den Zusammenhang von Geschichtsdeutung und fortschreitender Geschichte selbst ablesen. Damit ist die Möglichkeit gegeben, den Bezugsrahmen des eigenen nationalen Geschichtsverständnisses zu relativieren und den Bewusstseinshorizont in dem Sinne zu erweitern, dass historische Phänomene wie besonders die Grenzkonflikte immer auch internationale Tragweite haben und deshalb das nationalgeschichtliche Verständnis bei weitem überschreiten.
Die in einer solchen vergleichenden Betrachtung kontroverser Vorgänge begründeten Möglichkeiten für eine fundierte, reflektierende Verständigung unter den Völkern sind schon frühzeitig in den deutsch-französischen Historikergesprächen erkannt und empfohlen worden. Nicht von ungefähr hatte man sich in der Elsass und Lothringen-Frage zu einer einheitlichen, für beide Seiten gleichermaßen akzeptablen Interpretation nicht durchringen können; die VI. These der "Deutsch-französischen Vereinbarung über strittige Fragen europäischer Geschichte" aus dem Jahr 1951 [4] postuliert daher eine Abbildung beider Interpretationen in den Schulbüchern:

"Das Elsaß, im Mittelalter und zur Zeit der Reformation ein Land deutscher Sprache und Kultur, hat nach 1648 seine sprachliche und zum großen Teil seine kulturelle Eigenart beibehalten, seit der Revolution von 1789 jedoch seinen Willen, der Gemeinschaft der französischen Nation anzugehören, klar zum Ausdruck gebracht.
Es wird für wünschenswert gehalten,
1. daß der deutsche Geschichtsunterricht im Hinblick auf die elsässische Frage den deutschen und auch den französischen Standpunkt zeigt und den Protest der Abgeordneten von Elsaß-Lothringen 1871 wie auch dessen Bestätigung durch die lange Protestbewegung erwähnt;
2. daß die französischen Lehrbücher die Gründe darlegen, aus denen die Deutschen sich 1871 berechtigt glaubten, Elsaß-Lothringen zu annektieren - mit Ausnahme des französisch sprechenden Teils von Lothringen, der selbst nach deutscher Auffassung nur aus strategischen Gründen in Besitz genommen wurde."

Dieses Verfahren findet sich bereits in der Urfassung der Vereinbarung aus dem Jahre 1935. Die entsprechende These V ist nach redaktioneller Überarbeitung sinngemäß in die Neufassung von 1951 eingegangen, wie ja diese Neufassung von 1951 generell eine Aktualisierung der Urfassung war [5]. Das Verfahren der kontrastiven Darstellung in Schulbüchern geht vermutlich auf eine Anregung von Jules Isaac zurück, der maßgeblich an der Vereinbarung von 1935 mitgewirkt hatte und der in den von ihm verfassten Lehrwerken bereits so verfahren war [6].
Damit sollte eine politisch-historische Kontroverse zum Gegenstand auch des Geschichtsunterrichts werden. Sie war seit Bekannt werden der deutschen Annexionsforderungen noch während des Krieges im Herbst 1870 entstanden und wurde über Jahrzehnte hindurch mit äußerster Heftigkeit in der Publizistik beider Länder verfochten. Die jeweiligen Standpunkte lassen sich in wenigen Stichworten zusammenfassen. Die Begründung der Annexion auf deutscher Seite lautete:

  • Die frühere Zugehörigkeit der Provinzen zum Reich begründet ein historisches Recht auf diese Gebiete.
  • Aus der Zugehörigkeit seiner Bewohner zum deutschen Sprach- und Kulturraum wird die Berechtigung zur Einverleibung in den neuen deutschen Nationalstaat abgeleitet.
  • Das Sicherheitsbedürfnis Deutschlands legitimiert den Besitz der "Grenzmarken" als Glacis gegen Frankreich.

Die französische Argumentation verurteilte die Annexion Punkt für Punkt:

  • Die zwischenzeitliche lange Dauer des französischen Besitzes hat ihrerseits ein historisches Recht begründet, zumal die kulturelle Durchdringung den Gebieten ein französisches Gepräge gegeben hat.
  • Die Bevölkerung von Elsass und Lothringen hat - nicht zuletzt durch ihr Verhalten in der Französischen Revolution - ein unmissverständliches Bekenntnis zur französischen Staatsnation abgelegt und dies durch den Protest der 1871 gewählten Abgeordneten zur Nationalversammlung von Bordeaux erneut bekräftigt.
  • Mithin ist die Annexion eine Verletzung des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Das Sinnen auf Revanche ist legitimiert aus Gründen der Wiederherstellung des verletzten Rechts.

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