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'Von Grenzen und Abgrenzungen'
 
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Von Grenzen und Abgrenzungen

Abbildung 1:

Internet-Quelle 1 [1]  & Internet-Quelle 2 [2]

 

Wenn man von Grenzen spricht, so meint man im allgemeinen Abgrenzungen zwischen Staaten. Die ersten Europabegeisterten Jugendlichen der fünfziger Jahre verbrannten Grenzpfähle an der deutsch-französischen Grenze, um die Symbolik einer europäischen Einheit ohne Nationalstaaten zu beschwören. Es gibt jedoch auch andere politische oder (und) rechtliche Abgrenzungen, die ein Drinnen von einem Draußen trennen und die das Einbeziehen der einen und die Ausgrenzung der anderen bewirken.

Abbildung 2:

Deutsch-französische Grenze auf dem Col de la Schlucht westlich von Colmar (um 1907). Die Grenze war in jenen Jahren ein beliebtes Postkartenmotiv, das überwiegend ein friedliches Nebeneinander vorspiegelte.

Internet-Quelle [3]

Grenzziehungen stellen nämlich nicht nur etwas fest, sondern verändern auch Realitäten, an die man glaubt. Nicht automatisch. Nicht notwendigerweise. In Frankreich gibt es heute Geographen, die in vermeintlicher Wissenschaftlichkeit davon ausgehen, Grenzen beeinflussten automatisch die Vorstellungen der Menschen. Woraus sich für sie die unwiderlegbare Folgerung ergibt, dass die neuen Grenzen des vereinten Deutschlands und Mitteleuropas die Deutschen dazu zwingen würden, einen neuen "Drang nach Osten" zu verspüren und eroberungslustig zu werden. Fragt man sie aber, wo denn die Deutschen seien, die derlei Gedankengänge hegten und in die Tat umzusetzen bereit waren, so lautet ihre überzeugte, aber nicht überzeugende Antwort: "Eben: sie wissen noch gar nicht, welche Gedankengänge die geopolitische Lage ihnen aufzwingen wird!" Unwiderlegbar, und gerade deswegen unwissenschaftlich.

Dennoch können Abgrenzungen Vorstellungen hervorrufen und Verhaltensweisen auslösen. In Mainz stellte mich ein Minister als Redner vor, der in seiner Ansprache mehrmals den Ausdruck "wir Rheinland-Pfälzer" verwendet hatte. Daraufhin erinnerte ich mit freundlicher Ironie an die Entstehungsgeschichte von Rheinland-Pfalz. Stalin hatte sich in Jalta von Churchill überzeugen lassen, dass die Herrschaft über das besiegte Deutschland gemeinsam mit Frankreich ausgeübt werden solle. Die "Drei" würden also vier. Stalin seinerseits stellte eine Bedingung: Die französische Besatzungszone dürfe die sowjetische nicht schmälern. Also nahm man ein südliches Stück der britischen, ein nördliches der amerikanischen Besatzungszone. Beide Teile zusammen ergaben Rheinland-Pfalz. Und nach Jahrzehnten gemeinsamer Regierung und Verwaltung, nach einer landesbezogenen Bildungspolitik durch ein gemeinsames Schulsystem ist dann in der Tat so etwas wie ein rheinland-pfälzisches Gefühl der Zusammengehörigkeit entstanden. Die Abgrenzung hat identitätsschaffend gewirkt. Der Rhein ist zwar breit, aber zwischen Ludwigshafen und Mannheim nicht breiter als zwischen Köln und Düsseldorf. Und obwohl die Stadtgebiete Mannheims und Ludwigshafens, im Gegensatz zu den Städten Köln und Düsseldorf, ineinander übergehen, sind sie sich fremd, weil derselbe Fluss zwischen ihnen zugleich Landesgrenze ist.

Abbildung 3:

Grenzen und Identitäten, ein Thema, das in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue Bedeutung gewann. Nach der Besatzungszeit konstituieren sich die Bundesländer nach Vorgabe der Siegermächte neu. Bayern musste die Pfalz an Rheinland-Pfalz abgeben, gewann durch die Zerschlagung Preußens aber neues Gewicht als größter Flächenstaat der Bundesrepublik. Fast alle Bundesländer haben in den Grenzen, wie sie durch diese Neuordnung geschaffen wurden, vorher nie bestanden.

Internet-Quelle [4]

Auch bei Parteien und anderen Vereinen bewirken Abgrenzungen ein gemeinsames Verhalten, ein gemeinsames Vokabular und bald eine gemeinsame Erinnerung an das gemeinsam Erlebte. Und selbst wenn sich zwei Parteien oder Fußballvereine in ihren Vorstellungen und ihrer Praxis immer näher kommen, wird es mit der Zeit schwieriger, sie in einer einheitlichen Struktur zusammenzufassen, und sei es nur, weil die Vorsitzenden ihre über die Dauer der Jahre oder Jahrzehnte erworbene Macht nicht verlieren wollen.

Grenzen können mehr oder weniger trennend sein. Bis Ende 1989 hieß es in der Bundesrepublik, die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten solle durchlässiger gemacht werden. Ihre Abschaffung erschien als utopisches Fernziel. Die Grenzziehung mag für die betroffenen Menschen geringe oder schwerwiegende Konsequenzen haben. Die schlimmste Konsequenz ist die Vertreibung, weil man innerhalb des abgegrenzten Gebiets nicht mehr geduldet wird. Das haben die Pommern und die Schlesier erfahren müssen.

In anderen Fällen bestimmt die Grenzziehung, was man zu denken hat und wie der Alltag gestaltet wird, auch wenn die Abtrennung mit dem Willen und mit den Gefühlen der Betroffenen nichts zu tun hat. So hat der Westfälische Frieden [5] 1648 mit der Übernahme des 1555 im Augsburger Religionsfrieden [6] erstmals formulierten Prinzips Cuius regio, eius religio (wessen das Land, dessen die Religion) dem Landesherren die Religionsfreiheit zugestanden, nicht aber seinen Untertanen.

Abbildung 4:

Grenzziehungen in Deutschland im 17. Jahrhundert - Ein Mosaik von Kleinterritorien

 

 

 

Internet-Quelle [7]

1945 ist es ähnlich gekommen, nur dass die Herrscher der westlichen Besatzungszone dem Prinzip der Freiheit huldigten. Es wird noch darauf zurückzukommen sein: bei der Wiedervereinigung haben nur die wenigsten Westdeutschen an die ersten Tage im Juli 1945 gedacht, weil die meisten von ihnen überhaupt nicht wussten, was damals geschehen war. Damals haben nämlich die USA und die Sowjetunion ein Abkommen in die Tat umgesetzt, das bereits im Herbst zuvor - das heißt bevor amerikanische oder sowjetische Soldaten in Deutschland einmarschiert waren - in London unterschrieben worden war: Das besiegte Deutschland würde von den Siegern gemeinsam regiert werden, und zwar von Berlin aus, weswegen Berlin von den drei Mächten (die beiden plus Großbritannien, das mit unterschrieb) besetzt werden würde. In den beiden Zonenprotokollen vom September und November 1944 wurden auch die Trennungslinien gezogen, die die drei Besatzungszonen voneinander abgrenzen sollten.

Zwischen dem 1. und 4. Juli 1945 zogen also westliche Truppen (darunter nun auch französische) in Berlin ein, das allein von der Roten Armee erobert worden war, während sich die amerikanische Armee aus dem breiten Gebiet zurückzog, in das sie vorgedrungen war und das jenseits der Londoner Trennungslinie lag. Wäre das Abkommen nicht eingehalten worden, hätte es später kein Westberlin gegeben -und die Einwohner von Schwerin, Magdeburg, Halle, Leipzig, Weimar, Erfurt, Jena, Eisenach, Gerau, Flauen wären Bürger der Bundesrepublik geworden und keine "Ossis".

Abbildung 5:

Die vier Besatzungszonen nach dem Zweiten Weltkrieg - ein Ergebnis der Konferenz von Jalta: Grenzen ohne historischen Hintergrund

 

 

 

Internet-Quelle [8]

Wenn Grenzen durchlässiger werden oder sogar wegfallen, wenn Politik und Verwaltung in den zuvor getrennten Gebieten immer ähnlicher werden, wenn sie sogar miteinander verschmelzen, müssten sich doch die Vereinigung oder der Zusammenschluss in den Köpfen der Menschen auswirken, müssten die neuen Fakten eigentlich zu Realitäten des Bewusstseins werden. Zwei Beispiele zeigen, dass es so nicht notwendigerweise, jedenfalls nicht so schnell vor sich geht. Die deutsche Einheit ist institutionell vollzogen worden, und doch ist die Vereinheitlichung, das heißt die Überwindung der jahrzehntelangen Abgrenzung, noch nicht erreicht. Natürlich spielen die jeweiligen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen eine große Rolle, aber ebenso die geistigen und kulturellen Unterschiede, die diese Abtrennung hervorgerufen hat.

Die Europäische Union ist heute bereits in größerem Umfang verwirklicht, als den meisten Bürgern der Mitgliedsstaaten bewusst ist. Die Verstrickungen, Verquickungen und Gemeinsamkeiten bei Verordnungen und ihre praktische Umsetzung gehen viel weiter, als allgemein angenommen wird. Dafür, dass die Menschen vor diesen Realitäten gerne die Augen verschließen, gibt es viele Erklärungen, darunter das mangelhafte Wissen darüber, wie wenig uns im Grunde voneinander trennt. Ein solches Wissen um den wahren Stand von Gemeinsamkeiten wäre wahrscheinlich größer, wenn die Symbole der Gemeinschaft stärker betont würden und auch sichtbarer wären, und die noch bestehenden Trennungslinien nicht immer wieder besonders herausgestellt würden.

Abbildung 6:

Auch schon vor der Erweiterung der EU am 1. Mai 2004 waren die Grenzen Europas in weiten Teilen gefallen. Die Tragweite dieser Vereinigung ist vielen Bürgerinnen und Bürgern der EU teilweise bis heute nicht bewusst.

 

Internetquelle s. unten (08.08.2004)

Die Vielschichtigkeit des europäischen Zusammenschlusses spielt eine größere Rolle als die geographische Distanz. Zu Frankreich gehören noch die weitab gelegenen confettis de l'Empire also die "Papierschnipsel des (Kolonial)Reichs". Guadeloupe und Martinique liegen zwar jenseits des Atlantischen Ozeans, werden aber als französische Departements verwaltet und vom Mutterland als solche betrachtet, von den Einwohnern als solche erlebt. Das gleiche gilt für die Insel La Reunion im Indischen Ozean. Die Bananenproduktion von Guadeloupe ist Teil eines Problems, das zu Spannungen zwischen Deutschland und Frankreich, zwischen der Europäischen Union und den USA geführt hat. Auch wenn andere ehemals von Frankreich beherrschten Gebiete souveräne Staaten geworden sind, ergibt sich aus der Vergangenheit, durch das Beibehalten der französischen Sprache in der Führungsschicht, aus den alten und auch neuen wirtschaftlichen offiziellen oder heimlichen Verbindungen, eine Art Verwandtschaftsgefühl, das mitunter Dakar und Tunis näher erscheinen lässt als Budapest, die Hauptstadt eines zukünftigen Mitgliedstaats der Union, oder sogar Lissabon, die Hauptstadt eines der derzeitigen 15 EU-Staaten.

Abbildung 7:

Die überseeischen Besitzungen Frankreichs (DOM-TOM) - Relikte einer kolonialen Vergangenheit.

 

Internet-Quelle [9]

Die Verwirrung über die Zugehörigkeiten entsteht beinahe notwendigerweise, wenn der deutsche, der französische oder britische Bürger vernimmt, dass Russland seit 1996 Mitglied des Europarats ist, während die Frage, ob es denn überhaupt zu Europa gehört, noch unbeantwortet ist. Dasselbe gilt natürlich für die Türkei, die bereits 1949 in den Europarat aufgenommen wurde. Unter den vierzig heutigen Mitgliedern befinden sich die nach 1989 einstimmig zugelassenen Länder des ehemaligen sowjetischen Herrschaftsbereichs oder der ehemaligen Sowjetunion selbst. Keines von ihnen gehört der Union an, und die Chancen einer etwaigen Aufnahme sind sehr unterschiedlich. Dass der Europarat mit seiner Versammlung in Straßburg etabliert ist, wo auch das Parlament der Union in einem eigenen Gebäude tagt, verstärkt die Verwirrung. So ist der Europarat die europäische Instanz für die Verteidigung und Durchsetzung der Menschenrechte, selbst wenn Russland gerade zu jener Zeit aufgenommen wurde, als Abertausende von Tschetschenen der russischen Armee zum Opfer fielen. Gehört Russland wegen eines kolonialkriegsähnlichen Feldzugs deswegen nicht zu Europa? Ganz offenbar spielen hierbei politische Kriterien eine Rolle, die mit der inneren Entwicklung auch anderer Länder nach Überwindung eines totalitären Systems zu tun haben.

Abbildung 8:

Sitz des Europarates in Straßburg

 

 

 

 

Internet-Quelle [10]

Die Frage nach der Abgrenzung lässt sich auch anders stellen. Inwiefern liegt Russland überhaupt auf dem europäischen Kontinent? Seit die baltischen Staaten, die Ukraine und Weißrussland (Bjelarus) unabhängige Staaten geworden sind, hat der Anteil Asiens an der Russischen Föderation an Gewicht gewonnen. General de Gaulle hatte oft gefordert, Europa solle vom Atlantik bis zum Ural reichen - bis er die Hügel des Urals überflogen und Nowosibirsk mit seinen Forschungsinstituten im neuen Stadtteil Akademgorodok besucht hatte: Dabei konnte er feststellen, dass zwischen dem europäischen und dem asiatischen Teil gar keine großen Unterschiede in ihrer technologischen Entwicklung mehr bestanden. Wenn Russland mit den Republiken und autonomen Gebieten Ostsibiriens und des Fernen Ostens zu Europa gehört, dann grenzt Europa an China, und die Entfernung zu Japan ist gering.

Abbildung 9:

Karikatur zum viel umstrittenen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union

 

 

 

 

 

 

 

Internet-Quelle [11]

Das Problem der Europa-Zugehörigkeit der Türkei mag auf ähnliche Art dargestellt werden: Ist nicht der europäische Teil des Landes der bei weitem kleinere? Aber die Zugehörigkeitsdebatte, die neu entfacht wurde, als die etwaige Mitgliedschaft der Türkei in der Union Ende 1997 auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben wurde, ist nur in geringem Maße durch die Trennungslinie der Kontinente bedingt. Vielmehr geht es um den Zustand der inneren Demokratie, um die Behandlung ethnischer Minderheiten; es geht auch um die Problematik des fundamentalistischen und toleranten Islams innerhalb der Union, es geht schließlich um den Sonderfall der türkischen Einwohner Deutschlands und ihr Anwachsen unter der Gesamtbevölkerung. Die Türkei ist bereits in einer Zollunion mit der EU. Die Diskussion um eine Vollmitgliedschaft beschränkt sich also keinesfalls auf geographische Gegebenheiten, vielmehr geht es um politische Trennlinien.

Auch die unterschiedliche Religionszugehörigkeit kann zu politischen Abgrenzungen führen oder zum Vorwand dafür genommen werden. Die Frage, warum serbisch-orthodoxes und kroatisch-katholisches Blut geflossen ist, braucht an dieser Stelle nicht eigens beantwortet zu werden. Das gilt auch für die Trennung zwischen dem türkisch-islamistischen und dem griechisch-orthodoxen Teil von Zypern, eine Trennung, die um so strikter ist, als Flucht und Vertreibung den nördlichen Teil der Insel beinahe "griechenfrei" gemacht haben. Eine Trennung, die keineswegs durch eine abstrakte Linie bewerkstelligt wird. Der Stacheldraht mitten durch die Hauptstadt Nikosia, die doppelte Kontrolle am Checkpoint Ledra Palace, erinnert heute in furchtbarer Weise an das Berlin von 1961 bis 1989 mit seiner Mauer und seinem Checkpoint Charlie .

Abbildung 10:

Checkpoint Charlie in Berlin (links, in einer historischen Aufnahme) und Checkpoint Ledra Palace in Nikosia (Cypern)

Internetquelle 1 [12]  & Internetquelle 2 [13]

Bis zur Ratifizierung des Maastricht-Vertrags [14] hieß die Europäische Union (EU) Europäische Gemeinschaft (EG). Seitdem ist die Zahl ihrer Mitglieder von zwölf auf 15 angewachsen. Abgrenzungen zwischen innen und außen wurden stufenweise aufgehoben, wobei vorerst dahingestellt bleiben soll, ob sich dadurch qualitative und nicht nur quantitative Veränderungen ergeben haben. Ein Zahlenspiel mag dies verdeutlichen. 1951, das heißt, zu Beginn der Einrichtung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Montanunion [15] ), war man zu sechst: Frankreich, Italien, die Bundesrepublik Deutschland und die drei Benelux-Staaten, Belgien, die Niederlande und Luxemburg. Die Montanunion stand für den Beginn einer politisch-wirtschaftlichen Gemeinschaft. Vorher hatte es schon einen militärischen Zusammenschluss gegeben: Nach der Machtergreifung der Kommunisten in Prag hatten fünf Staaten - Großbritannien, Frankreich und die Benelux-Länder - 1948 in Brüssel einen Pakt geschlossen, der, im Gegensatz zum Atlantischen Bündnis des folgenden Jahres, jedem angegriffenen Partnerstaat automatischen militärischen Beistand zusicherte. Als dann, am 30. August 1954, die französische Nationalversammlung den Vertrag über eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft unter den sechs Staaten der Montanunion zum Scheitern brachte, unter anderem weil Großbritannien nicht dabei war, wurden sich Pierre Mendes France und Anthony Eden einer nicht allzu schwierigen arithmetischen Gleichung bewusst: 5+2=6+1! Wenn man die Bundesrepublik und Italien in den Brüsseler Pakt brachte, so hatte man ein Verteidigungsgebilde - Westeuropäische Union [16] benannt -, das just die Mitglieder der Montanunion und Großbritannien einschloss. 1998 hat die WEU schon zehn Mitglieder, da Spanien, Portugal und Griechenland dazugekommen sind.

Die "Sechs" waren immer noch unter sich, als sie 1957 in Rom die bald dahinsiechende Atom-Gemeinschaft "Euratom [17] " und vor allem die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft [18] ins Leben riefen. Die erste Erweiterung kam 1973, und die Hauptneuerung war der Eintritt Großbritanniens. Irland und Dänemark begleiteten eine Macht, die de Gaulle aus politischen Gründen jahrelang ausgeschlossen hatte. Wie widersprüchlich die "Sechs" in dieser Sache damals aufgetreten sind, sei hier nur am Rande erwähnt.

Die darauf folgende Erweiterung besaß eine ganz andere Bedeutung. 1974 und 1975 waren drei Diktaturen gefallen - in Athen, in Madrid, in Lissabon. Weniger aus wirtschaftlichen denn aus politisch-moralischen Gründen strebten Griechenland, Spanien und Portugal danach, in die EWG aufgenommen zu werden. Die Mitgliedschaft als Einbeziehung in eine Familie freiheitlich-demokratischer Staaten sollte der Festigung der jungen Demokratien dienen, was dann auch geschah. Griechenland wurde 1981 Mitglied, Spanien und Portugal 1986. Ein Blick auf den Atlas zeigt, dass Griechenland in keine geographische Kontinuität einbezogen wurde. Die "Neun" waren nun zwölf. Diese "Zwölf" unterschrieben im Februar 1986 und im Februar 1992 die beiden Verträge zur Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion. Zwischen den zwei Unterschriften hatte sich die Grenze der Gemeinschaft durch die deutsche Wiedervereinigung auf der Basis des Artikel 23 GG bis an die polnische Grenze verschoben.

Bevor 1997 in Amsterdam [19] die politisch-institutionellen Inhalte der Gemeinschaft durch einen neuen Vertrag weniger verändert wurden, als ursprünglich geplant, waren 1995 drei weitere neue Mitglieder dazugekommen, nämlich Österreich, Schweden und Finnland. Es hätten vier sein sollen, aber die norwegischen Wähler hatten wie 1972 zum zweitenmal nein gesagt. Diesmal waren fast ausschließlich wirtschaftliche Erwägungen im Spiel gewesen. Die geographische Kontinuität war gegeben, weil sich Dänemark und Schweden schließlich fast berühren. Um Estland, Lettland, Litauen und Polen wurde ein Bogen gespannt, so dass deren Berechtigung, eines Tages selbst der Union anzugehören, zumindest geographisch bereits angelegt ist.

In Prag wird seit 1995 mit einiger Bitterkeit beklagt, dass Böhmen seit Jahrhunderten im Herzen Europas liege und man immer noch nicht dabei sei, während die Lappländer im Norden Finnlands und Schwedens bereits Bürger der Union geworden sind. Darüber hinaus sind seit 1990 Polen, Ungarn, die Tschechische Republik und andere der Meinung, aus denselben Gründen wie ehedem Griechenland, Spanien und Portugal berechtigt zu sein, an der Gemeinschaft demokratischer Staaten teilzuhaben.

Abbildung 11:

Konferenz der Schengener Vertragsstaaten auf dem Petersberg bei Bonn 16. September 1998

 

 

 

Internet-Quelle [20]

Innerhalb der Union haben die Grenzen viel an Bedeutung verloren - sowohl für die Menschen wie auch für die Waren. Und die Abschaffung der Grenzen innerhalb der Union geht für jene Länder, die sich zusammen durch das Schengener-Abkommen [21]  mehr nach außen hin abgeschottet haben, noch weiter. Wobei die Abgrenzungen der Staaten- und Verwaltungseinheiten allerdings fortbestehen, auch wenn einige grenzüberschreitende Versuche zeigen, dass es auch anders geht, zum Beispiel die Stadt- und Regionalplanungen im Saar-Lor-Lux-Raum [22]  (Saarland, Lothringen, Luxemburg), die Zusammenarbeit im Raum Südpfalz/Mittlerer Oberrhein/ Nordelsass oder die Städteverbindungen in der "EURegio Oberrhein [23] ". Die Möglichkeiten und Schwierigkeiten dieser von der Union unterstützten Initiativen sind noch genauer zu untersuchen. Jedenfalls sind die Probleme weniger schwerwiegend als das Phänomen neuer Abgrenzungen innerhalb staatlicher Grenzen. 

Es wirkt geradezu paradox, wenn ständig von der Vereinigung oder dem allmählichen Fortfall der Grenzen gesprochen wird, während zugleich - aus inneren Spaltungsprozessen resultierende mitunter sogar blutige - Spannungen diese Vereinigung begleiten. So gehört beispielsweise Belgien zu den Gründern der Gemeinschaft, und niemand hat in den fünfziger Jahren mehr persönliche Tatkraft in diesen Vereinigungsprozess eingebracht als der belgische Staatsmann Paul-Henri Spaak [24] . Aber heute ist nicht einmal mehr gewiss, ob es überhaupt noch ein einheitliches Belgien gibt. Zugegeben, auch anderswo ist der Einheitsstaat durch ein föderales System ersetzt worden. Der belgische Föderalismus ist jedoch von ganz besonderer Art, weil sich der sprachliche und kulturelle Antagonismus zwischen Flamen und Wallonen immer zersetzender auf die politische Organisation des Landes ausgewirkt hat. 

Abbildung 12:

Die Sprachengebiete Belgiens. Die beiden Hautgruppen bilden das Flämische (niederländisch) und Wallonische (französisch). Die deutschsprachige Minderheit macht weniger als ein Prozent der Bevölkerung aus.

 

 

 

Internet-Quelle [25]

Seit 1963 ist Belgien in vier Sprachregionen [26] eingeteilt oder, besser gesagt, aufgeteilt, wobei die deutschsprachige Minderheit, mit weniger als einem Prozent der Bevölkerung und weniger als drei Prozent der Fläche, kaum eine Rolle spielt. 1970, 1980, 1988, 1993 haben Verfassungsänderungen einen Bundesstaat hervorgebracht, in dem als alleinige Region die Hauptstadt Brüssel zweisprachig sein will und darf. Die Parteien bestehen zweifach, aber nicht so wie CDU und CSU, denn zwischen den Gleichorientierten kommt es oft zu mehr als nur politischen Spannungen, was mit der jeweiligen sprachlichen Identifikation zu tun hat; aus demselben Grund können Minister und viele hohe Ämter doppelt besetzt werden. Andere Ursachen kommen hinzu, weil sich die Macht einzelner Teile über die Jahre hinweg verschoben hat. Ursprünglich hatte der frankophone Teil die kulturelle wie wirtschaftliche Dominanz innegehabt, aber nun liegt die ökonomische Potenz in Flandern, das sowieso den größeren Anteil der Bevölkerung stellt. In Ablehnung des alten wallonischen Anspruchs, die "Kultivierteren" zu sein, verweigert sich die flämische Seite in zunehmendem Maße der französischen Sprache. Bei einer europäischen Jugendbegegnung 1996 in Poitiers behaupteten die an sich europabegeisterten flämischen Teilnehmer, sie müssten sich auf englisch ausdrücken, weil sie kein französisches Wort verstünden. Jeder kann heute feststellen, dass die Abgrenzung Brüssels von seinen flämischen Vororten in mancher Hinsicht strikter ist als zwischen Belgien und seinen Nachbarstaaten.

Ähnlich ist die Situation in Spanien. Katalonien wird immer autonomer und die katalanische Sprache immer vorherrschender, auch in Schule und Universität. Bei der Eröffnung der Olympischen Spiele in Barcelona hat König Juan Carlos eine schwierige Aufgabe hervorragend gemeistert: Er verkörperte Spanien und erwies der katalanischen Autonomie dennoch seinen Respekt. Manche Formulierung des Monarchen glich einem Seiltanz über doppeltem Abgrund. Andererseits hat auch er ebenso wenig wie die zentrale und regionale Regierung eine Lösung zur Überwindung des baskischen Terrorismus gefunden. In Nordirland, das zu Großbritannien gehört, hat der Antagonismus zwischen den beiden sich als christlich bezeichnenden Teilen der Bevölkerung zu einer Art Kriegszustand geführt. Mehr noch als in Belgien hat dieser Konflikt vor allem soziale Hintergründe. Die Armut und die politisch-gesellschaftliche Ohnmacht ist schon immer das Schicksal der katholischen Mehrheit gewesen.

Abbildung 13:

Minoritätenkarte von Europa. Die meisten europäischen Minoritäten haben ihre eigenen Sprachen erhalten.

 

 

 

 

Internet-Quelle [27]

Leider deutet manches darauf hin, dass sich die Unterschiede, also das Trennende, innerhalb der Europäischen Union, verschärfen könnten. In Norditalien feierte ein Demagoge Erfolge, weil viele Bürger des reichen Nordens den Lastenausgleich mit dem armen Mezzogiorno nicht mehr bezahlen wollen. Allerdings haben auch manche unter ihnen den nicht ganz unberechtigten Eindruck, ihr Opfer komme eher der Mafia zugute als ihren von der Mafia ausgebeuteten Mitbürgern.

Bei allen Spannungen, die es also auch innerhalb der EU gibt, sollte jedoch nicht übersehen werden, dass die Lage nirgendwo mit dem zu vergleichen ist, was sich im ehemaligen Jugoslawien abgespielt hat und noch immer abspielt. Es gibt kein gewalttätiges Apartheidsystem wie das, welches heute im Kosovo zu finden ist. Hier unterdrückt eine kleine serbische Minderheit die albanisch-moslemische Mehrheit und will sie sogar ihrer Sprache berauben.

Bei der Frage nach staatlichen Abgrenzungen sollte man innere Spaltungslinien nicht übersehen und sei es auch nur, weil sie auf historischen Gegebenheiten beruhen, die auf kulturellem Gebiet wieder zum Vorschein kommen und Auffassungen und Verhaltensweisen prägen.

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