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'Das Regelwerk von Bonnier und seine Gegner'
 
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Das Regelwerk von Bonnier und seine Gegner

In der Auseinandersetzung mit und schließlich den Protesten gegen die Straßenbauverordnung von 1902 werden die Widerstände gegen die Pariser Raumplanung am deutlichsten. Dieses von dem Architekten Louis Bonnier ausgearbeitete Dokument ist ein endgültiger Bruch mit dem Vorgehen Haussmanns und bestimmt das Pariser Stadtbild sechzig Jahre lang. In seinen Vorarbeiten zu dem Dokument, das die Texte von 1882 und 1884 ablösen soll, unternimmt Bonnier vergleichende Studien der Straßenbauverordnungen europäischer Städte wie Brüssel, Wien, London, Lissabon, Rom, Frankfurt und selbstverständlich Berlin. Die von Bonnier geleitete Unterkommission stellt in Jeder Stadt einen dort beheimateten Informanten ein. Nur in Berlin wird auf Ernst Otto, den Stadtbaumeister von Langfuhr, zurückgegriffen.

Abbildung 6:

Louis Bonnier (1856-1946)
zählte zu den einflussreichsten Stadtplanern von Paris der Jahrhundertwende. Er forderte insbesondere die Abkehr von der Haussmannschen Rigidität (Brutalität) und fordert mehr Freiheiten bei der Gestaltung der Städte, wobei er in Berlin ein nachahmenswertes Vorbild sah.

 

 

 

 

Internet-Quelle [1]

In seiner 1903 abgehaltenen Konferenz "Les règlements de voirie" stellt Bonnier in einer übergreifenden Bilanz in Berlin und in den nordeuropäischen Städten mehr Freiheiten fest als in Paris. Er hebt die Großzügigkeit des Berliner Regelwerks hervor, das "den Höfen eine Mindestgröße von 60 Quadratmetern vorgibt, das entspricht dem Doppelten unserer Mindestgröße." (11) Die Verordnung beschränkt zwar die Anzahl der Stockwerke, unterstreicht aber im Gegensatz zum ausgeprägten Hygienedenken dieser Maßnahmen, dass ungesunde Keller als Eigenschaft von Wohnhäusern hingenommen werden müssen. (12)

Die letztendlich von Bonnier festgelegten Leitlinien brechen mit der Horizontalität der Haussmannschen Straßenzüge. Sie lassen eine Art formale Konkurrenz zwischen den Gebäuden zu, die schnell konservative Kritiker auf den Plan ruft. André Hallays kritisiert 1913 in seinem Vorwort zu dem Buch von Charles Lortsch, La beauté de Paris et la loi, "das fatale Dekret von 1902, das die mißbräuchlichsten Aufstockungen und die gefährlichsten Tendenzen in der Architektur zugelassen hat." Er unterstreicht zwar die "gute Absicht" Bonniers, urteilt aber dass "die Reform nur der Spekulation genützt hat." Er empört sich ob der ausländischen Herkunft der durch den neuen Text genehmigten Bauten. Seiner Ansicht nach sind "all diese Paläste" gräßlich, denn sie sind hoch wie die amerikanischen, schwerfällig wie die deutschen, dekoriert wie die annamitischen (sie alle sind Früchte der Ausstellung von 1900)." (13)

Abbildung 7:

Das Théâtre des Champs-Elysées (1913)
in der Avenue Montaigne, das Stürme der Entrüstung hervorrief und das u. a. als "architecture boche" bezeichnet wurde.

 

 

 

 

Internet-Quelle [2]

Die Übertragung der Fremdenfeindlichkeit auf die Architektur zeigt sich vor allem anläßlich der Eröffnung des neuen Champs Élysées Theaters, das 1913 nach langem Hin und Her in der Avenue Montaigne gebaut wird. Die Tugendwächter der klassischen und nationalen Werte beklagen das skandalöse Programm (es werden bilderstürmerische Stücke von Gabriel Astrue aufgeführt) und bezeichnen das Gebäude als "une architecture boche". (14) Die Zeitschrift L'Architecture verurteilt 1913 die Absichten der Theaterbauherren. Die Publikation der Société centrale des architectes gibt zu bedenken: "Die Umsetzung ihrer Theorien und Ideen will wohl überlegt sein", denn "durch solche Versuche besteht die Gefahr, unwissende und weniger gebildete Nachahmer auf Abwege zu führen. Man geht das Risiko ein, dass unsere französische Architektur in einen Stil ausländischer Herkunft verfällt, in dem unsere wertvollsten Traditionen guten Geschmacks und nationaler Kunst untergehen könnten." (15)

Die Architekten des establishment stehen mit dieser Meinung nicht auf verlorenem Posten, für die Zeitschrift L'Illustration verurteilt Jean Louis Forain den "Zeppelin der Avenue Montaigne" mit diesen Ausführungen: In diesen Zeiten, in denen man bemüht ist, einen neuen Stil zu finden, lassen wir uns gerne von jedem Versuch, egal wie interessant er sein mag, überraschen. Wir bedauern lediglich, daß dieser Versuch zu direkt von der Kunst beeinflußt ist, die München oder Dresden zur Ehre gereicht: Nach Paris versetzt erscheint er uns von einer etwas trockenen Feierlichkeit, die bewußt etwas armselig gehalten ist und damit von jeder französischen Tradition abweicht. (16) Die Wahrnehmung des Theaters als Vorposten deutscher Architektur zeigt, wie stark das Heranwachsen einer neuen, radikalen Architektur in den Städten östlich des Rheins und zuallererst in Berlin im französischen Bewußtsein verbreitet war. Die Modernität und die Schönheit des Berliner Stadtbilds werden zum Beispiel im Guide Joanne schon seit 1914 erwähnt. (17)

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Anmerkungen

(11) Louis Bonnier, Les règlements de voirie, Paris, 1903, S. 39. Siehe zu den Auswirkungen der Verordnung François Laisney, "Le règlement de 1902: continuité

(12) Ebd., S. 46.

(13) André Hallays, Vorwort für Charles Lortsch, La beauté de Paris et la loi, Paris, Sirey, 1913.

(14) Abfällige Bezeichnung für "deutsche" (Anm. d. Übers.).

(15) Brincourt, "Le nouveau théâtre des Champs Elysées", L'Architecture, 17. Mai 1913, S. 157 164.

(16) "L'inauguration du théâtre des Champs Elysées", L'Illustration, 5. April 1913.

(17) Guide Joanne, Berlin, Paris, 1914.