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'Friedrich Naumann und die Mitteleuropaidee'
 
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Friedrich Naumann und die Mitteleuropaidee

Friedrich Naumann [1]  begründete im Februar 1916 einen Arbeitsausschuss für Mitteleuropa, an dem namhafte Repräsentanten aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, unter ihnen Matthias Erzberger, Hugo Stinnes, Albert Ballin, Ernst Jäckh [2] , Gustav von Schmoller und Max Weber, beteiligt waren und der Vorarbeiten für die Regierungspolitik zu betreiben suchte, allerdings ohne dafür von Regierungsseite nennenswerte Unterstützung oder auch nur Ermutigung zu erhalten (32). Schon zuvor hatte der "Verein für Socialpolitik [3] " die Mitteleuropafrage zum Gegenstand seiner Arbeiten gemacht. Bereits am 24. März 1915 wurde von dem Ausschuss des Vereins für Socialpolitik, des damals wohl einflussreichsten Gremiums der deutschsprachigen Sozialwissenschaft, beschlossen, über die Frage eines Zoll- und Wirtschaftsbündnisses zwischen dem Deutschen Reiche und der Donaumonarchie zahlreiche Fachgutachten einzuholen. Am 23. Oktober 1915 konnte Heinrich Herkner diese zum Druck geben (33); im April 1916 lagen diese Expertisen, an denen auch österreichische Nationalökonomen beteiligt waren, in einem umfänglichen Band auch der breiteren Öffentlichkeit vor (34). 

Abbildung 17:

Friedrich Naumann (1860 – 1919)
Zu Beginn des Ersten Weltkriegs unterstützt er die Politik der deutschen Regierung, distanziert sich jedoch von aggressiver Annexionspropaganda. 1915 veröffentlicht er des aufsehenerregende Buches "Mitteleuropa", in dem er eine Abmilderung der Kriegsziele und eine enge wirtschaftliche Föderation mit Ost- und Südosteuropa fordert.

 

 

 

Internet-Quelle [4]

Der Verein für Socialpolitik machte dieses damals hochaktuelle Thema dann auch zum Gegenstand der Beratungen des Ausschusses für Sozialpolitik am 6. April 1916 (35). Hier kamen die großen praktischen Schwierigkeiten, die einer Verwirklichung des großen Plans eines wirtschaftlichen Zusammenschlusses beider Reiche, ganz abgesehen von der Türkei und Bulgarien, im Wege standen, in aller Form auf den Tisch. Bei den Experten dominierte Skepsis, ja Ablehnung, insonderheit sofern diese Frage ausschließlich unter rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten betrachtet wurde. Doch gab es nicht wenige, die, wie Max Weber, aus politischen Gründen, insbesondere der polnischen Frage, ein weit gehendes Zollbündnis dennoch für notwendig hielten. Max Weber argumentierte: "Wie denn nun sei: die Eventualität, dass von den Regierungen aus politischen Gründen ein zollpolitisches Mitteleuropa gemacht werden muss, muss sowohl den Interessenten wie uns stets vor Augen stehen: von der Voraussetzung, dass eine politische Situation eintreten kann, welche zur mitteleuropäischen Einigung zwingt, muss zunächst einmal ausgegangen werden, und da liegt die Grenze aller Bedenken." (36)

Allein, die politische Leitung schreckte, nachdem mit der Polenproklamation vom November 1916 die polnische Frage zunächst einmal provisorisch vom Tisch war, davor zurück, in der Mitteleuropafrage energische Schritte zu unternehmen. Schrittweise glitt die deutsche Diplomatie wieder auf die Linie eines konventionellen Annexionismus zurück, der die Länderkarte Europas in großem Stil mit Hilfe direkter Annexionen zu verändern trachtete; die Mitteleuropaidee hatte einstweilen ausgedient. Um Österreich-Ungarn an das Deutsche Reich zu binden, schienen nun direktere Mittel besser geeignet; und angesichts der zunehmenden Abhängigkeit des Kaiserstaates von deutscher Unterstützung auf militärischem wie auf wirtschaftlichem Gebiet schien dies alles wenig dringlich geworden zu sein.

Einigermaßen im Gegensatz zu diesen Entwicklungen auf der Ebene der amtlichen Politik gewann die Mitteleuropaidee in der deutschen Öffentlichkeit seit Ende 1915 zunehmend an Resonanz. Dabei kam Friedrich Naumanns zahlreichen kleineren Publikationen zur Mitteleuropafrage und vornehmlich seinem im Oktober 1915 erschienenen Werk "Mitteleuropa" besondere Bedeutung zu. Friedrich Naumanns "Mitteleuropa" war, wie Wolfgang Schieder dargelegt hat, "der größte Bucherfolg, den ein politisches Buch im Kaiserreich nach Bismarcks Gedanken und Erinnerungen je erreicht hat" (37). Dieses Werk war insofern bemerkenswert, weil die Mitteleuropafrage hier nicht bloß unter strategisch-politischen Gesichtspunkten behandelt wurde, sondern in einem ungleich umfassenderen Kontext, der erstmals auch die Probleme des Selbstbestimmungsrechts der anderen betroffenen Völker, insbesondere der Polen, aber auch der südslawischen Völker, ins Auge fasste. Freilich war dies ein Propagandawerk, das über die großen realen Probleme gutenteils hinwegging.

Abbildung 18:

Ernst Jäckh (1875 – 1959)
Nach einer Reise ins osmanische Reich veröffentlicht Jäckh 1909 sein Buch Der aufsteigende Halbmond. Auf dem Weg zum deutsch-türkischen Bündnis, worin er für eine ökonomische und kulturelle Expansion Deutschlands in Südosteuropa plädiert. Diesen Weg führt er mit der Zeitschrift Das Größere Deutschland fort, die er ab 1914 in Berlin herausgibt. Die von ihm gemeinsam mit Paul Rohrbach herausgegebene Zeitschrift Deutsche Politik wurde zu einem Sprachrohr einer weit ausgreifenden Mitteleuropapropaganda.

 

Internet-Quelle [5]

Eine große Zahl von Publizisten im Umkreis Naumanns griff die Idee eines neuen Mitteleuropa mit Begeisterung auf, so insbesondere Ernst Jäckh, der die von ihm gemeinsam mit Paul Rohrbach herausgegebene Zeitschrift Deutsche Politik zu einem Sprachrohr einer weit ausgreifenden Mitteleuropapropaganda machte (38). Hier wurde die Gründung eines "größeren Mitteleuropa", d.h. der Zusammenschluss Deutschlands, Österreich-Ungarns, Bulgariens und der Türkei, gleichermaßen als zwingende Konsequenz der geopolitischen Lage der Mittelmächte und der geschichtlichen Entwicklung selbst bezeichnet: "Dieses Mitteleuropa - die neue Einheit des alten Habsburgischen Reichs deutscher Nation und des alten Osmanischen Reichs türkischer Nation" - man sieht, die geographischen Grenzen wurden hier weit in den Nahen Osten vorgeschoben -, "einst durch die Donau in diese beiden Reiche und Teile getrennt, dann nördlich und südlich je in einzelne Volksteile aufgelöst, jetzt endlich und innerlich als ein Weltteil zusammengefügt, in dem die Völker als verschiedene Organe zum einheitlichen Organismus einer Welt zusammenwachsen", sei eine historische Notwendigkeit, nicht zuletzt angesichts des Drucks des britischen Weltreichs einerseits, des zaristischen Russlands andererseits auf die europäische Mitte (39).

In seiner damals viel beachteten Flugschrift "Das größere Mitteleuropa" machte Jäckh vollends deutlich, dass das künftige Mitteleuropa über den Bund zwischen dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn weit hinausgreifen und insbesondere Bulgarien und die Türkei als Kern eines umfassenden geopolitischen Blocks umgreifen müsse. Er glaubte, diesen mitteleuropäischen Staatenbund als eine gleichsam naturnotwendig erwachsende organische Ordnung deuten zu können, in der das Bauprinzip der deutschen Staatsordnung eine Wiederholung auf höherer Ebene finden werde (40).

Abbildung 19:

"In seiner damals viel beachteten Flugschrift Das größere Mitteleuropa machte Jäckh vollends deutlich, dass das künftige Mitteleuropa über den Bund zwischen dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn weit hinausgreifen und insbesondere Bulgarien und die Türkei als Kern eines umfassenden geopolitischen Blocks umgreifen müsse". (vgl. Text)

Internet-Quelle [6]

Man wird dies alles als durch die Kriegssituation bedingte Propagandaschriften bezeichnen können, zumal angesichts des Zweckoptimismus, der diese Argumentationen durchzog. Und ebenso wenig wird man heute Rudolf Kjellens geopolitische Argumentation zugunsten eines politischen und wirtschaftlichen Zusammenschlusses der europäischen Mitte gegen die Westmächte einerseits, die slawische Welt andererseits überzeugend finden. Es ist charakteristisch, dass die territorialen Grenzziehungen dieses neuen, mit großen Fanfaren vorhergesagten "Mitteleuropa" keineswegs eindeutig und von Autor zu Autor darüber höchst unterschiedliche Meinungen zu finden waren. Für Friedrich Naumann standen Österreich-Ungarn und Polen, daneben das Baltikum im Vordergrund; bei Paul Rohrbach feierte die alte Idee eines Zusammenschlusses der nichtslawischen Nationen des Balkans gegen die slawische Flut fröhliche Urständ; für Ernst Jäckh hingegen war Mitteleuropa in erster Linie das Glacis für die künftige Vormachtstellung einer deutsch geführten Staatenföderation im Nahen Osten. Gleichviel wurde hier dann doch ernstlich nachgedacht über die Frage, ob sich die nationalstaatlichen Ideale der Vergangenheit nicht überlebt hätten und damit die Bahn für neue politische Ordnungsprinzipien frei gemacht werden müsse.

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Anmerkungen

32. Die konstituierende Sitzung des "Arbeitsausschusses Mitteleuropa" fand am 22.2. 1916 in Berlin statt. Vgl. Max Weber-Gesamtausgabe 1/16, S. 126.

33. Vgl. Die wirtschaftliche Annäherung zwischen dem Deutschen Reiche und seinen Verbündeten, hg. im Auftrag des Vereins für Socialpolitik von Heinrich Herkner, 1. Teil = Band Schriften des Vereins für Socialpolitik, S. 155, München 1916, V.

34. Siehe die vorhergehende Anmerkung.

35. Die wirtschaftliche Annäherung zwischen dem Deutschen Reiche und seinen Verbündeten, 3. Teil, Aussprache in der Sitzung vom 6. 4. 1916. Vgl. auch Max Weber-Gesamtausgabe Band 1/15, S. 134 ff.

36. Max Weber-Gesamtausgabe 1/15, S. 149.

37. Friedrich Naumann, Werke, hrsg. im Auftrag der Friedrich Naumann Stiftung 1964-69, Bd. 4: Schriften zum Parteiwesen und zum Mitteleuropaproblem, bearb. von Thomas Nipperdey und Wolfgang Scheder, Köln-Opladen 1964, S. 385.

38. Zur Vorgeschichte der Zeitschrift "Das Größere Deutschland", die dann in die Zeitschrift "Deutsche Politik" überführt wurde, siehe Walter Mock, Paul Rohrbach und das "Größere Deutschland". Ethischer Imperialismus im wilhelminischen Zeitalter, München 1972, S. 171 ff. Leider bricht die Darstellung Mogks bereits 1914 ab.

39. Deutsche Politik. Wochenschrift für Deutsche Welt- und Kulturpolitik l, 1916, S. 16. Juni 1916. Zit. bei Opitz, Europastrategien des deutschen Kapitals S. 367.

40. Das Größere Mitteleuropa. Schriften der "Deutschen Politik". Weimar 1916.